BGE 116 Ia 455
 
67. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 22. Januar 1990 i.S. X. und Y. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Eheleute Z. und Obergericht des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 BV; rechtliches Gehör; Anklagegrundsatz.
 
Sachverhalt
Am 4. Mai 1985 stürzte auf der Allmend Frauenfeld eine junge Erstabspringerin mit dem Fallschirm ab. Y. hatte bei dem Kurs die Funktion eines Instruktors, und X. war für die Bereitstellung der Schirme verantwortlich. Beide wurden durch das Obergericht des Kantons Thurgau am 6. Juni 1989 wegen fahrlässiger Tötung mit sechs Wochen Gefängnis (bedingt) bestraft. Dagegen richtet sich die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde der Verurteilten.
 
Aus den Erwägungen:
aa) Auszugehen ist von einer Nettoabsprunghöhe von etwas mehr als 600 m über Grund. Mit keiner tauglichen Rüge wird angefochten, dass gemäss einer Kunstregel von einer seriösen Absprunghöhe nur dann gesprochen werden könne, wenn der Schirm spätestens in einer Höhe von 700-800 m über Grund vollständig und frei entfaltet ist.
Die Beschwerdeführer berufen sich nicht auf eine willkürliche Anwendung kantonalen Prozessrechtes (vgl. §§ 148 und 160 StPO/TG). Zu prüfen ist also einzig, ob die aus Art. 4 BV hergeleiteten Minimalanforderungen an die Gehörsgewährung vom Obergericht beachtet worden sind.
bb) In der Anklageschrift vom 27. August 1987 wird zunächst der äussere Sachverhalt kurz beschrieben und dabei insbesondere eine Absprunghöhe von 700 m (offenbar über Grund) erwähnt. In der Folge wird gesagt, aus den Untersuchungen ergebe sich, dass in bezug auf den Fallschirm resp. den Notfallschirm Fehler gemacht worden seien. Es sei davon auszugehen, dass
"1. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beim Packen des Fallschirmes vorschriftswidrig das Sollbruchband beim äusseren Verpackungssack nicht durch die Hüllenöffnungsschlaufe der Reissleine durchgezogen wurde, so dass das Sollbruchband nicht sofort riss und der Verpackungssack nicht geöffnet wurde,
2. die Schlaufen des äusseren Verpackungssackes mit dem Sollbruchband zu wenig eng zusammengezogen wurden, so dass der Extraktor ohne Zerreissen des Sollbruchbandes wohl aus der Verpackung gezogen werden konnte, jedoch unfähig war, den Hauptschirm aus dem noch verschlossenen Verpackungssack zu ziehen, so dass erst beim Aufschlag auf dem Boden und Zerreissen des Sollbruchbandes der Packschlauch freilag,
3. nach Zuknöpfen des Sollbruchbandes die Enden von 26 und 31 cm vorschriftswidrig nicht auf einen kleinen Rest zurückgeschnitten wurden, so dass sich diese mit dem Extraktor oder der Verbindungsleine zum Packschlauch verfangen und damit den weiteren Öffnungsvorgang allenfalls blockieren konnten,
4. die Federzüge beim Notfallschirm nicht eingehakt waren, so dass nach Betätigung des Auslösegriffes durch Frau Z. wertvolle Sekunden verlorengingen, die möglicherweise genügt hätten, um die Entfaltung des Rettungsschirmes herbeizuführen."
Dem Beschwerdeführer X. wird vorgeworfen, zufolge pflichtwidriger Unaufmerksamkeit für die in Ziff. 1 bis 3 geschilderten Mängel verantwortlich zu sein, indem er selbst diese Fehler beim Packen des Fallschirmes gemacht habe. Dem Beschwerdeführer Y. wird vorgeworfen, in pflichtwidriger Unaufmerksamkeit den Haupt- und Notfallschirm zu wenig genau inspiziert und kontrolliert zu haben, so dass er die Verpackungsfehler am Hauptfallschirm nicht festgestellt sowie nicht bemerkt habe, dass beim Notfallschirm die Federzüge vorschriftswidrig nicht eingehakt waren (vgl. Ziff. 4 der oben zitierten Fehler). Aus der Anklageschrift ergibt sich somit eindeutig, dass den Beschwerdeführern weder eine ungenügende Absprunghöhe noch die Wahl eines ungenügenden Notschirmes (fehlende barometrische Öffnungsvorrichtung), sondern nur Fehler im Zusammenhang mit der Verpackung und Kontrolle des Hauptschirmes sowie zusätzlich beim Beschwerdeführer Y. ein Fehler in bezug auf den Notfallschirm vorgeworfen werden. Dass die Anklage im Laufe des Verfahrens ergänzt oder abgeändert worden wäre, ist aus den Akten nicht ersichtlich und wird weder vom Obergericht noch von der Staatsanwaltschaft, denen Gelegenheit zur Vernehmlassung geboten wurde, behauptet. Auch aus der im angefochtenen Urteil enthaltenen Zusammenfassung des Plädoyers der Staatsanwaltschaft ergibt sich nicht, dass der Vertreter der Anklage den Fahrlässigkeitsvorwurf anders begründet hätte als in der Anklageschrift. Konkret ist nur die Rede von Verpackungs- und Kontrollfehlern, wie sie in der Anklageschrift enthalten sind. Zwar folgt ein genereller Verweis auf die Akten sowie die Aussagen der Experten. Doch ist darin nicht eine Änderung des Anklagevorwurfes zu erblicken, sondern ein Hinweis auf die Beweisgrundlagen.
Folglich ist davon auszugehen, dass eine Änderung des Anklagevorwurfes nicht stattgefunden hat und dass das Obergericht auch nicht einen konkreten Hinweis darauf gemacht hat, der Anklagevorwurf werde gegebenenfalls auch unter den Gesichtspunkten der ungenügenden Absprunghöhe oder der fehlenden barometrischen Öffnungsvorrichtung geprüft. Es wäre im übrigen auch nicht Sache des Bundesgerichtes, derartige Hinweise oder allfällige Änderungen der Anklage aus den Akten herauszusuchen, nachdem Obergericht und Staatsanwaltschaft Gelegenheit hatten, in ihren Vernehmlassungen auf diese Gesichtspunkte hinzuweisen. Zwar ist im Rahmen der Sachverständigeneinvernahmen vom 6. Juni 1989 die Frage der Absprunghöhe diskutiert worden und ebenso, ob eine seriöse Sprunghöhe freie Entfaltung des Schirmes bei 700-800 m gewährleisten müsse. Erörtert wurde auch, wie ein barometrisches Öffnungssystem funktioniert und dass dieses System im Paracentro in Locarno bei Erstabsprüngen stets verwendet werde. Allein die Tatsache, dass diese beiden Gesichtspunkte Gegenstand der Expertenbefragung waren, belegt nicht, dass das Obergericht die Beschwerdeführer darauf hingewiesen hätte, es werde den Anklagevorwurf abweichend von der Anklageschrift (und offenbar auch von dem obergerichtlichen Plädoyer des Staatsanwaltes) unter zwei anderen Gesichtspunkten überprüfen.
cc) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes hat der Betroffene einen unbedingten Anspruch, vor Erlass eines Entscheides, der ihn belastet oder belasten könnte, angehört zu werden (BGE 114 Ia 99 E. a; BGE 109 Ia 177 f.; 105 Ia 195, 290/91; BGE 101 Ia 296 ff.; vgl. auch ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S. 137). Der Betroffene hat das Recht, sich zu allen relevanten Aspekten vorgängig des Entscheides zu äussern. Dies gilt für Sachfragen, für ihre rechtliche Beurteilung jedenfalls dann, wenn eine Behörde sich auf juristische Argumente zu stützen gedenkt, die den Parteien nicht bekannt sind und mit deren Heranziehung sie nicht rechnen mussten (vgl. G. MÜLLER, Kommentar BV Art. 4 N. 105). Dieser Grundsatz gilt insbesondere auch im Strafverfahren (vgl. BGE 101 Ia 297; HAUSER, Schweiz. Strafprozessrecht, S. 136; NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, S. 42 f.). Wie weit sich dies bereits aus dem Anklagegrundsatz ergibt, kann offenbleiben, da sich dieses Prinzip jedenfalls aus dem durch Art. 4 BV gewährleisteten Prinzip der Gehörsgewährung herleitet. Es wird angenommen, dass die Anklageschrift eine doppelte Bedeutung hat. Sie dient einmal nach dem Anklageprinzip der Bestimmung des Prozessgegenstandes (Umgrenzungsfunktion), und sie vermittelt andererseits dem Angeschuldigten die für die Durchführung des Verfahrens und die Verteidigung notwendigen Informationen (Informationsfunktion). Die Informationsfunktion der Anklageschrift ist dabei gleichbedeutend wie die Umgrenzungsfunktion (vgl. PETER RIESS in LÖWE/ROSENBERG, Strafprozessordnung, 24. A. § 200 N. 3 f.). Bei Fahrlässigkeitstaten gehört zur in der Anklageschrift zu bezeichnenden Tat mit kurzer Umschreibung des Sachverhaltes (vgl. § 148 Abs. 2 Ziff. 3 StPO/TG) die Aufführung sämtlicher Umstände, aus denen sich Pflichtwidrigkeit, Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit ergeben sollen (vgl. RIESS, a.a.O., N. 15). Entsprechend hätte vorliegend der Vorwurf einer zu geringen Absprunghöhe und der Verwendung eines nicht ausreichenden Notschirmes bereits in der Anklageschrift aufgeführt werden müssen. Wenn dies wie vorliegend nicht geschehen ist, hätten die Beschwerdeführer rechtzeitig in hinreichender Weise darauf hingewiesen werden müssen, dass das Obergericht gedenke, den Vorwurf der Fahrlässigkeit auch unter Bezugnahme auf diese Umstände zu prüfen. So wird denn auch in § 160 Abs. 2 StPO/TG vorgesehen, dass die Parteien zu Tatumständen, welche nicht Gegenstand der Anklage bildeten, besonders anzuhören seien. In der Literatur zum insoweit teilweise vergleichbaren § 265 der deutschen StPO wird denn auch gesagt, es diene der Sicherung der umfassenden Sachaufklärung und der fairen Prozessgestaltung, wenn zum Schutze vor Überraschungen vom Gericht verlangt werde, die Beteiligten auf entscheidungserhebliche Umstände hinzuweisen, wenn ersichtlich ist, dass sie deren Bedeutung verkannt haben (WALTER GOLLWITZER in LÖWE/ROSENBERG, § 265 N. 5; vgl. auch MIEHSLER/VOGLER, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 6 N. 349).
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Beschwerde insoweit wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 4 BV gutzuheissen ist.