BGE 120 Ia 184 |
27. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 24. August 1994 i.S. M. B. gegen Obergerichtskommission des Kantons Obwalden (staatsrechtliche Beschwerde) |
Regeste |
Anspruch auf einen unbefangenen Richter; Disziplinarverfahren (Art. 4 BV, Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK). |
Die Regelung des Kantons Obwalden, wonach die Obergerichtskommission als Aufsichtsbehörde über das Schuldbetreibungs- und Konkurswesen die Tätigkeit eines Betreibungsbeamten überprüft, als Ermächtigungsbehörde über die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen ihn entscheidet und anschliessend über die Anordnung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn befindet, verletzt den Anspruch auf einen unbefangenen Richter nicht (E. 2c-e). |
Ist Art. 6 Ziff. 1 EMRK auch auf ein Disziplinarverfahren anwendbar? (E. 2f). |
Sachverhalt |
A.- M. B. pfändete in seiner Eigenschaft als Betreibungsbeamter der Gemeinde X am 14. Februar 1991 unter anderm das Postscheckkonto, das auf den Namen des Ehemannes der Betreibungsschuldnerin lautete. Er teilte dem Kontoinhaber die Pfändung mit und hielt fest, dass diese aufgehoben werde, sobald seine Ehefrau bekannt gebe, ob und wo sie jetzt arbeite.
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B.- Die Obergerichtskommission des Kantons Obwalden hiess einerseits die vom Inhaber des Postscheckkontos gegen die Pfändung erhobene Beschwerde gut und beschloss andererseits auf dessen Klage hin, gegen M. B. ein Strafverfahren zu eröffnen; beide Entscheide erfolgten unter Mitwirkung von Präsident A. K., den Oberrichtern B. L. und C. M. sowie Gerichtsschreiber D. N.
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C.- Im Anschluss an die rechtskräftige Verurteilung wegen Versuchs der Nötigung durch die Strafkommission beschloss die Obergerichtskommission am 25. März 1993 gegen M. B. aufgrund des gleichen Sachverhaltes ein Disziplinarverfahren zu eröffnen. An diesem Entscheid wirkten Präsident A. K., die Oberrichter E. O. und F. P. sowie Gerichtsschreiber D. N. mit. M. B. rügte die Verletzung von Ausstandspflichten und verlangte die Aufhebung des Disziplinareinleitungsbeschlusses; ob gegen ihn ein Disziplinarverfahren zu eröffnen sei, müsse unter Ausschluss des Präsidenten A. K., der Oberrichter B. L., C. M., F. P. und G. Z. sowie der Gerichtsschreiber D. N. und H. O. neu beurteilt werden.
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Die Obergerichtskommission wies das Begehren von M. B. am 14. September 1993 ab und gab ihm gleichzeitig Gelegenheit, zum Disziplinarverfahren in materiellrechtlicher Hinsicht Stellung zu nehmen.
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D.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 29. September 1993 beantragt M. B. dem Bundesgericht, den Entscheid der Obergerichtskommission des Kantons Obwalden vom 14. September 1993 aufzuheben.
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Die Obergerichtskommission des Kantons Obwalden verzichtet auf eine Stellungnahme.
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Mit Präsidialentscheid vom 29. Oktober 1993 ist der staatsrechtlichen Beschwerde aufschiebende Wirkung gewährt worden.
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Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab.
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Aus folgenden Erwägungen: |
a) Art. 58 Abs. 1 BV gewährleistet unter anderm die Beurteilung einer Streitsache durch ein unparteiisches und unabhängiges Gericht. Entscheidet nicht eine gerichtliche, sondern eine verwaltungsbehördliche Rechtspflegeinstanz, so ergibt sich aus Art. 4 BV ein gleichartiger Anspruch (BGE 117 Ia 408 E. 2a S. 410; BGE 114 Ia 278 E. 3a S. 279). Ob es sich bei der Obergerichtskommission in ihrer Eigenschaft als Aufsichtsbehörde über das Betreibungs- und Konkurswesen (Art. 69 Abs. 1 GOG) um eine Verwaltungsinstanz handelt und daher Art. 4 BV und nicht Art. 58 BV anwendbar ist, kann vorliegend offenbleiben, da Art. 4 BV hier nicht über Art. 58 BV hinausgeht und die Rüge der unzulässigen Vorbefassung, wie nachfolgend darzulegen ist, ohnehin fehlgeht.
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b) Das Bundesgericht hat die Tragweite der Garantie des verfassungsmässigen Richters nach Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK mehrfach näher umschrieben. Demnach hat der einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirkung sachfremder Umstände entschieden wird. Liegen bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen, so ist die Garantie verletzt. Eine gewisse Besorgnis der Voreingenommenheit kann bei den Parteien immer dann entstehen, wenn der Richter sich bereits in einem frühern Zeitpunkt mit der Angelegenheit befasste (BGE 119 Ia 221 E. 3 S. 226 mit Hinweisen). Entscheidend ist, ob er dabei eine ähnliche oder qualitativ gleiche Frage geprüft hat. Zulässig ist die Vorbefassung, wenn die konkret zu entscheidenden Rechtsfragen gleichwohl als offen erscheinen und nicht der Anschein der Vorbestimmtheit erweckt wird (BGE 117 Ia 157 E. 2a S. 160; weitere Hinweise zum Recht auf einen verfassungsmässigen Richter bei: SPÜHLER, Die Praxis der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1994, S. 170 ff. sowie HAEFLIGER, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, Bern 1993, S. 135 ff.).
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c) Soweit der Beschwerdeführer bereits in der kantonalen Zuständigkeitsregelung eine Gefahr der Voreingenommenheit erblickt, ist er auf die Pflicht der Kantone hinzuweisen, eine Aufsichtsbehörde zu bezeichnen, welche die Geschäftsführung der Betreibungs- und Konkursämter zu überwachen, ihre Beamten oder Angestellten gegebenenfalls mit einer Ordnungsstrafe zu belegen und zugleich die gegen ihre Verfügungen gerichteten Beschwerden zu behandeln hat (Art. 13, Art. 14 und Art. 17 SchKG; vergleiche auch: AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 5.A. Bern 1993, S. 38 N. 29 sowie FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Band I, 3.A. Zürich 1984, S. 51/52 und S. 54); dass die genannten Aufgaben von der selben Instanz wahrzunehmen sind, geht somit auf eine bundesrechtliche Anordnung zurück, an welche das Bundesgericht gebunden ist (Art. 113 Abs. 3 BV).
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d) Im Kanton Obwalden amtet die Obergerichtskommission nicht nur als Aufsichtsbehörde über das Schuldbetreibungs- und Konkurswesen (Art. 69 Abs. 1 GOG). Sie entscheidet als Ermächtigungsbehörde auch über die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen Beamte und Behördenmitglieder wegen strafbarer Handlungen, die ihre Amtsführung betreffen (Art. 53 Abs. 4 GOG). Als Beschwerdeinstanz behandelt die Obergerichtskommission Fragen aus dem Schuldbetreibungs- und Konkursrecht und damit eine völlig andere Domäne denn als Ermächtigungsbehörde in Strafsachen; insoweit erweckt die Kompetenzordnung keine Bedenken.
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e) Zu prüfen ist allerdings, ob die gleiche Behörde nicht nur über die Eröffnung eines Strafverfahrens, sondern ebenso über die Anordnung von Disziplinarmassnahmen gegen die selbe Amtsperson befinden darf.
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Die Obergerichtskommission weist im angefochtenen Entscheid auf die kantonale Praxis hin, wonach die Eröffnung eines Strafverfahrens nur bei offensichtlicher Grundlosigkeit verweigert werden darf. Der Beschwerdeführer stellt weder diese Rechtsprechung in Frage, noch bestreitet er, dass Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Verhalten seinerseits vorgelegen hatten. Auf die von ihm gegen den Einleitungsbeschluss erhobene Nichtigkeitsklage ist die Obergerichtskommission aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht eingetreten; zum strafrechtlichen Vorwurf hat sie somit in keiner nur einigermassen einlässlichen Weise Stellung genommen.
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Die anschliessende Strafuntersuchung wurde vom Verhöramt geführt und die Verurteilung erfolgte durch die Strafkommission. Dass diese beiden Instanzen ihre Verantwortung in völliger Unabhängigkeit von der Obergerichtskommission wahrnehmen (Art. 44 ff. GOG), wird vom Beschwerdeführer denn auch nicht in Zweifel gezogen. In dem ihn betreffenden Urteil vom 9. Juli 1992 hat das Bundesgericht den Beschwerdeführer zudem bereits darauf hingewiesen, dass weder durch die Eröffnung eines Strafverfahrens noch durch die Überweisung einer Strafsache an das zuständige Gericht einer Beurteilung der Schuldfrage vorgegriffen wird (BGE 115 Ia 311 E. 2c S. 315).
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Während die Obergerichtskommission als Ermächtigungsbehörde ausschliesslich prüfte, ob ein hinreichender Verdacht für ein strafbares Verhalten des Beschwerdeführers vorlag, hatte sie beim Beschluss, nach seiner rechtskräftigen Verurteilung über ihn ein Disziplinarverfahren zu eröffnen, einzig den ordentlichen Geschäftsgang des Betreibungsamtes und die Pflichterfüllung des Amtsträgers im Auge (zum Zweck des Disziplinarverfahrens grundsätzlich: BELLWALD, Die disziplinarische Verantwortlichkeit der Beamten, Diss. Bern 1985, S. 22 ff. sowie HÄFELIN/MÜLLER, Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2. A. Zürich 1993, N. 961). Die Entscheidfindung ergeht somit auf einer jeweils völlig andern Grundlage und richtet sich nach den für den betreffenden Rechtsbereich geltenden Regeln. Damit hatte die gleiche Behörde keineswegs eine ähnliche, geschweige denn eine qualitativ gleiche Frage zu beantworten; eine unzulässige Vorbefassung der Obergerichtskommission aus organisatorischer Sicht oder aufgrund der teilweise identischen Besetzung liegt nicht vor. Eine Verletzung von Art. 58 BV ist demnach nicht gegeben.
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f) Der Beschwerdeführer rügt ferner eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Da diese Bestimmung nur in bezug auf den Anwendungsbereich, nicht aber in bezug auf die Grundsätze richterlicher Unabhängigkeit einen über Art. 58 BV hinausgehenden Schutz gewährt (BGE 119 Ia 221 E. 3 S. 226; BGE 118 Ia 282 E. 3e S. 286; BGE 117 Ia 190 E. 6b S. 191; VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Zürich 1993, S. 224 N. 373), kann an sich offen bleiben, ob im Hinblick auf ein Disziplinarverfahren die Konvention überhaupt zur Anwendung gelangt.
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Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung der Konventionsorgane selbst die disziplinarische Entlassung eines Beamten nicht als strafrechtliche Sanktion erachtet und sie daher nicht dem Schutz von Art. 6 Ziff. 1 EMRK unterstellt (Hinweise auf diese Rechtsprechung und Kritik: KLEY-STRULLER, Art. 6 EMRK als Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, Zürich 1993, S. 15f; vergleiche auch: VILLIGER, a.a.O., S. 234 N. 396). Das Bundesgericht hat es zudem in einem nicht veröffentlichten Entscheid vom 15. November 1990 abgelehnt, Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf die Eröffnung und die Durchführung eines Disziplinarverfahrens anzuwenden (zitiert in: HÄNNI, Rechte und Pflichten im öffentlichen Dienstrecht, Freiburg 1993, S. 297). Demnach vermag dem Beschwerdeführer auch die Anrufung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht zu helfen.
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