BGE 98 Ib 457
 
66. Auszug aus dem Urteil vom 9. Juni 1972 i.S. X. AG gegen Eidg. Steuerverwaltung.
 
Regeste
Feststellungsverfahren der Bundesverwaltung.
 
6. Die X. AG hat von der Eidg. Steuerverwaltung (EStV) gestützt auf Art. 41 lit. b VStG einen Feststellungsentscheid über die Frage verlangt, ob ihr die Verrechnungssteuern auf jenen künftigen Dividenden der Y. GmbH, die sie gemäss ihrer Beteiligungsquote von 20% erhielte, ganz oder wenigstens teilweise zurückerstattet würden. Die EStV ist auf das Begehren eingetreten. Hätte sie das Eintreten ablehnen sollen?
a) Nach Art. 41 VStG trifft die EStV alle Verfügungen und Entscheide, welche die Erhebung der Verrechnungssteuer notwendig macht; sie trifft einen Entscheid insbesondere dann, wenn... "b. für einen bestimmten Fall vorsorglich die amtliche Feststellung der Steuerpflicht, der Grundlagen der Steuerberechnung, der Mithaftung oder der Überwälzungspflicht beantragt wird". Lit. b ermöglicht den Beteiligten, durch einen Entscheid feststellen zu lassen, welche Folgen nach den Bestimmungen über die Erhebung der Verrechnungssteuer einträten, falls ein bestimmter Tatbestand verwirklicht würde. Damit wird - wie in Bestimmungen anderer eidgenössischer Erlasse über Verkehrssteuern (Art. 3 Abs. 1 VV zu den Bundesgesetzen über die Stempelabgaben, Art. 5 Abs. 1 lit. a WUStB, Art. 8 VV zum ZG) - dem Bedürfnis nach autoritativer Feststellung der steuerlichen Auswirkungen eines in Aussicht genommenen Geschäftes Rechnung getragen.
Art. 41 VStG bezieht sich allerdings nur auf die Erhebung, nicht auch auf die Rückerstattung der Verrechnungssteuer, wie sich aus seinem Wortlaut und seiner Stellung im Gesetz - im Unterabschnitt über das Verfahren für die Steuererhebung (Art. 38-47) - ergibt. Das die Rückerstattung betreffende Verfahren ist in einem besonderen Unterabschnitt (Art. 48-56) geordnet, und dort findet sich keine Bestimmung, die der lit. b des Art. 41 entspräche oder darauf verwiese. Indes liegt es nahe, Art. 41 lit. b analog anzuwenden, wenn für einen bestimmten Fall vorsorglich die amtliche Feststellung der Rückerstattungspflicht beantragt wird; denn auch hiefür kann ein legitimes Bedürfnis bestehen.
b) Auf jeden Fall ist Art. 25 VwG zu beachten, der in Abs. 1 bestimmt, dass die in der Sache zuständige Behörde über den Bestand, den Nichtbestand oder den Umfang öffentlichrechtlicher Rechte oder Pflichten von Amtes wegen oder auf Begehren eine Feststellungsverfügung treffen kann, und in Abs. 2, dass dem Begehren um eine Feststellungsverfügung zu entsprechen ist, wenn der Gesuchsteller ein schutzwürdiges Interesse nachweist. An diese Ordnung hat sich auch die EStV zu halten, wie aus Art. 2 Abs. 1 VwG zu schliessen ist, wonach auf das Verfahren eidgenössischer Verwaltungsbehörden in Steuersachen (nur) die Art. 12-19 und 30-33 dieses Gesetzes keine Anwendung finden.
U. GUENG vertritt in einer Abhandlung über die Tragweite des Feststellungsanspruchs gemäss Art. 25 VwG (SJZ 67/1971 S. 369 ff.) die Auffassung, das in dieser Bestimmung geordnete Verfahren könne zur Feststellung der öffentlichrechtlichen Rechte oder Pflichten, die sich aus einem erst geplanten Tatbestand möglicherweise ergeben werden, nicht beschritten werden; insbesondere könne in diesem Verfahren nicht festgestellt werden, welche steuerrechtlichen Folgen einträten, falls ein gedachter Sachverhalt verwirklicht würde. Wäre diese Auslegung richtig, so würde aber ein Verfahren zur Feststellung der steuerlichen Wirkungen eines erst in Aussicht genommenen Verkehrsvorgangs, wie es in Art. 41 lit. b VStG und anderen Sondervorschriften der Steuergesetzgebung des Bundes vorgesehen ist, offenbar dem Art. 25 VwG widersprechen und wäre daher nicht mehr möglich (Art. 4 VwG). Allerdings scheint U. GUENG anzunehmen, dass diese besonderen Bestimmungen weiterhin unbeschränkt gelten (a.a.O. S. 376), doch begründet er diesen Vorbehalt nicht näher. Freilich erklärt Art. 4 VwG Bestimmungen des Bundesrechts, "die ein Verfahren eingehender regeln", für anwendbar, aber nur, "soweit sie den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht widersprechen". Wenn Art. 25 VwG so auszulegen wäre, wie U. GUENG meint, und wenn ferner davon auszugehen wäre, dass Art. 41 lit. b VStG und entsprechende Bestimmungen anderer Steuererlasse des Bundes das Feststellungsverfahren "eingehender regeln", würde aber wohl doch ein Widerspruch zwischen diesen Sondervorschriften und Art. 25 VwG bestehen.
Indes ist die Auslegung, die der genannte Autor dem Art. 25 VwG gibt, zu eng. Der Text der Bestimmung schliesst ebensowenig wie der Wortlaut von Art. 41 lit. b VStG und entsprechender anderer Sondervorschriften schlechthin aus, dass im vorgesehenen Verfahren festgestellt wird, welche verwaltungsrechtlichen Folgen die Verwirklichung eines erst in Aussicht genommenen Tatbestandes hätte. Ein solches Feststellungsverfahren lässt sich auch sachlich rechtfertigen, soweit es einem legitimen Bedürfnis entspricht, namentlich in gewissen Steuersachen, wie jene Sondervorschriften und die auf ihnen beruhende Praxis zeigen. Es muss angenommen werden, dass Art. 25 VwG diesem Bedürfnis Rechnung trägt. Die gegenteilige Auslegung würde auf einen Rückschritt gegenüber der früher auf dem Gebiete der eidgenössischen Verkehrssteuern eingeführten Ordnung hinauslaufen. Das kann nicht der Sinn des Art. 25 VwG sein. Der Gefahr missbräuchlicher Inanspruchnahme des Feststellungsverfahrens begegnet Abs. 2 daselbst, der bestimmt, dass dem Begehren um eine Feststellungsverfügung (nur) zu entsprechen ist, wenn der Gesuchsteller ein schutzwürdiges Interesse nachweist. Art. 25 VwG macht den Anspruch auf einen Feststellungsentscheid über den Bestand, den Nichtbestand oder den Umfang öffentlichrechtlicher Rechte oder Pflichten einzig davon abhängig, dass der Gesuchsteller ein solches Interesse hat (vgl. P. MÜLLER, Vorbeugender Verwaltungsrechtsschutz, Zeitschr. für Walliser Rechtsprechung 1971 S. 342 ff., insbesondere S. 350). Im gleichen Sinne ist Art. 41 lit. b VStG zu verstehen. Denn nach dieser Bestimmung hat die EStV einen Feststellungsentscheid nur dann zu treffen, wenn er für einen "bestimmten" Fall "vorsorglich" beantragt wird; damit wird vorausgesetzt, dass der Antragsteller sich auf ein schutzwürdiges Interesse an der verlangten Feststellung muss berufen können.
c) Im Optionsvertrag vom 13. August 1971 hat N. der X. AG einen Anteil von 20% an der Stammeinlage bei der Y. GmbH optionsfrei überlassen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Y. GmbH der X. AG gemäss diesem Anteil Dividenden ausrichten wird. Die X. AG hat daher ein schutzwürdiges Interesse an dem nachgesuchten Feststellungsentscheid über die Frage, ob ihr die Verrechnungssteuern, welche für die auf jene Beteiligungsquote entfallenden Dividenden der Y. GmbH erhoben würden, ganz oder wenigstens teilweise zurückerstattet würden. Es entspricht dem Sinn des Art. 41 VStG wie auch des Art. 25 VwG, dass die EStV auf das dahingehende Begehren der X. AG eingetreten ist.