BGE 98 Ib 465 |
68. Auszug aus dem Urteil vom 22. Dezember 1972 i.S. Canadea gegen Regierungsrat des Kantons Zürich |
Regeste |
Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung eines italienischen Arbeitnehmers. |
2. Der Begriff der "schweren Klagen" im Sinne von Art. 9 Abs. 2 lit. b ANAG; Anwendung auf den vorliegenden Fall (Erw. 3). |
3. Richtlinien für die Ausübung des Ermessens beim Entscheid über die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung; Ermessensmissbrauch (Erw. 4). |
Sachverhalt |
A.- Der am 13. März 1938 geborene italienische Staatsangehörige Giuseppe Canadea hält sich seit März 1963 ununterbrochen in der Schweiz auf. Versehen mit der entsprechenden Bewilligung der Fremdenpolizei war er hier hauptsächlich als Hilfsarbeiter tätig. Im Sommer 1969 heiratete er in Italien die Italienerin Immacolata Surdo, die ihm auf Grund einer Nachzugsbewilligung sogleich in die Schweiz folgte. Die Eheleute haben ein Kind.
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Canadea wurde wegen Verstössen gegen verschiedene Verkehrsregeln von 1965 bis 1971 insgesamt sechsmal mit Bussen zwischen Fr. 15.- und Fr. 50.- bestraft. Davon abgesehen hat sein Verhalten zu keinen Klagen Anlass gegeben. Sein Arbeitgeber schreibt über ihn, er sei seriös, pflichtbewusst und fleissig, trinke nicht und scheine seinen familiären Pflichten gut nachzukommen. Allerdings sei er sehr nervös und gehetzt und verfüge über eine sehr bescheidene Bildung und eine niedrige Intelligenz. Am 3. Juni 1971 fuhr Canadea mit dem Lieferwagen seines Arbeitgebers auf einem Fussgängerstreifen in Zürich ein älteres Ehepaar an, das im Begriffe war, die Strasse an dieser Stelle zu überqueren. Obschon er die beiden Fussgänger schon beim Heranfahren bemerkt hatte, verringerte er seine Geschwindigkeit von ca. 45-50 km/h nicht, da er annahm, sie würden anhalten, um einen Unfall zu vermeiden oder es werde ihm gelingen, vor ihnen den Fussgängerstreifen zu kreuzen. Als er sah, dass seine Annahme falsch war, war es zu spät, um den Unfall zu vermeiden. Die beiden Unfallopfer starben noch am selben Tage.
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Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Canadea am 14. Dezember 1971 wegen fahrlässiger Tötung zu neun Monaten Gefängnis und einer Busse von Fr. 200.--. Mit der Gewährung des bedingten Vollzuges der Freiheitsstrafe auf eine Probezeit von vier Jahren verband es die Weisung an den Verurteilten, während der Probezeit kein Motorfahrzeug zu führen. Es verzichtete darauf, Canadea gestützt auf Art. 55 StGB des Landes zu verweisen.
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B.- Am 6. März 1972 wies die Fremdenpolizei des Kantons Zürich ein Gesuch Canadeas um Verlängerung der auf Ende Februar 1972 abgelaufenen Aufenthaltsbewilligung ab und setzte Canadea zum Verlassen des Kantonsgebietes Frist bis zum 15. Mai 1972. Zur Begründung führte sie an, Canadea habe zu schweren Klagen Anlass gegeben und scheine nicht fähig oder nicht gewillt, sich in die hier geltende Ordnung einzufügen. Der Regierungsrat des Kantons Zürich wies einen gegen diese Verfügung gerichteten Rekurs Canadeas am 7. Juni 1972 ab.
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C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Canadea, den Entscheid des Regierungsrates vom 7. Juni 1972 mit Einschluss der dadurch geschützten Verfügung der kantonalen Fremdenpolizei vom 6. März 1972 aufzuheben, eventuell die Sache zu neuer Beurteilung an den Regierungsrat zurückzuweisen, alles unter Kostenfolge zulasten des Staates.
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Der Präsident der verwaltungsrechtlichen Kammer hat der Beschwerde am 1. September 1972 aufschiebende Wirkung erteilt.
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Aus den Erwägungen: |
Unbestrittenermassen sind Ziff. 2 und 3 von Art. 11 des Italienerabkommens im vorliegenden Falle nicht anwendbar. Die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung konnte dem Beschwerdeführer deshalb lediglich aus einem der in Art. 9 Abs. 2 ANAG aufgeführten Entzugsgründe verweigert werden. In Betracht fällt hier einzig Art. 9 Abs. 2 lit. b ANAG in fine, wonach die Aufenthaltsbewilligung widerrufen werden kann, wenn das Verhalten des Ausländers Anlass zu "schweren Klagen" gibt. Der Regierungsrat beruft sich im angefochtenen Entscheid denn auch nur auf diesen einen Grund.
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3. a) Der Begriff der "schweren Klagen" ist, wie das Bundesgericht bereits früher festgestellt hat, ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Auslegung durch die Verwaltung das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung überprüft (BGE 97 I 535 Erw. 3a; 98 I/b 88/89 Erw. 2a mit Hinweisen). Ein unbestimmter Rechtsbegriff gewinnt seinen Inhalt aus Sinn und Zweck der betreffenden Vorschrift sowie aus deren Stellung im Gesetz und im Rechtssystem. Allgemein dient das Fremdenpolizeirecht des Bundes dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in der Schweiz sowie der Abwehr der Überfremdung und der Vermeidung von Störungen des Arbeitsmarktes (BGE 98 I/b 89 Erw. 2b). Gegenüber einem Arbeitnehmer, der im Genusse der Vorteile des Italienerabkommens steht, fallen aber die Abwehr der Überfremdung und die Vermeidung der Störung des Arbeitsmarktes als Zwecke der betreffenden Erlasse ausser Betracht, sodass einzig der Schutz der geltenden Ordnung von Bedeutung bleibt (BGE 97 I 536 Erw. 3b). Da es sich hiebei um einen polizeilichen Zweck handelt, sind die gegen den Ausländer erhobenen Vorwürfe in erster Linie nach ihrer objektiven Seite zu prüfen (vgl. BGE 98 I/b 89 Erw. 2b).
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b) Der vom Beschwerdeführer verschuldete tödliche Unfall zweier Fussgänger auf dem Fussgängerstreifen wiegt schwer, besonders, da er an eine Reihe anderer Verkehrsdelikte des Beschwerdeführers anschliesst, von denen jedenfalls einige eine Tendenz des Beschwerdeführers zur Missachtung der grundlegendsten Regeln im Strassenverkehr erkennen lassen. Der Beschwerdeführer erscheint so als gefährlicher Fahrzeugführer, dessen Anwesenheit in der Schweiz die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet.
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Um zu zeigen, dass er keinen Anlass zu schweren Klagen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 lit. b ANAG gegeben habe, bemüht sich der Beschwerdeführer, darzutun, dass ihn am fraglichen Unfall nur ein geringes Verschulden treffe. Abgesehen davon, dass diese Frage, nach dem, was oben ausgeführt worden ist, in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle spielt, überzeugen die Darlegungen des Beschwerdeführers zu diesem Punkte nicht. Die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen des Strafrichters binden zwar die Verwaltung grundsätzlich nicht. Der vom Bezirksgericht Zürich gegenüber dem Beschwerdeführer erhobene Vorwurf grober Fahrlässigkeit erscheint jedoch nach den Akten begründet, sodass kein Anlass besteht, von der Würdigung im Strafurteil abzuweichen.
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Mit der Annahme, der Beschwerdeführer habe Anlass zu schweren Klagen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 lit. b ANAG gegeben, hat die Vorinstanz ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten.
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4. a) Es bleibt zu prüfen, ob die kantonale Fremdenpolizei und nach ihr der Regierungsrat zu Recht angenommen haben, die Aufenthaltsbewilligung des Beschwerdeführers hätte widerrufen werden müssen, wäre sie nicht ohnehin abgelaufen gewesen und habe deshalb nicht erneuert werden dürfen. Ob bei Vorliegen eines der in Art. 9 Abs. 2 ANAG aufgezählten Gründe die Aufenthaltsbewilligung zu widerrufen ist, stellt das Gesetz in das Ermessen der Verwaltung. Das Bundesgericht prüft lediglich, ob die Verwaltung ihr Ermessen überschritten oder missbraucht hat (Art. 104 lit. c OG; BGE 98 I/b 3 ff.). Im Rahmen dieser beschränkten Prüfungsbefugnis hat es insbesondere darüber zu wachen, dass die getroffene Massnahme dem polizeilichen Zweck des Gesetzes entspricht und verhältnismässig ist. Hinsichtlich der Verhältnismässigkeit finden die in Art. 16 Abs. 3 ANAV erwähnten Richtlinien analog Anwendung. Danach sind namentlich die Schwere des Verschuldens des Ausländers, die Dauer seiner Anwesenheit in der Schweiz sowie die ihm und seiner Familie durch die Massnahme drohenden Nachteile zu berücksichtigen (BGE 98 I/b 90/91 Erw. 3a mit Hinweis).
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b) Als polizeilicher Zweck des ANAG fällt hier, wie bereits ausgeführt, nur die Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Betracht. Gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit hat der Beschwerdeführer durch wiederholte, zum Teil schwere Verletzungen von Strassenverkehrsregeln verstossen. Davon abgesehen hat er sich jedoch, nach den vorliegenden Berichten zu schliessen, wohl verhalten.
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Der Regierungsrat schreibt im angefochtenen Entscheid allerdings, der Beschwerdeführer biete keine Gewähr dafür, dass sich sein Charaktermangel in Zukunft nicht auch auf einem anderen Gebiet als dem des Strassenverkehrs ungünstig auswirken werde. Diese Auffassung findet aber keine Stütze in den Akten. Gegen sie spricht insbesondere, dass der Beschwerdeführer sich nun schon mehr als neun Jahre in der Schweiz aufhält, ohne in anderen Bereichen Anlass zu Klagen gegeben zu haben.
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Im vorliegenden Falle geht es damit einzig darum, die Strassenverkehrsteilnehmer vor einem gefährlichen Fahrzeugführer zu schützen. Dieser Schutz ist bis Ende 1975 gewährleistet durch die dem Beschwerdeführer im Strafurteil vom 14. Dezember 1971 erteilte Weisung, während der Probezeit von vier Jahren kein Motorfahrzeug zu führen. Es darf angenommen werden, dass sich der Beschwerdeführer an diese Weisung halten wird, wenn er in der Schweiz bleiben kann, muss er doch sonst mit dem Widerruf sowohl des ihm gewährten bedingten Strafvollzuges als auch der Aufenthaltsbewilligung rechnen.
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Nun ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Beschwerdeführer nach Ablauf der Probezeit sich erneut als gefährlicher Fahrzeugführer erweisen wird. Dieses Risiko scheint aber selbst die Vorinstanz in Kauf zu nehmen, erklärt sie doch, dem Beschwerdeführer sei es unbenommen, nach einer angemessenen Zeit der Bewährung aus dem Ausland ein Gesuch um Bewilligung zum neuerlichen Aufenthalt in der Schweiz einzureichen.
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Unter diesen Umständen diente aber die gegen den Beschwerdeführer getroffene Massnahme gar nicht ausschliesslich dem polizeilichen Zweck der ihr zugrundeliegenden Vorschriften. Sie hatte vielmehr die Bedeutung einer Nebenstrafe. Die Verwaltung durfte aber lediglich vorsorglich für den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sorgen. Mit ihrer Massnahme gegen den Beschwerdeführer hat sie ihr Ermessen missbraucht, indem sie sich bei dessen Ausübung von anderen als den nach dem Zweck des Gesetzes in Betracht fallenden Überlegungen hat leiten lassen. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde.
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