BGE 103 Ib 204
 
34. Auszug aus dem Urteil vom 3. Juni 1977 i.S. Bauherrengemeinschaft Altenberg gegen Regierungsrat des Kantons Bern
 
Regeste
BB vom 17. März 1972 über dringliche Massnahmen auf dem Gebiete der Raumplanung (BMR); Widerruf einer Baubewilligung.
Widerruf aufgrund nachträglicher Rechtsänderung (neuer Zonenplan); Voraussetzungen (E. 3 - 5).
 
Sachverhalt
Am 5. November 1974 erteilte der Regierungsstatthalter von Bern der Bauherrengemeinschaft Altenberg unter verschiedenen Bedingungen die Baubewilligung für den Abbruch der Gebäude Altenbergrain 4, Altenbergstrasse 126, 132, 134, 134 A und 134 B sowie für die Erstellung von zwei Häuserblöcken mit unterirdischer Autoeinstellhalle auf den Parzellen Nr. 896, 906, 993, und 1169, Altenberg Gemeinde Bern. Die betreffenden Bauparzellen waren dem provisorischen Schutzgebiet II im Sinne des Bundesbeschlusses über dringliche Massnahmen auf dem Gebiete der Raumplanung vom 17. März 1972 (BMR) zugeteilt.
Durch den am 17. September 1975 öffentlich aufgelegten Plan wurde das provisorische Schutzgebiet II im Bereich der Aaretalhänge in das provisorische Schutzgebiet I (Teile des Baugebietes mit Bausperre; Konfliktsgebiete) umgewandelt. Dadurch wurden auch die erwähnten Grundstücke dem Schutzgebiet I zugeteilt. Da die Bauherrengemeinschaft Altenberg mit den Bauarbeiten noch nicht begonnen hatte, widerrief der Regierungsstatthalter am 15. Oktober 1975, gestützt auf Art. 7 Abs. 2 der Verordnung des Regierungsrates zum Vollzug des BMR im Kanton Bern vom 24. Mai 1972 (KVO) die am 5. November 1974 erteilte Baubewilligung mit der Begründung, das bewilligte Projekt beeinträchtige den neuen Plan erheblich, da sowohl die Gebäudehöhe, die Geschosszahl als auch die Gebäudetiefe und -länge den kommenden Vorschriften widerspreche. Auch ein von der Bauherrengemeinschaft Altenberg am 7. Oktober 1975 den städtischen Behörden eingereichtes reduziertes Bauprojekt wurde wegen erheblicher Überschreitung der Ausnutzungswerte und Unvereinbarkeit mit der Forderung nach einer kleinmassstäblichen Überbauung mit ausgeprägtem Baumbestand als unzulässig erachtet.
Die Bauherrengemeinschaft Altenberg zog den Entscheid des Regierungsstatthalters erfolglos an den Regierungsrat weiter. Dieser wies die Beschwerde am 11. August 1976 ab. Er hielt dafür, der Widerruf entspreche dem Sinn und Zweck des BMR. Selbst wenn Art. 7 Abs. 2 KVO nicht bestünde, hätte die Baubewilligung aufgrund der allgemeinen Grundsätze der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Widerruf von Verwaltungsakten widerrufen werden können.
Die Bauherrengemeinschaft Altenberg erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des Regierungsrates des Kantons Bern vom 11. August 1976 sei aufzuheben. Sie hat überdies Einsprache erhoben gegen den Einbezug der betroffenen Parzellen in das provisorische Schutzgebiet I. Der Entscheid über diese Einsprache wurde bis zur Erledigung des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ausgesetzt.
Die Baudirektion des Kantons Bern und der Delegierte für Raumplanung schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
Es trifft zu, dass weder Art. 4 BMR noch die Vollziehungsverordnung zum BMR vom 29. März 1972 den Widerruf einer bereits erteilten Baubewilligung ausdrücklich vorsehen. Daraus folgt aber nicht bereits, dass der BMR den Widerruf einer Baubewilligung in diesem Fall ausschliessen wollte. Eine solche Auslegung des Art. 4 BMR ergibt sich weder aus dem Sinn der Bestimmung noch aus dem Zweck des Bundesbeschlusses überhaupt, welcher raumplanerische Sofortmassnahmen ermöglichen soll, um unzweckmässige Überbauungen zu verhindern, wo schutzwürdige Interessen der Allgemeinheit auf dem Spiel stehen wie namentlich das Interesse an der Erhaltung der Landschaften von besonderer Schönheit und Eigenart (Art. 1 und 2 BMR; vgl. Botschaft vom 26. Januar 1972, BBl 1972 I S. 502 f.; 508; ferner Bundesrat Furgler im Nationalrat, Amtl. Bull. NR 1972, S. 220; Berichterstatter Jauslin im Ständerat, Amtl. Bull. SR 1972, S. 29). Auch die Entstehungsgeschichte enthält keine Anhaltspunkte, die in Richtung der von der Beschwerdeführerin vertretenen Auslegung weisen. Vielmehr liegt es, wie der Delegierte für Raumplanung in der Vernehmlassung hervorhebt, im Wesen des BMR, dass die nach Art. 2 BMR ausgeschiedenen provisorischen Schutzgebiete eine Bausperre zur Folge haben. Der Auffassung der Beschwerdeführerin, der Widerruf einer bereits erteilten Baubewilligung sei durch den BMR ausgeschlossen, kann daher nicht beigepflichtet werden. Inwiefern ein solcher Widerruf zulässig ist, ist indessen im BMR nicht näher geregelt. Will man daher, wie dies der Regierungsrat im angefochtenen Entscheid getan hat, davon absehen, dass die KVO diese Frage ausdrücklich regelt, sind hierfür die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätze über den Widerruf eines Verwaltungsakts heranzuziehen.
3. Eine formell rechtskräftige Verwaltungsverfügung kann nicht ohne weiteres aufgehoben werden, wenn sie dem öffentlichen Interesse und dem geltenden Recht nicht oder nicht mehr entspricht.... Es ist dabei abzuwägen, ob dem Postulat der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts oder dem Interesse an der Wahrung der Rechtssicherheit der Vorrang gebührt. Das Postulat der Rechtssicherheit geht im allgemeinen dann vor, wenn durch die frühere Verwaltungsverfügung ein subjektives Recht begründet worden ist, oder wenn die Verfügung in einem Verfahren ergangen ist, in dem die sich gegenüberstehenden Interessen allseitig zu prüfen und gegeneinander abzuwägen waren, oder wenn der Private von einer ihm durch die Verfügung eingeräumten Befugnis bereits Gebrauch gemacht hat (BGE 101 Ib 320; BGE 100 Ib 302; 97 mit weiteren Hinweisen). Indes kann selbst in diesen Fällen ein besonders gewichtiges öffentliches Interesse zum Widerruf der Verfügung führen (BGE 100 Ib 97; BGE 100 Ib 302 ; BGE 88 I 228 E. 1).
Das öffentliche Interesse kann den Widerruf der Bewilligung auch erfordern, wenn diese zwar seinerzeit in Übereinstimmung mit der damals geltenden Gesetzgebung ergangen ist, die gesetzlichen Vorschriften aber seither geändert haben. Allerdings ist dann besonders sorgfältig zu prüfen, ob es den Widerruf wirklich erfordert, erst recht, wenn in bestehende Verhältnisse eingegriffen werden muss, die aufgrund der erteilten Bewilligung entstanden sind (BGE 100 Ib 97). Ein solcher Fall liegt hier vor, da die Baubewilligung infolge der geänderten Rechtslage widerrufen wurde, welche mit dem neuen Zonenplan (provisorisches Schutzgebiet I) eintrat. Es ist somit zu prüfen, ob diese Rechtsänderung den Widerruf der Baubewilligung erforderte.
b) Die Zone der provisorischen Schutzgebiete I bezweckt hier in Anwendung von Art. 1 und 2 BMR den Schutz der besonderen Schönheit der Flusslandschaft der Aare und die Erhaltung des kleinmassstäblich überbauten, städtebaulich und historisch wertvollen Aaretalhangs der Stadt Bern. Es ist nicht bestritten, dass es sich dabei um ein landschaftlich schützenswertes Gebiet handelt. In Anbetracht des im BMR klar zum Ausdruck gebrachten vordringlichen Schutzes der durch unzweckmässige Überbauungen besonders gefährdeten Landschaften (Art. 1 und 2 BMR), kann es auch nicht zweifelhaft sein, dass ein erhebliches öffentliches Interesse am Schutze dieser Landschaft besteht. Es ist daher davon auszugehen, dass im vorliegenden Fall ein wichtiges öffentliches Interesse auf dem Spiel steht.
Es leuchtet auch ein, dass jede weitere Grossbaute in diesem Gebiet als empfindlicher und nicht wiedergutzumachender Eingriff in die nach wie vor naturgeprägte Aarelandschaft angesehen werden muss, und dass insofern das öffentliche Interesse an der Erhaltung der Landschaft gefährdet wäre, wenn die Baubewilligung im vorliegenden Fall nicht widerrufen würde. In bezug auf den Widerruf ist es nicht widersprüchlich, dass das Bauvorhaben nur wenige Monate nach Erteilung der Baubewilligung, wie die Beschwerdeführerin einwendet, das öffentliche Interesse in erheblicher Weise gefährden soll, während dies im Zeitpunkt der Erteilung der Bewilligung nicht der Fall gewesen sei. Das im Zeitpunkt des Widerrufs geltend gemachte öffentliche Interesse konnten die Bewilligungsbehörden erst aufgrund des neuen Zonenplans berücksichtigen, in dem es seinen Niederschlag gefunden hatte. Der frühere Zonenplan bot für die ins Feld geführte erhöhte Schutzwürdigkeit des betroffenen Gebiets noch keine Rechtsgrundlage. Der Einwand der Beschwerdeführerin geht daher fehl. Allerdings ist damit noch nicht gesagt, dass die Unterstellung der Grundstücke der Beschwerdeführerin unter den neuen Zonenplan in jeder Hinsicht gerechtfertigt war. Dies wird sich im Einspracheverfahren noch erweisen müssen.
a) Die Beschwerdeführerin beruft sich in erster Linie darauf, die Baubewilligung habe ihr ein subjektives Recht verschafft. Das Bundesgericht hat zwar in seiner früheren Rechtsprechung gelegentlich angenommen, dass der Inhaber einer Baubewilligung sich auf ein subjektives Recht berufen könne, welches die Rechtsbeständigkeit der Baubewilligung gegenüber einem Widerruf zu begründen vermöge (BGE 78 I 407 oben; vgl. auch BGE 100 Ib 303 E. 3). Es ist aber von dieser Auffassung in der nachfolgenden Praxis abgekommen (BGE 79 I 7 f.; BGE 87 I 511; BGE 89 I 434; BGE 94 I 344 E. 4a; Urteil Gemeinde Landschaft Davos vom 17. Februar 1971, in ZBl 72/1971 S. 473 ff. E. 4b). Es besteht kein Grund, von dieser Praxis abzugehen, zumal sie auch der in der Rechtslehre wohl herrschenden Meinung entspricht (vgl. BGE 100 Ib 303 E. 3). In der Tat wird mit der Baubewilligung nur festgestellt, dass dem Bauvorhaben kein baupolizeiliches Hindernis entgegensteht (BGE 94 I 344 E. 4a; Urteil Gemeinde Landschaft Davos vom 17. Februar 1971, E. 4b). Die Erteilung einer Baubewilligung begründet demnach an sich noch keine Rechtsposition, die gegen einen Widerruf beständig ist. Hierfür ist vielmehr entscheidend, in welchem Ausmass der Inhaber von der Befugnis bereits Gebrauch gemacht hat.
b) Es fragt sich somit, ob die Beschwerdeführerin bereits in einer Weise von der Baubewilligung Gebrauch gemacht hat, die es ausschliesst, dass das in Frage stehende öffentliche Interesse berücksichtigt werden kann. Eine Schonung der Interessen der Beschwerdeführerin wird namentlich dann in Frage kommen, wenn sie im Vertrauen auf die Beständigkeit der erteilten Baubewilligung eine Disposition getroffen hat, die sie nicht ohne unzumutbare Einbussen rückgängig machen kann.
Die Beschwerdeführerin hat neben der Regelung der Finanzierung sowie der Räumung der Altbauten im Hinblick auf den bevorstehenden Abbruch vor allem einen Werkvertrag für die Abbruch- und Aushubarbeiten abgeschlossen. Es wurde indessen mit den eigentlichen Bauarbeiten noch nicht begonnen, was für die vorzunehmende Interessenabwägung entscheidend ins Gewicht fällt. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen der zu erlassenden kommunalen Nutzungsvorschriften eine Überbauung der betreffenden Grundstücke wird vornehmen können. Es lässt sich unter diesen Umständen nicht annehmen, sie könne auf die getroffenen Dispositionen nicht mehr ohne unzumutbare Einbussen zurückkommen. Aus diesem Grund hilft ihr in dieser Hinsicht auch der Einwand nicht weiter, die städtischen Behörden hätten sich ihr gegenüber widersprüchlich verhalten und sie habe sich in guten Treuen auf die erteilte Baubewilligung verlassen können. Der angefochtene Widerruf erscheint daher auch unter diesem Gesichtspunkt als gerechtfertigt.
c) Die Beschwerdeführerin beruft sich weiter darauf, die Baubewilligung sei ihr in einem Verfahren erteilt worden, in dem die Interessen allseitig überprüft und gegeneinander abgewogen worden seien. Der von der Rechtsprechung als Ausschlussgrund für einen Widerruf anerkannte Umstand, dass der Verfügung ein eingehendes Ermittlungsverfahren vorangegangen ist, kann indessen kein Hindernis darstellen für einen Widerruf, der aufgrund einer neuen Rechtslage erfolgte, da sich damit die Prüfung der Interessen unter einem Gesichtspunkt stellt, der bei Erlass der Verfügung nicht berücksichtigt werden konnte. Entsprechend hat das Bundesgericht bereits in bezug auf neu eingetretene tatsächliche Verhältnisse erklärt, der erwähnte Ausschlussgrund falle ausser Betracht; überdies sei er ohnehin nicht im Sinne einer starren Regel zu verstehen (zit. Entscheid Gemeinde Landschaft Davos vom 17. Februar 1971, E. 6).