40. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 30. November 1979 i.S. Picenoni gegen Regierung des Kantons Graubünden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
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Regeste
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Entzug des Führerausweises.
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2. Die Frage, ob eine Verkehrsgefährdung "mittelschwer" im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 1. Satz SVG oder "schwer" im Sinne von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG ist, darf in Grenzfällen und bei kurzer Entzugsdauer offen bleiben (E. 3); Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG bleibt vorbehalten.
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Sachverhalt
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Am 31. August 1978 lenkte Verena Picenoni ihren Personenwagen hinter zwei Fahrzeugen von Silvaplana kommend über den Julierpass in Richtung Julierhospiz. Auf der Geraden bei der Villa Stähli überholte sie zwei in Richtung Hospiz fahrende Wagen. Sie begann das Manöver ungefähr 200 Meter vor der unübersichtlichen Rechtskurve mit Kuppe und beendete es kurz vor der Kuppe, aus welcher ihr Gegenverkehr nahte. Die Beschwerdeführerin räumte im kantonalen Verfahren ein, das Überholmanöver sei "etwas spitz" gewesen. Die beiden Polizeibeamten, die sich im hinteren der zwei überholten Fahrzeuge befanden, sagten als Zeugen aus, der entgegenkommende Lenker habe abbremsen, jedoch nicht eine Vollbremsung einleiten müssen. Auch die beiden überholten Fahrzeuge hätten ihre Geschwindigkeit reduzieren müssen, um der Überholenden das rechtzeitige Wiedereinbiegen zu ermöglichen. Mit Verfügung vom 13. November 1978 entzog das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Graubünden Verena Picenoni wegen schwerer Verkehrsgefährdung den Führerausweis in Anwendung von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG auf die Dauer eines Monats. Der Regierungsrat des Kantons Graubünden bestätigte den Entscheid, liess aber offen, ob eine schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG oder eine einfache Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 1. Satz SVG vorliege, da jedenfalls nicht ein leichter Fall angenommen werden könne, so dass der Ausweis ohnehin mindestens auf die Dauer eines Monats entzogen werden müsse.
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Gegen diesen Entscheid führt Verena Picenoni mit Eingabe vom 30. Mai 1979 Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Ausweisentzug zu widerrufen. Sie bestreitet nicht, eine Verkehrsregelverletzung begangen zu haben, macht aber geltend, sie habe den Verkehr nicht gefährdet. Ein Führerausweisentzug sei unangemessen, eine Verwarnung entspreche besser den gesamten Umständen. Das Bundesamt für Polizeiwesen beantragt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei teilweise gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Verena Picenoni wurde am 8. März 1979 vom Kreisamt Oberengadin aufgrund des nämlichen Vorfalles zu einer Busse von Fr. 90.- verurteilt. Dieses Urteil ist rechtskräftig.
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Erwägungen:
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"2 Der Führer- oder Lernfahrausweis kann entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat. In leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden.
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3 Der Führer- oder Lernfahrausweis muss entzogen werden, wenn der Führer
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a) den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat."
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a) Der Führerausweisentzug gemäss Art. 16 Abs. 2 und 3 lit. a SVG setzt demnach zunächst voraus, dass der Führer Verkehrsregeln verletzt hat. Sowohl die Administrativbehörden als auch der Strafrichter werfen der Beschwerdeführerin vor, sie habe Art. 35 Abs. 2 SVG verletzt, weil der nötige Raum bei ihrem Überholmanöver nicht übersichtlich und frei gewesen sei und sie den Gegenverkehr behindert habe. Die Beschwerdeführerin räumt in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde selber ein, diese Verkehrsregel verletzt zu haben, und sie bestreitet den Sachverhalt, wie er vom Strafrichter festgestellt wurde, nicht, sondern verweist ausdrücklich auf dessen tatsächliche Feststellungen. Das Strafurteil blieb zudem unangefochten.
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b) Eine Verkehrsregelverletzung kann nur dann zu einer Administrativmassnahme gemäss Art. 16 Abs. 2 oder 3 lit. a SVG führen, wenn die Beschwerdeführerin den Verkehr gefährdet oder - was vorliegend nicht in Betracht fällt - andere belästigt hat. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung verlangt nicht eine konkrete Verkehrsgefährdung; es genügt, dass das Verhalten der Beschwerdeführerin nach den Umständen geeignet war, den Verkehr zu gefährden (sogenannte erhöht-abstrakte Gefährdung; BGE 104 Ib 100; BGE 103 Ib 39 E. 3). Benutzt ein Motorfahrzeugführer für sein Überholmanöver die Gegenfahrbahn und verletzt er dabei Art. 35 Abs. 2 SVG, indem entweder der nötige Raum nicht übersichtlich und frei ist oder der Gegenverkehr behindert wird, dann liegt in dieser Verkehrsregelverletzung gleichzeitig eine erhöht-abstrakte Verkehrsgefährdung, denn die Verletzung dieser Regel ist dort, wo mit Gegenverkehr gerechnet werden muss, nach den Umständen stets geeignet, den Verkehr zu gefährden. Im vorliegenden Verfahren räumte die Beschwerdeführerin zudem ein, das Manöver sei "etwas spitz" gewesen. Die Voraussetzungen für eine Administrativmassnahme sind somit gegeben.
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Das Bundesamt für Polizeiwesen vertritt die Auffassung, es gehe nicht an, dass der Regierungsrat die Frage offen lasse, ob eine schwere oder eine einfache Verkehrsgefährdung vorliege. Denn bei der einfachen Verkehrsgefährdung sei der Ausweisentzug fakultativ, so dass die Frage, ob im Einzelfall ein Entzug verfügt werden müsse, in das pflichtgemässe Ermessen der Entzugsbehörde gestellt werde; diese könne zur Auffassung gelangen, die Gesamtheit der Umstände rechtfertige keinen Ausweisentzug. Von einem Entzug könne nicht nur abgesehen werden, wenn ein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 2. Satz, vorliege, sondern auch, wenn die Voraussetzungen für einen Entzug gemäss Art. 16 Abs. 2, 1. Satz, erfüllt seien, sich aber aufgrund der gesamten Verhältnisse kein Entzug rechtfertige. Letzteres habe der Regierungsrat indessen nicht geprüft, sondern lediglich festgestellt, dass kein leichter Fall vorliege.
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a) Das Bundesgericht hat Art. 16 Abs. 2 SVG stets in der Weise ausgelegt, dass auf den Ausweisentzug nur verzichtet werden kann, wenn der Fall leicht im Sinne von Satz 2 dieser Bestimmung ist (BGE 104 Ib 103 E. 1e; BGE 103 Ib 41 E. 5; vgl. auch BGE 104 Ib 52; Urteile vom 22. Dezember 1978 i.S. Niklaus, vom 27. Januar 1978 i.S. Roth, vom 20. Juni 1977 i.S. Schluroff, vom 12. Oktober 1976 i.S. Vendel). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Der bundesrätliche Entwurf vom 24. Juni 1955 sah in Art. 16 Abs. 2 ausschliesslich Satz 1 vor (BBl 1955 II S. 74). Diese Bestimmung enthält eine Kann-Vorschrift, welche den Entscheid, ob im Einzelfall ein Ausweisentzug zu verfügen sei oder nicht, in das pflichtgemässe Ermessen der Behörden stellt. Die nationalrätliche Kommission fügte indessen Satz 2 ein und konkretisierte damit Satz 1, indem die Richtlinie für die Handhabung des Ermessens in das Gesetz aufgenommen wurde (vgl. Sten. Bull. 1956, NR S. 597-599).
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Gemäss Satz 2 kann in leichten Fällen an die Stelle des Entzuges eine Verwarnung treten. Diese Bestimmung verlöre ihren Sinn, wenn sich die Behörden auch in nicht leichten Fällen mit einer Verwarnung begnügen oder sogar auf jede Massnahme verzichten könnten. Daher kann in nicht leichten Fällen von einem Ausweisentzug nicht abgesehen werden. Der Umstand, dass auch Satz 2 eine Kann-Vorschrift enthält, schliesst die Möglichkeit in sich ein, in besonders leichten Fällen auf jede Massnahme zu verzichten.
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b) Diese Ordnung ist insbesondere von Bedeutung, wenn eine berufliche Notwendigkeit besteht, ein Motorfahrzeug zu führen. Während diese Notwendigkeit nach Art. 33 Abs. 2 VZV für die Zumessung der Entzugsdauer massgebend mit ins Gewicht fällt, entfällt dieser Gesichtspunkt bei der Umschreibung des leichten Falles in Art. 31 Abs. 2 VZV. Der Unterschied besteht mit Grund. Berufsmässig auf ein Motorfahrzeug angewiesene Fahrzeugführer werden wegen der grösseren Massnahmenempfindlichkeit in der Regel schon durch eine kürzere Entzugsdauer wirksam gewarnt und von weiteren Widerhandlungen abgehalten. Aus Rechtsgleichheitsgründen rechtfertigt es sich deshalb, dieses Kriterium bei der Zumessung der Entzugsdauer zu berücksichtigen. Anders verhält es sich beim Grundsatzentscheid, ob der Ausweis entzogen werden soll oder nicht. Personen, die beruflich auf ihr Motorfahrzeug angewiesen sind, sollen nicht in dem Sinne vor anderen Motorfahrzeugführern bevorzugt werden, dass sie sich schwerwiegendere Verfehlungen zuschulden kommen lassen können, bis ein Ausweisentzug verfügt wird. Eine verkehrsgefährdende Verkehrsregelverletzung erscheint weder objektiv noch subjektiv als leichter, wenn sie von einem Führer begangen wird, der beruflich auf das Fahrzeug angewiesen ist. Doch können bei einem leichten Fall alle übrigen wesentlichen Umstände berücksichtigt werden, welche anstelle des Ausweisentzuges eine Verwarnung rechtfertigen.
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c) Nach der neueren Rechtsprechung hat der Richter bei der Beurteilung, ob ein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG vorliegt, in erster Linie die Schwere der Verkehrsgefährdung und die Schwere des Verschuldens, daneben aber auch den automobilistischen Leumund zu würdigen (Art. 31 Abs. 2 VZV; BGE 104 Ib 101 E. 2c). Vorliegend ist der automobilistische Leumund der Beschwerdeführerin in keiner Weise getrübt. Da jedoch das Überholen an unübersichtlichen Stellen in der Regel sogar als schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG angesehen werden muss (Ziff. 3.2.1 der Richtlinien der kantonalen Polizeidirektorenkonferenz über die Administrativmassnahmen im Strassenverkehr), genügt der gute Leumund nicht, um von einem Führerausweisentzug absehen zu können. Der Entzug musste deshalb gegenüber der Beschwerdeführerin für die Mindestdauer von einem Monat ausgesprochen werden.
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3. Das Bundesamt für Polizeiwesen glaubt, der Entscheid der Vorinstanz sei von Amtes wegen aufzuheben, weil die Vorinstanz offen gelassen habe, ob ein nicht leichter, d.h. "mittelschwerer Fall", im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 1. Satz SVG oder ein "schwerer Fall" im Sinne von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG vorliege. Dieses Offenlassen der Subsumtion unter Art. 16 Abs. 2 oder Art. 16 Abs. 3 SVG verletzt nach Ansicht des Bundesamtes Bundesrecht. Das Bundesamt weist darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen dem fakultativen und dem obligatorischen Führerausweisentzug unter dem Gesichtspunkt des Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG von entscheidender Bedeutung sein kann. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Dauer des Führerausweisentzuges mindestens sechs Monate beträgt, wenn dem Führer der Ausweis wegen einer Widerhandlung entzogen werden muss, die er innert zwei Jahren seit Ablauf des letzten Entzuges begangen hat. Wie das Bundesgericht in BGE 102 Ib 282 zu dieser Bestimmung ausgeführt hat, ist sie anwendbar, wenn der zweite Entzug wegen der Schwere der Verkehrsgefährdung obligatorisch ist, gleichgültig, ob der frühere Ausweisentzug obligatorisch oder fakultativ war. Daraus ergibt sich, dass unter dem Gesichtspunkt von Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG zur Frage, ob ein obligatorischer oder fakultativer Entzugsgrund vorliegt, nur Stellung bezogen werden muss, wenn der letzte Ausweisentzug vor weniger als zwei Jahren abgelaufen war. Im Falle der Beschwerdeführerin liegt kein solcher Fall vor, da ihr automobilistischer Leumund unbelastet ist.
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Das Bundesamt für Polizeiwesen glaubt jedoch, die Klärung, ob ein "schwerer" oder nur ein nicht leichter "mittelschwerer Fall" vorliegt, müsse gleichwohl entschieden werden, weil der automobilistische Leumund des Betroffenen im Hinblick auf allfällige künftige Verfehlungen unterschiedlich belastet werde, je nachdem man ihm vorwerfe, den Verkehr in schwerer oder lediglich in nicht leichter, mittelschwerer Weise gefährdet zu haben. Das Bundesgericht hat jedoch selbst in zahlreichen Grenzfällen, welche eine kurze Entzugsdauer zum Gegenstand hatten, die Frage offen gelassen, ob dem Beschwerdeführer eine schwere oder nur eine mittelschwere Verkehrsgefährdung zur Last zu legen sei, und es hat sich mit der Feststellung begnügt, dass jedenfalls kein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 2. Satz vorliege (vgl. z.B. Urteile vom 22. Dezember 1978 i.S. Niklaus, vom 30. Juni 1978 i.S. Roth; vgl. auch BGE 104 Ib 52 E. 2b). Für diese Praxis lässt sich neben verfahrensökonomischen Gesichtspunkten anführen, dass für die Beurteilung des automobilistischen Leumundes mehr die Dauer früherer Ausweisentzüge ins Gewicht fällt als deren rechtliche Qualifikation. Die Unterscheidung spielt deshalb bei späterer neuer Beurteilung des Leumunds nur eine untergeordnete Rolle.
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Immerhin muss festgehalten werden, dass dem Betroffenen in einem späteren Verfahren die frühere Verfehlung nicht als schwere Verkehrsgefährdung angerechnet werden darf, wenn die rechtliche Qualifikation seinerzeit offen gelassen wurde; denn die entscheidende Instanz bringt mit dem Offenlassen zum Ausdruck, dass ihres Erachtens ein schwerer Fall nicht eindeutig erwiesen ist.
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Da der vorliegende Fall einerseits nicht leicht ist, sondern an der Grenze zwischen den mittelschweren Fällen und der schweren Verkehrsgefährdung liegt und die kantonalen Behörden anderseits den Ausweis auf die Minimaldauer eines Monates entzogen haben, kann ihnen keine Bundesrechtsverletzung vorgeworfen werden, wenn sie die Frage nach der Anwendung von Art. 16 Abs. 2 oder Abs. 3 lit. a SVG im vorliegenden Falle offen gelassen haben.
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