BGE 111 Ib 280
 
51. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. Juli 1985 i.S. Schnyder gegen SBB, Kreisdirektion II, und Eidg. Schätzungskommission, Kreis 8 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 7 Abs. 3, Art. 40 EntG; nachträgliche Begehren um Schutzvorrichtungen gegen Immissionen.
Begehren um Schutzvorrichtungen im Sinne von Art. 7 Abs. 3 können auch nach der Einigungsverhandlung und der Ausführung des Werkes noch gestellt werden, wenn die Notwendigkeit von Schutzvorkehren bei der Planauflage objektiv nicht voraussehbar war. Solche Begehren sind innert der in Art. 41 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 lit. b EntG vorgesehenen sechsmonatigen Frist einzureichen (E. 3). Diese Frist ist im vorliegenden Fall eingehalten (E. 4).
Sistierung des Schätzungsverfahrens bis zum Vorliegen des Entscheides über das Begehren um Schutzvorkehren (E. 5).
 
Sachverhalt
Im Zusammenhang mit dem Bau der neuen SBB-Doppelspur Olten-Rothrist wandten sich verschiedene Eigentümer von Grundstücken in Aarburg an die Schweizerischen Bundesbahnen und ersuchten um Aufschluss über die geplanten Schallschutzvorkehren. Die SBB, Kreis II, liessen hierauf im Kloosmattquartier sowohl vor wie auch nach der Inbetriebnahme der neuen Linie Lärmmessungen vornehmen. In der Folge meldeten sich weitere Grundeigentümer aus den Quartieren Schönmatt und Säliring mit Gesuchen um Lärmschutzmassnahmen bei der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 8. Auf Aufforderung des Kommissionspräsidenten nahmen die SBB am 8. Juni 1982 zu den Anfragen und Begehren der Grundeigentümer Stellung und hielten fest, dass sie nicht bereit seien, Lärmschutzmassnahmen zu treffen oder Entschädigungen zu leisten.
Im Verlaufe des weiteren Verfahrens teilten Peter Schnyder und weitere vierzig von ihm vertretene Grundeigentümer dem Schätzungskommissions-Präsidenten mit, dass sie nicht in erster Linie an Entschädigungen, sondern an geeigneten Lärmschutzvorrichtungen interessiert seien. Sie baten daher die Schätzungskommission zu prüfen, ob sie nicht auch zuständig sei, dem Enteigner im Sinne von Art. 7 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG) eine verbindliche Auflage zu erteilen, Vorkehren zu ergreifen, um die benachbarten Grundstücke gegen Gefahren und Nachteile sicherzustellen. Allenfalls sei das Begehren um Schallschutzvorkehren in analoger Anwendung von Art. 50 EntG dem zuständigen Departement zu überweisen.
Mit Entscheid vom 4. Oktober 1983 wies die Eidg. Schätzungskommission, Kreis 8, die Begehren der Kläger ab, soweit auf diese eingetreten wurde. Im Entscheid wird festgehalten, dass sich die Legitimation der Ansprecher aus der behaupteten Verletzung von Nachbarrechten ergebe. Die Zuständigkeit der Schätzungskommission sei denn auch nur insoweit zu bejahen, als um Entschädigung für die Beeinträchtigung von Nachbarrechten ersucht werde. Dagegen sei die Schätzungskommission nicht befugt, dem Hauptantrag der Gesuchsteller zu entsprechen und bauliche Massnahmen, insbesondere solche im Sinne von Art. 7 EntG, anzuordnen. Auch dem Eventualantrag, die Akten in analoger Anwendung von Art. 50 EntG dem zuständigen Departement zu überweisen, könne nicht stattgegeben werden. Es handle sich im vorliegenden Fall nicht um ein normales Enteignungsverfahren mit Planauflage, Einigungs- und Schätzungsverfahren, sondern um ein Verfahren, das nur zur Abklärung diene, ob in Nachbarrechte eingegriffen worden und hiefür eine Entschädigung geschuldet sei.
Gegen diesen Entscheid hat Peter Schnyder Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht mit dem Hauptantrag, der Enteigner sei in Anwendung von Art. 7 Abs. 3 EntG zu verpflichten, geeignete Lärmschutzvorrichtungen zu erstellen. Allenfalls sei die Sache dem zuständigen Departement zu übermitteln oder an die Schätzungskommission zurückzuweisen, damit diese die Einigungsverhandlungen nachhole. Schliesslich stellte Schnyder ein Eventualbegehren um Zusprechung einer Minderwertsentschädigung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gut.
 
Aus den Erwägungen:
Das Bundesgericht hat die Befugnis des Privaten, im Einspracheverfahren um den Bau von Schutzvorrichtungen im Sinne von Art. 7 Abs. 3 EntG zu ersuchen, bereits in BGE 107 Ib 389 und insbesondere in BGE 108 Ib 507 E. 3 bejaht. Im Einspracheverfahren stehen aber der Schätzungskommission und ihrem Präsidenten grundsätzlich keinerlei Entscheidbefugnisse zu. Wohl obliegt diesem im Rahmen der Einigungsverhandlung die Abklärung streitiger oder zweifelhafter Punkte (Art. 48 EntG) - worunter in erster Linie die Erläuterung unklarer Begehren zu verstehen ist (BGE 110 Ib 42 E. 3a) - und hat er über die Zulässigkeit nachträglicher Einsprachen und Planänderungsbegehren zu befinden (Art. 19 der Verordnung über die eidgenössischen Schätzungskommissionen), sofern sich das Einspracheverfahren nach dem Enteignungsgesetz richtet und nicht gemäss der Spezialgesetzgebung selbständig durchzuführen ist (vgl. BGE BGE 100 Ib 187 ff. E. 3). Dagegen hat sich der Kommissionspräsident weder mit der Instruktion der Einsprachen zu befassen, noch auch nur verbindlich festzustellen, welches das zur Einsprachenbehandlung zuständige Departement sei (BGE 110 Ib 42 E. 3a, nicht publ. Entscheide i.S. Gemeinde Rothenthurm vom 8. Juni 1984 E. 2cc und i.S. Besmer vom 3. Januar 1985 E. 2, geschweige denn Planänderungsbegehren materiell zu prüfen und allenfalls Massnahmen im Sinne von Art. 7 EntG anzuordnen. Das Bundesgericht hat in BGE 104 Ib 352 ff. ausdrücklich festgehalten, dass nicht die Schätzungskommission, sondern die Einsprachebehörde über den Umfang von Ersatzvorkehren im Sinne von Art. 7 Abs. 2 EntG zu entscheiden habe. Das hindere die Kommission allerdings nicht daran, zu prüfen, ob die vorgesehene Ersatzmassnahme im betreffenden Falle alle Ansprüche des Enteigneten erfülle oder ob noch ein zu ersetzender Schaden verbleibe. Das gleiche gilt auch für die in Art. 7 Abs. 3 vorgeschriebenen Schutzvorkehren gegen Immissionen. Inwieweit der Werkeigentümer solche treffen muss, ist von der Einsprachebehörde zu entscheiden. Dagegen hat die Schätzungskommission darüber zu befinden, ob der Nachbar weiterhin unter übermässigen Beeinträchtigungen durch das Werk zu leiden habe und ihm hiefür eine Entschädigung zu leisten sei (Art. 64 lit. c EntG; HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 3, 38 zu Art. 7 EntG; s.a. BGE 106 Ib 236 E. 3a).
Die Schätzungskommission hat sich daher zu Recht geweigert, sich mit den auf Art. 7 Abs. 3 EntG gestützten Anträgen materiell zu befassen.
a) Begehren um Schutzvorrichtungen im Sinne von Art. 7 Abs. 3 EntG sind gleich wie die Einsprachen im engeren Sinne und die Schadenersatzforderungen schriftlich und mit Begründung während der Auflagefrist einzureichen (Art. 35 und 36 in Verbindung mit Art. 30 EntG). Nach der Eingabefrist können Einsprachen und Entschädigungsforderungen nur unter den in Art. 39-41 EntG umschriebenen Voraussetzungen erhoben werden. So sind Einsprachen im engeren Sinne nachträglich nur noch entgegenzunehmen, wenn die Ausführung des Werkes noch nicht in Angriff genommen worden ist und die Einhaltung der Frist wegen unverschuldeter Hindernisse nicht möglich war (Art. 39 EntG). Andere Begehren, d.h. Begehren nach Art. 7-10 EntG (vgl. HESS, a.a.O. N. 2 zu Art. 40 EntG), können gemäss Art. 40 EntG bis zum Schlusse der Einigungsverhandlung noch angebracht werden, falls sie wegen unverschuldeter Hindernisse innert der Eingabefrist nicht geltend gemacht werden konnten. Zweck dieser zeitlichen Beschränkung der Einsprachemöglichkeit ist, zu verhindern, dass die Planung und Ausführung eines öffentlichen Werkes in einem schon fortgeschrittenen Stadium durch nachträgliche Opposition wieder in Frage gestellt werden kann (Botschaft des Bundesrates zum Entwurfe eines Bundesgesetzes über die Enteignung, BBl 1926 II S. 48; HESS, a.a.O. N. 6 zu Art. 39 EntG). Allerdings hat die Regelung von Art. 39 und 40 EntG durch die Revision des Art. 76 EntG im Jahre 1971 viel von ihrem Sinn eingebüsst, da nun die Bauarbeiten auf vorzeitige Besitzeinweisung hin in Angriff genommen werden können, bevor noch über die Einsprachen und Planänderungsgesuche rechtskräftig entschieden ist (vgl. Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG).
Die im Gesetz vorgesehenen Fristen zur Einreichung von Einsprachen sind, wie sich aus Art. 30 Abs. 1, Art. 34 Abs. 1 lit. f, Art. 35 und Art. 39 Abs. 2 EntG ergibt, Verwirkungsfristen (BGE 104 Ib 341 f. E. 3a; vgl. Hess, a.a.O. N. 7 zu Art. 39 EntG, N. 6 zu Art. 40 EntG). Indessen läuft die Verwirkungsfrist nur, wenn die Verwirkungsfolge dem Enteigneten in der öffentlichen Bekanntmachung (Art. 30 Abs. 1 lit. c) oder, im abgekürzten Verfahren, in der persönlichen Anzeige (Art. 34 Abs. 1 lit. f EntG) angedroht wird (BGE 105 Ib 9 E. 2a, 100 Ib 202 ff. E. 1b, BGE 92 I 178 f. E. 2). Der Fristbeginn wird zudem nach der Rechtsprechung aufgeschoben, wenn der Enteignete durch das Verhalten des Enteigners von einer rechtzeitigen Anmeldung seiner Begehren abgehalten wird, so etwa, wenn der Enteignete aufgrund von Verhandlungen mit dem Enteigner zur Annahme berechtigt ist, dieser trete auf seine Ansprüche ein (vgl. BGE 106 Ib 235 E. 2b, BGE 88 I 199, BGE 83 II 98).
b) Fraglich ist, ob Art. 40 EntG auch dann anwendbar sei und die Verwirkung von Begehren im Sinne von Art. 7 Abs. 3 EntG ebenfalls eintrete, wenn sich die Notwendigkeit von Schutzvorrichtungen aus den aufgelegten Plänen selbst nicht ergibt und nicht damit gerechnet werden muss, dass nach Inbetriebnahme des Werkes übermässige Einwirkungen entstehen könnten. Die Frage ist zu verneinen. Ein Recht verwirkt, wenn der Berechtigte eine Handlung, die er nach Gesetz innert einer bestimmten Frist zu vollziehen hat, unterlässt. Es wäre aber mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, von Unterlassung zu sprechen und ihr Verwirkungsfolgen beizulegen, wenn objektiv kein Anlass zum Handeln bestand. Gleich wie der Enteignete mit seiner Entschädigungsforderung nur säumig werden kann, wenn der Schaden eingetreten oder zuverlässig voraussehbar ist (BGE 102 Ib 279 f.), so können auch Säumnisfolgen im Sinne von Art. 40 EntG nur eintreten, wenn mit Sicherheit oder mit aller Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die dem Werk benachbarten Grundstücke von übermässigen Einwirkungen bedroht sind. Art. 40 EntG erfasst demnach allein die Begehren, zu deren Geltendmachung die Planauflage Anlass gab. Auf Gesuche um Schutzvorkehren, deren Notwendigkeit vor Inbetriebnahme des Werkes objektiv nicht voraussehbar war, kann sich die Vorschrift nicht beziehen. Für diese Begehren hat der Richter mangels einer gesetzlichen Ordnung selbst eine Regelung zu treffen. Dabei ist zu beachten, dass die Nachbarrechte wie die anderen dinglichen Rechte vom Enteigner nur insoweit entzogen oder beschränkt werden dürfen, als dies der Zweck erheischt (Art. 1 Abs. 2 EntG), und daher das Enteignungsrecht für vermeidbare Immissionen nicht beansprucht werden kann. Dies spräche dafür, den Betroffenen die Möglichkeit, Schutzvorrichtungen gegen Einwirkungen zu verlangen, unbeschränkt zu gewähren. Andererseits erfordert der Zweck des Enteignungsrechts, das ebensosehr die Interessen des Enteigners wie jene der Enteigneten zu wahren hat (vgl. BGE 109 Ib 35 mit Hinweis), dass Entschädigungs- und andere Ansprüche nur innert einer bestimmten Frist zuzulassen sind, damit die Realisierung und Finanzierung des im öffentlichen Interesse liegenden Werkes nicht unnötig verzögert und erschwert wird. Es rechtfertigt sich daher, die in Art. 41 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 lit. b EntG getroffene Regelung für nachträgliche Entschädigungsforderungen, die sich auf einen nicht oder seinem Umfang nach nicht vorherzusehenden Schaden beziehen, auf Begehren um Schutzvorrichtungen gegen die unvoraussehbaren Folgen des Werkbetriebes analog anzuwenden. Somit gilt auch hier eine sechsmonatige Verwirkungsfrist vom Zeitpunkt an, in dem der Nachbar Kenntnis von den übermässigen Einwirkungen erhalten hat.
4. Es wird von niemandem behauptet, dass der Beschwerdeführer aufgrund der aufgelegten Pläne hätte damit rechnen müssen, dass seine Liegenschaft nach Inbetriebnahme der Bahnlinie möglicherweise übermässigen Lärmimmissionen ausgesetzt sein würde. Aus den Akten ergibt sich denn auch, dass die Parzelle Schnyder nicht in unmittelbarer Nähe, sondern in einer Entfernung von rund 70 m vom neuen Bahntrasse entfernt liegt. Es ist daher davon auszugehen, dass sich eine Notwendigkeit von Schutzvorrichtungen objektiv nicht voraussehen liess.
Die neue SBB-Strecke ist am 31. Mai 1981 in Betrieb genommen und im Mai 1982 der Taktfahrplan eingeführt worden, der eine gewisse Erhöhung der Zugsfrequenz zur Folge hatte. Der Untersuchungsbericht über die Schallmessungen nach Inbetriebnahme der Bahn wurde in der Gemeinde Aarburg vom 19. Dezember 1981 bis 22. Januar 1982 zur öffentlichen Einsichtnahme aufgelegt. Der Ergänzungsbericht, der sich insbesondere mit der Einführung des Taktfahrplanes befasst, ging den Gesuchstellern im Jahre 1983 zu. Peter Schnyder hat sich, wie den Akten zu entnehmen ist, erstmals mit Schreiben vom 20. Juli 1981 an den Gemeinderat Aarburg gewandt und diesen aufgefordert, die SBB zu geeigneten Lärmschutzmassnahmen zu verhalten; die Eingabe ist den SBB übermittelt worden. Während der Auflage des Messberichtes hat Schnyder seine Begehren wiederholt. Die sechsmonatige Frist ist damit auf jeden Fall eingehalten, ob nun der Fristbeginn auf die Inbetriebnahme der Bahnlinie festzusetzen sei oder ob er auf die Vorlage des Messberichtes falle, auf den die SBB die Anwohner vertrösteten, bevor sie selbst zu den Begehren um Schutzvorkehren Stellung nahmen.
Unter diesen Umständen ist das Planänderungsgesuch des Beschwerdeführers dem Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement zur Behandlung zu übermitteln. Zwar scheint der Schätzungskommissions-Präsident keine eigentliche Einigungsverhandlung durchgeführt zu haben, doch haben die SBB klar zu verstehen gegeben, dass sie zum Bau von Lärmschutzvorrichtungen nicht bereit sind, und würde die Rückweisung der Sache an den Präsidenten zu blossem Leerlauf führen.