BGHSt 15, 203 - Mangelhafte Revisionsbegründung I
Hat der Tatrichter ein Verfahrenshindernis übersehen, so ist auf die gegen das Urteil rechtzeitig und wirksam eingelegte, wenn auch nicht oder nicht ordnungsgemäß begründete Revision das Verfahren wegen des Verfahrenshindernisses einzustellen. Die Verwerfung der Revision als unzulässig ist nicht statthaft.
StPO § 346
4. Strafsenat
 
Beschluß
vom 9. November 1960 g.R.
- 4 StR 407/60 -
I. Amtsgericht Essen
II. Landgericht Essen
III. Oberlandesgericht Hamm
 
Gründe:
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen einer Übertretung zu einer Haftstrafe verurteilt. Die Berufung des Angeklagten ist vom Landgericht verworfen worden.. Gegen das Berufungsurteil hat der Angeklagte rechtzeitig Revision eingelegt. Das Landgericht hat sie durch Beschluß nach § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, weil der Angeklagte die Revisionsanträge und ihre Begründung nicht in der im § 345 StPO bestimmten Frist und Form angebracht hat. Gegen diesen Beschluß hat der Angeklagte fristgerecht auf die Entscheidung des Revisionsgerichts angetragen (§ 346 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Das Oberlandesgericht in Hamm, das über diesen Antrag zu entscheiden hat, hat festgestellt, daß schon bei Erlaß des amtsgerichtlichen Urteils die Strafverfolgung verjährt war. Daher ist die Frage zu entscheiden, ob das Revisionsgericht, wenn der Tatrichter ein Verfahrenshindernis - hier die Verjährung der Strafverfolgung - übersehen und den Angeklagten verurteilt hat, auf eine rechtzeitig eingelegte, aber nicht ordnungsgemäß begründete Revision das Verfahren von sich aus wegen des Verfahrenshindernisses einzustellen hat oder ob die Revision wegen Nichteinhaltung der für die Revision vorgeschriebenen Frist und Form als unzulässig zu verwerfen ist.
Das Oberlandesgericht in Hamm möchte diese Frage in dem letztgenannten Sinn entscheiden. Es sieht sich hieran gehindert durch den Beschluß des Oberlandesgerichts in Neustadt vom 2. Februar 1955 (GA 1955, 185), der auf der entgegengesetzten Auffassung beruht. Daher hat es die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof vorgelegt.
I.
Wenn das Oberlandesgericht in Hamm - wie von ihm beabsichtigt - den nach § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO gestellten Antrag des Angeklagten verwerfen will, muß es von der angeführten Entscheidung des Oberlandesgerichts in Neustadt abweichen. Daß die Entscheidung des Bundesgerichtshofs auch dann einzuholen ist, wenn ein Oberlandesgericht bei einem Beschluß nach § 346 Abs. 2 StPO von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts abweichen will, hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden (BGHSt 11, 152 [154/155]); der Senat tritt dieser Auffassung bei.
Der Bundesgerichtshof hat die Vorlegungsfrage noch nicht entschieden. Die Vorlegung ist daher zulässig.
II.
In der Sache teilt der Senat im Gegensatz zu dem Generalbundesanwalt die Rechtsmeinung des Oberlandesgerichts in Neustadt.
1. a) Das Reichsgericht hat in der Entscheidung RGSt 53, 235 [237] ausgesprochen, daß die Frage, ob in einer Strafsache die Untersuchung durch eine Straffreiheitsverordnung niedergeschlagen sei, vom Revisionsgericht auch dann geprüft werden müsse, wenn gegen das Urteil des Tatrichters nur rechtzeitig Revision eingelegt worden sei, auch wenn die Revisionsanträge nicht oder erst verspätet angebracht worden seien. Allgemein hat es dagegen in der Entscheidung RGSt 63, 15 [17] die Ansicht geäußert, das Revisionsgericht könne sich nur dann mit der Frage der Zulässigkeit des gerichtlichen Strafverfahrens befassen, wenn es sich um eine zulässige Revision handele.
Das Bayerische Oberste Landesgericht hat sich in seinem Beschluß vom 5. Mai 1953 (BayObLGSt 1953, 82 = NJW 1953, 1402 = JZ 1954, 580) - mit Billigung von Niethainmer (JZ 1954, 580) und von G. Schwarz (NJW 1954, 1288, 1229) - auf den Standpunkt gestellt, den das Oberlandesgericht in Hamm vertritt. Früher war es in der Entscheidung BayObLGSt 24, 93 der Auffassung, es komme nur darauf an, ob die Revision rechtzeitig und formgerecht eingelegt sei; das Revisionsgericht müsse in diesem Falle beim Vorhandensein eines Verfahrenshindernisses das Verfahren auch dann einstellen, wenn die Revision unzulässig erscheine. Allerdings war bei der damals entschiedenen Sache das Verfahrenshindernis der Verjährung erst nach der Verkündung des tatrichterlichen Urteils entstanden. Für diesen Fall hat das Bayerische Oberste Landesgericht in seinem Beschluß vom 13. Mai 1953 (BayObLGSt 1953, 97 = NJW 1953, 1403 = JZ 1954, 581) im Ergebnis an der Entscheidung des BayObLGSt 24, 93 festgehalten.
Wie das Oberlandesgericht in Neustadt hat früher das Kammergericht entschieden (DJZ 1926, 458).
Der Entscheidung des Oberlandesgerichts in Oldenburg NdsRpfl 1953, 207 läßt sich für die zu lösende Rechtsfrage nichts entnehmen. Dort handelte es sich um eine Sache, in der die Revision mit der allgemeinen Sachrüge ordnungsgemäß begründet war.
b) Das Schrifttum vertritt überwiegend die Auffassung der Entscheidung RGSt 63, 15 [17] und des Beschlusses des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 5. Mai 1953 (vgl. Niethammer in Löwe/Rosenberg 20. Aufl., Einleitung S. 36). Im neueren Schrifttum sind dieser Meinung - soweit ersichtlich - nur Kleinknecht/Müller 4. Aufl. § 344 Anm. 14 a, § 349 Anm. 2 und § 352 Anm. 4 c entgegengetreten, während diese Verfasser sie an anderen Stellen (so § 206 a Anm. 2 a und § 343 Anm. 4) ohne Widerspruch wiedergeben.
2. a) Der Senat verkennt nicht, daß die beiden Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 5. und vom 13. Mai 1953 auf verschiedenartigen Gedankengängen beruhen, die an sich durchaus miteinander zu vereinbaren sind. Gleichwohl muß die Verschiedenartigkeit der Ergebnisse befremden. Einem unbefangenen Betrachter kann es kaum einleuchten, daß das Revisionsgericht - in beiden Fällen eine wirksam eingelegte, aber nicht ordnungsgemäß begründete und somit unzulässige Revision vorausgesetzt - das Verfahren zwar wegen eines erst nachträglich eingetretenen Hindernisses soll einstellen dürfen und müssen, daß es aber dazu nicht in der Lage sei, wenn das Verfahren von Anfang an einem solchen Mangel leidet. Ein solches Ergebnis würde dem Gebot der Gerechtigkeit widerstreiten.
b) Grundsätzlich muß in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen geprüft werden, ob die Verfahrensvoraussetzungen gegeben sind und Verfahrenshindernisse fehlen. Mangelt es an einer Prozeßvoraussetzung oder liegt ein Verfahrenshindernis vor, so ist das Verfahren, je nach den Umständen endgültig oder vorläufig, einzustellen. Zu dieser Prüfung und gegebenenfalls zur Einstellung des Verfahrens ist auch das Revisionsgericht verpflichtet (RGSt 68, 18; BGHSt 8, 269; 11, 393).
In ständiger Rechtsprechung haben das Reichsgericht und der Bundesgerichtshof auch anerkannt, daß selbst dann, wenn das Urteil des Tatrichters nur teilweise angefochten worden ist - z.B. nur im Strafausspruch oder hinsichtlich der Kostenentscheidung oder wegen einer von mehreren in Tatmehrheit stehenden Straftaten, für die der Tatrichter eine Gesamtfreiheitsstrafe festgesetzt hat - und daher teilweise bereits in Rechtskraft erwachsen ist, das Verfahren ohne Rücksicht auf die Teilrechtskraft soweit einzustellen ist, als das Fehlen der Verfahrensvoraussetzung oder das Vorhandensein des Verfahrenshindernisses sich auswirkt (RGSt 74, 206; BGHSt 6, 304; 8, 269; 11, 393; 13, 128).
All diese Entscheidungen tragen der grundlegenden Bedeutung der Verfahrenshindernisse weitestgehend Rechnung. Einige von diesen Hindernissen haben sogar Verfassungsrang (vgl. Art. 46 Abs. 2, Art. 103 Abs. 3 GG).
Die Gerichte haben das Recht zu wahren. Es wäre daher eigenartig, wenn ein Gericht, das bei der Prüfung der Zulässigkeit einer rechtzeitig und wirksam eingelegten Revision erkennt, daß der Tatrichter ein Verfahrenshindernis übersehen hat, dem schwerwiegenden Rechtsmangel nicht sollte abhelfen können. Den Aufgaben und der Stellung eines Revisionsgerichts würde es nicht entsprechen, wenn es in einem solchen Falle das mit einem so grundlegenden Mangel behaftete Urteil durch eigene Entscheidung nach § 346 Abs. 2 StPO rechtskräftig werden lassen oder als rechtskräftig bestätigen müßte und den offensichtlich zu Unrecht Verurteilten auf den Weg der Gnade verweisen würde.
Ein solches Ergebnis müßte nur dann hingenommen werden, wenn es die Prozeßgesetze zwingend vorschreiben würden. Das ist aber nicht der Fall.
3. Die Strafprozeßordnung enthält nur wenige Vorschriften, die sich mit den Verfahrensvoraussetzungen und den Verfahrenshindernissen ausdrücklich befassen. So ist z.B. ihr § 206a erst nachträglich - erstmals durch Verordnung vom 13. August 1942 (RGBI I, 512) - eingefügt worden. Das erklärt sich daraus, daß die Lehre von den Verfahrensvoraussetzungen und den Verfahrenshindernissen im wesentlichen von der Rechtslehre und ihr folgend von der Rechtsprechung erst nach dem Inkrafttreten der Strafprozeßordnung entwickelt worden ist (vgl. hierzu Niethammer in Löwe/Rosenberg 20. Aufl. Einleitung S. 34/35).
Auch die Vorschriften der Strafprozeßordnung, die sich mit der Revision befassen, tragen der Lehre von den Verfahrensvoraussetzungen und den Verfahrenshindernissen keine Rechnung. So bestimmt § 352 Abs. 1 StPO, daß der Prüfung des Revisionsgerichts nur die gestellten Revisionsanträge unterliegen. Trotz dieses unzweideutigen Wortlauts haben sich die oben in Nr. 2 b angeführten Entscheidungen in Übereinstimmung mit der einhelligen Auffassung des Schrifttums auf den Standpunkt gestellt, daß das Fehlen von Verfahrensvoraussetzungen und das Vorhandensein von Verfahrenshindernissen von Amts wegen zu beachten ist und daß daraus, unabhängig von Anträgen und Rügen des Beschwerdeführers, die gebotene Folgerung zu ziehen ist.
Im Zusammenhang mit § 352 Abs. 1 StPO ist die Bestimmung über den Inhalt der Revisionsrechtfertigung (§ 344 StPO) zu verstehen Durch beide Vorschriften soll erreicht werden, daß das Revisionsgericht nicht genötigt ist, auf jede form- und fristgerecht eingelegte Revision hin das Urteil des Tatrichters auf sachliche Mängel und das gesamte Verfahren auf etwaige Fehler zu untersuchen. Der Beschwerdeführer soll vielmehr dem Revisionsgericht erklären, ob er das ergangene Urteil für sachlich falsch hält oder ob er Verfahrensfehler, und zwar bestimmt bezeichnete Verfahrensverstöße (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), geltend machen will. Soweit er sich durch das Urteil als solches oder durch den Verlauf des Verfahrens nicht beschwert fühlt und das Revisionsgericht nicht auf die seiner Meinung nach vorhandenen Fehler hinweist, ist das Revisionsgericht nicht zu einer Nachprüfung verpflichtet und berechtigt.
Gerade diese Einschränkung des Prüfungsumfanges trifft aber, wie oben schon mehrfach hervorgehoben, für Verfahrensvoraussetzungen und Verfahrenshindernisse nicht zu. Ihr Vorhandensein oder ihr Fehlen ist vielmehr von Amts wegen zu beachten und braucht deshalb vom Beschwerdeführer nicht geltend gemacht zu werden.
§ 344 StPO ist nicht um seiner selbst willen geschaffen worden; er findet seine Rechtfertigung darin, daß er die Pflicht und das Recht des Revisionsgerichts zur Nachprüfung umgrenzen soll. Erkennt man aber - wie es die Rechtsprechung und die Rechtslehre tun - an, daß das Revisionsgericht das Vorhandensein der Verfahrensvoraussetzungen und das Fehlen von Verfahrenshindernissen in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten hat, daß also insoweit eine Rüge des Beschwerdeführers nicht erforderlich ist, so ergibt sich daraus der Schluß, daß diese Prüfung von dem mit der Prüfung der Zulässigkeit einer Revision befaßten Gericht auch dann vorzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer das Urteil des Tatrichters mit der Revision nur rechtzeitig und wirksam angefochten, sein Rechtsmittel aber nicht oder nicht ordnungsgemäß begründet hat.
4. Die Einstellung des Verfahrens wegen eines von Anfang an vorliegenden Verfahrenshindernisses ist somit auch dann geboten, wenn der Beschwerdeführer nur durch rechtzeitige und wirksame Einlegung der Revision den Eintritt der Rechtskraft des Urteils verhindert hat (§ 343 Abs. 1 StPO). Damit wird der schon vom Oberlandesgericht in Neustadt a.a.O. S. 189 zutreffenderweise unter Hinweis auf die Entscheidung des Reichsgerichts RGSt 68, 120 [124] hervorgehobene Grundsatz bestätigt, daß das Revisionsgericht nicht auf die Nachprüfung solcher Rechtsverstöße des Tatrichters beschränkt ist, die er hätte vermeiden können, sondern dafür zu sorgen hat, daß das angegriffene Urteil dem zur Zeit seiner Entscheidung geltenden Recht entspricht.
5. Die abschließende Entscheidung der vom Oberlandesgericht in Hamm in seinem Vorlegungsbeschluß aufgeworfenen, in der Rechtsprechung und im Schrifttum verschieden behandelten Frage, in welchem Zeitpunkt bei einem Beschluß nach § 346 StPO das angefochtene Urteil rechtskräftig wird, ist in der vorliegenden Sache nicht geboten.
Das Oberlandesgericht in Hamm hat sich auf den in der Rechtsprechung (vgl. RGSt 53, 235 [236]; OLG Neustadt GA 1955, 185, 186) und im Schrifttum (so Eb. Schmidt § 349 Anm. 14, § 449 Anm. 12; unklar Löwe/Rosenberg 20. Aufl. § 346 Anm. 5 und 8) überwiegend vertretenen Standpunkt gestellt, daß das angefochtene Urteil zugleich mit dem nach § 346 Abs. 1 StPO erlassenen Beschluß erst Rechtskraft erlangt, wenn der Beschwerdeführer die Frist zur Antragstellung nach § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO ungenutzt verstreichen läßt oder wenn der von ihm gestellte Antrag vom Revisionsgericht verworfen .wird. Aber auch, wenn man mit Schwarz (StPO 22. Aufl. § 346 Anm. 3 und § 450 Anm. 1 B beta), Günther Schwarz (NJW 1954, 122 8) und mit Kleinknecht/Müller (StPO 4. Aufl. § 346 Anm. 7) der Meinung ist, daß schon mit der Verwerfung der Revision durch den Tatrichter nach § 346 Abs. 1 StGB das angefochtene Urteil Rechtskraft erlangt hat, kann sich für die in der gegenwärtigen Vorlegungssache zu entscheidende Hauptfrage nichts anderes ergeben. Denn § 346 Abs. 2 StPO verpflichtet und ermächtigt auf jeden Fall - sollte auch das angefochtene Urteil durch den Verwerfungsbeschluß nach § 346 Abs. 1 StPO bereits rechtskräftig geworden sein - das Revisionsgericht, die Frage der Zulässigkeit der Revision genau so nachzuprüfen und die im Zusammenhang mit dieser Prüfung gebotenen Entscheidungen genau so zu treffen, wie wenn der Beschluß nach § 346 Abs. 1 StPO nicht ergangen wäre.