BGHSt 17, 201 - Grenzen der Sitzungspolizei
Der Vorsitzende darf unter Umständen auch ohne Gerichtsbeschluß kraft eigener Sitzungspolizeigewalt einen Zuhörer aus dem Verhandlungsraum hinausweisen.
Besteht jedoch für seine Maßnahme kein gesetzlicher Grund oder überschreitet er sonst die Grenzen seines Ermessens, so sind die Vorschriften über die Öffentlichkeit verletzt.
GVG § 176; StPO § 338 Nr. 6
1. Strafsenat
 
Urteil
vom 10. April 1962 g.T.
- 1 StR 22/62 -
Schwurgericht Waldshut
 
Aus den Gründen:
Der Angeklagte ist vom Schwurgericht zu einer Zuchthaus strafe verurteilt worden.
Den Vorsitz im Schwurgericht hatte der damalige Landgerichtspräsident. Am zweiten Verhandlungstag wurde Frau Mathilde D. als Zeugin vernommen, die im Lauf ihrer Vernehmung recht erregt wurde und auch in Tränen ausbrach. Während ihrer Vernehmung wurde die Sitzung für kurze Zeit unterbrochen. Ob das geschah, weil das Gericht Rücksicht auf die Zeugin nehmen wollte oder weil der im Sitzungssaal anwesende Sachverständige dringend am Fernsprecher verlangt wurde, konnte der Senat nicht sicher ermitteln. Jedenfalls bemühte sich, als das Gericht vorübergehend den Verhandlungsraum verlassen hatte, der als Zuhörer anwesende Kriminalkommissar Sch. um Frau D., die immer noch weinte. Als das Gericht wieder erschien, legte Sch. einen für den Vorsitzenden bestimmten Zettel auf den Richtertisch. Darin stand, Frau D. sei im Augenblick unwohl. Darauf beruhe vielleicht ihr nervliches Versagen.
Der Vorsitzende, der dieses Verhalten des Kriminalkommissars als Einmischung in seine Verhandlungsleitung empfand, erklärte, er verbitte sich diese Einmischung. Zugleich sagte er nach seiner eigenen Erklärung zu Sch., es wäre ihm, dem Vorsitzenden, angenehm, wenn er gehe; nach der Darstellung des Staatsanwalts forderte der Vorsitzende Sch. auf, den Sitzungssaal zu verlassen. Kommissar Sch. packte seine Akten zusammen und verließ den Verhandlungsraum. Im unmittelbaren Anschluß daran erklärte der Vorsitzende, er möchte hier keine Polizeibeamten sehen, die hier nichts zu suchen hätten. - Aus der schon erwähnten späteren dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden geht hervor, daß er sich bei jener Maßnahme gegen den Zuhörer von dem Gedanken leiten ließ, in Ausübung seiner Sitzungspolizeigewalt zu handeln.
Hierzu ist zu sagen: Sitzungspolizeiliche Maßnahmen des Vorsitzenden als solche können mit der Revision nicht angegriffen werden (vgl. BGH NJW 1957, 271 Nr. 21), wohl aber dann, wenn sie die Verteidigung des Angeklagten unzulässig beschränken, die wahrheitsgemäße Ermittlung des Sachverhalts gefährden oder die Grundsätze über die Öffentlichkeit verletzen (§ 169 GVG). Die Revision macht geltend, das Vorgehen des Vorsitzenden habe die Öffentlichkeit des Verfahrens unzulässig beschränkt. Sie hat recht.
Der Senat hat zwar in BGHSt 3, 386 [388] - insoweit in, Abweichung von RGSt 64, 385 ff. - dahin entschieden, daß in den §§ 170 bis 174, 175 und 177 GVG die Gründe, aus denen einzelnen Personen in der Hauptverhandlung die Anwesenheit untersagt werden dürfe, nicht vollständig aufgeführt seien. Vielmehr sei eine unzulässige Beschränkung der Öffentlichkeit auch dann zu verneinen, wenn ein Zuhörer zum Verlassen des Sitzungssaals veranlaßt werde, weil seine Zeugenvernehmung in Betracht komme (§ 58 Abs. 1 StPO) oder weil gegen ihn wegen derselben Vorgänge, die in der betreffenden Sitzung verhandelt werden, ein Ermittlungsverfahren schwebe.
Um solche verfahrensrechtlichen Besonderheiten hat es sich jedoch hier nicht gehandelt, auch nicht um Verfahrenslagen, wie sie der Bundesgerichtshof in seinen Urteilen vom 17. April 1952 - 4 StR 210/51 (Dallinger MDR 1952,410) und 26. Juni 1959 - 4 StR 66/59 (S. 6) zu entscheiden hatte.
Es geht auch nicht um die Anwendbarkeit und Tragweite des § 175 Abs. 1 GVG. Nach seiner eigenen glaubhaften dienstlichen Erklärung war der Vorsitzende zwar verärgert darüber, daß der Kriminalkommissar, wie schon am Vortage, wieder in sehr leichter Sommerkleidung erschien, auf der Bank der Sachverständigen Platz nahm und in Akten blätterte. Er hat jedoch darin keinen Anlaß zu einem Einschreiten gesehen.
Er wies vielmehr den Kommissar wegen des schon geschilderten Vorfalls mit dem Zettel hinaus. Er traf diese Maßnahmen auf Grund seiner Sitzungspolizeigewalt, wie er sie auffaßte. Ob sich der Vorsitzende innerhalb dieser Grenzen hielt, ist hier zu entscheiden. Nach § 176 GVG obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung dem Vorsitzenden. Dabei ist ihm bezüglich der Art und Weise, wie er diese Ordnung, insbesondere den reibungslosen Verhandlungsablauf wahrt, ein Ermessensspielraum gewährt. Das liegt in der Natur der Sache, geht auch daraus hervor, daß das Gesetz hier (im Gegensatz zu den §§ 175 Abs. 1, 177 und 178 GVG) keine Beispiele nennt (vgl. auch Schäfer bei Löwe/Rosenberg GVG § 176 Anm. 2b). Mit dieser Auffassung stimmt überein, daß nach anerkannter Rechtsmeinung die Sitzungspolizei ein Ausfluß der unabhängigen richterlichen Gewalt ist (Kern, Gerichtsverfassungsrecht 2. Aufl. S.229).Als Ordnungsmaßnahmen im Sinne des § 176 GVG mögen in erster Linie Weisungen, Rügen und die Androhung von Zwangsmaßregeln in Betracht kommen (Kern S. 230, 231). Es lassen sich aber auch krasse Fälle denken, in denen der Vorsitzende einen Zuhörer, der die Sitzungsordnung (z.B. durch drohende Zurufe oder durch Ausschreitungen) tiefgreifend stört, von sich aus auf Grund seiner Sitzungspolizeigewalt (§ 176 GVG) hinausweisen darf Es würde in solchem Fall dem Ansehen der Verhandlungsleitung und einem geordneten Rechtsgang schwer abträglich sein, wenn der Vorsitzende auch bei ganz groben Ordnungsverstößen erst den schwerfälligen Apparat einer Beschlußfassung durch das gesamte Gericht in Gang setzen müßte. Durch die Hinausweisung eines solchen Störers wird die Öffentlichkeit (§ 169 GVG) nicht beeinträchtigt, zumal wenn sich die Maßnahme nur auf einen oder einige wenige Störer bezieht und die Öffentlichkeit im übrigen nicht beschränkt oder beeinträchtigt wird. Die ungehinderte weitere Anwesenheit solcher Friedensstörer hat der Gesetzgeber bei Schaffung der Öffentlichkeitsgarantie nicht vor Augen gehabt.
Indes müssen solche Hinausweisungen bestimmter Zuhörer durch den Vorsitzenden auf ungewöhnliche Lagen beschränkt bleiben, zumal da § 182 GVG für sitzungspolizeiliche Maßnahmen gegen Unbeteiligte keine Protokollierung vorschreibt. Schwerwiegendere und einschneidendere Maßregeln im Rahmen des Vierzehnten Titels ("Öffentlichkeit und Sitzungspolizei") sind nun einmal beim Kollegialgericht in die Hand des Gerichts und nicht in die des Vorsitzenden allein gelegt.
Im hier zu beurteilenden Fall jedenfalls hat der Vorsitzende durch die Hinausweisung des Kommissars die Grenzen des ihm durch § 176 GVG gewährten pflichtmäßigen Ermessens überschritten. Durch die ersichtlich gut gemeinte, unauffällig übermittelte - wenn auch nicht sehr diplomatische - Botschaft des Zuhörers an den in den Saal zurückkehrenden Vorsitzenden wurden weder Würde und Ansehen des Gerichts noch der ordnungsmäßige Gang der Verhandlung beeinträchtigt. Vor allem - und das ist entscheidend - richtete sich die Maßnahme des Vorsitzenden, wie seine abschließende, erregte Äußerung über die Polizeibeamten im allgemeinen erkennen läßt, nicht so sehr gegen die Person des Kommissars als Zuhörer, sondern hatte den Sinn, allen Angehörigen der Kriminalpolizei den Zutritt zur Verhandlung zu verwehren (Art. 3 Abs. 1 GG). Die Reaktion des Vorsitzenden im Verlauf einer schwierigen, spannunggeladenen Hauptverhandlung mag menschlich noch so sehr verständlich sein. Jedenfalls hielt er sich mit seiner vom Unmut beeinflußten Maßnahme nicht mehr innerhalb der ihm durch § 176 GVG verliehenen Befugnisse (vgl. auch RGSt 30, 244; 64, 388, sowie den Kommissionsbericht zum Gerichtsverfassungsgesetz S. 982: "eine vielleicht in der Aufregung getroffene Verfügung", Hahn, Mat. Bd. 1 Abt. 2; ferner: die Protokolle der 2. Lesung, Hahn Bd. 1 Abt. 1 S. 841 - 844).
Somit verletzte die Maßregel des Vorsitzenden, durch die ein Zuhörer, der der Verhandlung weiter beiwohnen wollte, aus dem Verhandlungssaal gewiesen wurde, die Vorschriften über die Öffentlichkeit (§ 169 GVG). Daß andere Zuhörer im Saal blieben, ist angesichts der grundlegenden Bedeutung der Öffentlichkeit (BGHSt 2, 56 [57]) in Fällen der vorliegenden Art unerheblich. Das Urteil gegen den Angeklagten ist daher nach der zwingenden Vorschrift des § 338 Nr. 6 StPO als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen und demnach mit den Feststellungen aufzuheben.