BGHSt 24, 31 - Mofa |
Bei der Prüfung der Frage, ob ein Verkehrsunfall für einen alkoholbedingt fahruntüchtigen Kraftfahrer vermeidbar war, ist nicht darauf abzustellen, ob der Fahrer in nüchternem Zustand den Unfall bei Einhaltung derselben Geschwindigkeit hätte vermeiden können; vielmehr ist zu prüfen, bei welcher geringeren Geschwindigkeit er abgesehen davon, daß er als Fahruntüchtiger überhaupt nicht am Verkehr teilnehmen durfte - noch seiner durch den Alkoholeinfluß herabgesetzten Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit bei Eintritt der kritischen Verkehrslage hätte Rechnung tragen können, und ob es auch bei dieser Geschwindigkeit zu dem Unfall gekommen wäre. |
StGB § 222 |
4. Strafsenat |
Beschluß |
vom 26. November 1970 g.E. |
- 4 StR 26/70 - |
I. Amtsgericht Stuttgart |
II. Landgericht Stuttgart |
III. Oberlandesgericht Stuttgart |
Gründe: |
I. |
Der Angeklagte befuhr am Abend des 15. Oktober 1968 gegen 19.45 Uhr nach erheblichem Alkoholgenuß mit seinem Personenkraftwagen eine autobahnähnlich ausgebaute Bundesstraße mit einer Geschwindigkeit von 100 bis 120 km/h. Sein Blutalkoholgehalt betrug mindestens 1,9 o/oo. Er hielt sich etwa in der Mitte der zweispurigen Fahrbahn und hatte wegen des Gegenverkehrs abgeblendet. Als er wieder aufblendete, bemerkte er etwa 30 bis 50 m vor sich einen in gleicher Richtung fahrenden Zweiradfahrer, der sich vom linken Rand der Oberholspur nach rechts zur Fahrbahnmitte hin bewegte. Trotz scharfen Bremsens des Angeklagten erfaßte sein Wagen das Zweirad (ein Motorfahrrad) und schob es noch 40 bis 50 m vor sich her, ehe er zum Stehen kam. Der Fahrer des Zweirades wurde tödlich verletzt.
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Das Schöffengericht und die Strafkammer haben den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung verurteilt. Die Strafkammer hat gemeint, nicht feststellen zu können, daß der Unfall für einen nüchternen Fahrer bei der gleichen - an sich möglicherweise statthaften - Geschwindigkeit vermeidbar gewesen wäre. Sie hat die Verurteilung des Angeklagten damit begründet, daß er nicht mit einer der alkoholbedingten Beeinträchtigung seiner Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit angepaßten geringeren Geschwindigkeit von höchstens 30 bis 40 km/h gefahren sei, bei der er den Unfall hätte vermeiden können.
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Das zur Entscheidung über die Revision des Angeklagten berufene Oberlandesgericht Stuttgart möchte das Urteil der Strafkammer aufheben und die Sache zur weiteren Aufklärung an das Landgericht zurückverweisen. Nach der Meinung des Oberlandesgerichts hätte die Verurteilung des Angeklagten die Feststellung vorausgesetzt, daß er in nüchternem Zustand bei gleicher Geschwindigkeit den Unfall vermieden hätte. So zu erkennen sieht es sich jedoch durch das Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 1. August 1968 (VRS 36, 276) gehindert. Nach der Ansicht dieses Gerichts ist bei der Frage, ob der Verkehrsunfall eines fahruntüchtigen Fahrers vermeidbar war, nicht darauf abzustellen, ob ein nüchterner Fahrer den Unfall bei der gefahrenen Geschwindigkeit hätte vermeiden können, sondern es ist zu prüfen, welche Geschwindigkeit der Fahrer - abgesehen davon, daß er als Fahruntüchtiger überhaupt nicht hätte fahren dürfen - unter Berücksichtigung seiner Alkoholbeeinflussung und der Verkehrslage höchstens hätte einhalten dürfen, und ob der Unfall bei dieser Geschwindigkeit vermeidbar gewesen wäre. Dieselbe Auffassung wird im Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. Oktober 1964 - 4 StR 297/64 (VerkMitt 1965 S. 25 Nr. 41) vertreten.
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Weil das Oberlandesgericht Stuttgart von dieser Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle abweichen möchte - das Urteil des Bundesgerichtshofs beruht nach seiner Meinung nicht auf der erwähnten Auffassung -, hat es folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
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Ist bei der Prüfung, ob der von einem alkoholbedingt fahruntüchtigen Fahrer herbeigeführte Unfall vermeidbar war, darauf abzustellen, daß derselbe Fahrer in nüchternern Zustand bei gleicher Geschwindigkeit den Unfall hätte verhindern können, oder ist zunächst zu untersuchen, welche (geringere) Geschwindigkeit dieser Fahrer unter Berücksichtigung seiner Alkoholbeeinflussung und der Verkehrsverhältnisse höchstens hätte einhalten dürfen, und ist diese Geschwindigkeit dann zur Prüfung der Vermeidbarkeit heranzuziehen?
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II. |
Die Vorlegung ist nach § 121 Abs. 2 GVG zulässig. Dabei kann dahinstehen, ob das Urteil des Bundesgerichtshofs vorn 2. Oktober 1964 auf der darin zu der Rechtsfrage vertretenen Auffassung beruht. Im Falle des Beruhens ist die Vorlegung im Hinblick auf diese Entscheidung, andernfalls im Hinblick auf das Urteil des Oberlandesgerichts Celle geboten.
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III. |
In der Sache kann sich der Senat dem vorlegenden Oberlandesgericht nicht anschließen. Er hält vielmehr an seiner im Urteil vom 2. Oktober 1964 vertretenen, mit der Meinung des Oberlandesgerichts Celle übereinstimmenden Rechtsansicht fest. Die Erwägungen des vorlegenden Gerichts geben dem Senat keinen Anlaß, von seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. insoweit auch das Urteil vom 19. Mai 1967 in VRS 33, 120) abzuweichen.
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Der ursächliche Zusammenhang zwischen einem verkehrswidrigen Verhalten des Angeklagten und der Tötung des von ihm angefahrenen Zweiradfahrers entfiele nur dann, wenn der gleiche Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten eingetreten wäre oder wenn sich das auf Grund erheblicher Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen ließe (BGHSt 11, 1 [7]; BGH VRS 24, 205; 32, 37; 37, 276, 278). Dabei hat die Prüfung der Ursächlichkeit eines verkehrswidrigen Verhaltens erst mit dem Eintritt der konkreten kritischen Verkehrslage einzusetzen, die unmittelbar zu dem schädlichen Erfolg geführt hat (BGH VRS 20, 129, 131; 23, 369, 370; 24, 124, 126; 25, 262). Bei der Frage nach dem verkehrsgerechten Verhalten des Täters ist von dem wirklichen, nicht von einem nur gedachten Sachverhalt auszugehen (BGHSt 10, 369 [370]; BGH VRS 24, 124; 32, 37; 35, 114, 116). Die Frage, welches Verhalten des Fahrers verkehrsgerecht gewesen wäre, ist demnach im Hinblick auf die Verkehrswidrigkeit zu beantworten, die als unmittelbare Unfallursache in Betracht kommt, während im übrigen von dem tatsächlichen Geschehensablauf auszugehen ist.
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Nach diesen Grundsätzen kann bei der Frage nach der Ursächlichkeit des Verhaltens des Angeklagten für den Tod des Zweiradfahrers nicht darauf abgestellt werden, ob er den Zweiradfahrer auch angefahren hätte, wenn er bei der Einhaltung der für einen nüchternen Fahrer nicht zu beanstandenden Geschwindigkeit von 100 bis 120 km/h selbst nüchtern gewesen wäre. Auszugehen ist vielmehr von der Grundregel des § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO, wonach der Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit so einzurichten hat, daß er jederzeit in der Lage ist, seinen Verpflichtungen im Verkehr Genüge zu leisten, und daß er das Fahrzeug nötigenfalls rechtzeitig anhalten kann. Danach darf der Kraftfahrer auch auf Straßen, die dem Schnellverkehr dienen (Bundesstraßen, Autobahnen), nur so schnell fahren, daß er jederzeit innerhalb der überschaubaren Strecke halten kann (statt vieler BGH VRS 21, 241 und besonders BGHSt 16, 145). Bei der Beurteilung, mit welcher Geschwindigkeit der Angeklagte unmittelbar vor dem Ansichtigwerden des bei dem Zusammenstoß getöteten Zweiradfahrers höchstens fahren durfte, spielt es eine wesentliche Rolle, daß sein Blutalkoholgehalt mindestens 1,9 o/oo betrug. Bei diesem Blutalkoholgehalt, der seine Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit erheblich herabsetzte, durfte er nicht mit einer Geschwindigkeit fahren, die für ihn in nüchternem Zustand noch angemessen gewesen wäre. Er war zwar unbedingt fahruntüchtig und handelte der Vorschrift des § 316 StGB zuwider, wenn er überhaupt am Verkehr teilnahm. Tat er das aber doch, so durfte er die sich schon aus seiner Fahruntüchtigkeit ergebenden abstrakten Gefahren nicht noch dadurch steigern, daß er übermäßig schnell fuhr. Er mußte vielmehr die durch seinen Zustand bedingte erhöhte Vorsicht walten lassen und durfte nur so schnell fahren, daß er auch bei Berücksichtigung seiner durch den erheblichen Alkoholgenuß verminderten Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit seinen Verpflichtungen im Verkehr noch nachkommen konnte.
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Daß der Angeklagte bei einem Blutalkoholgehalt von 1,9 o/oo unbedingt fahruntüchtig war und darum überhaupt nicht am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen durfte (§ 316 StGB), muß bei der Entscheidung über die Ursächlichkeit seines tatsächlichen Fahrverhaltens für den Tod des Zweiradfahrers außer Betracht bleiben. Die wegen persönlicher Mängel unzulässige Teilnahme am Verkehr kann nicht anders beurteilt werden als die unzulässige Teilnahme daran mit einem wegen mangelhafter Bremsen oder abgefahrener Reifen verkehrsuntüchtigen Fahrzeug (§§ 36, 41 StVZO). Darauf weist das vorlegende Oberlandesgericht zwar zutreffend hin, läßt dabei aber die insoweit feststehende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH VRS 32, 37 und 37, 276, 278 betr. abgefahrene Reifen) außer acht. Wer entgegen einer in seiner Person (alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit) oder durch sein Fahrzeug (mangelhafte Bremsen oder Reifen) begründeten Unzulässigkeit der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr trotzdem an diesem teilnimmt, ist der wegen dieser persönlichen oder sachlichen Mängel gesteigerten Pflicht zu besonderer Vorsicht unterworfen. Kommt es zu einem Verkehrsunfall, so ist er dafür nicht schon wegen der unzulässigen Teilnahme am Straßenverkehr verantwortlich, sondern nur, wenn und soweit er in seiner Fahrweise seinen persönlichen Mängeln oder den Mängeln des Fahrzeugs nicht Rechnung trägt und dadurch einen Unfall herbeiführt. Das pflichtwidrige Fahren in fahruntüchtigem Zustand oder mit einem verkehrsuntüchtigen Fahrzeug allein kann also nicht für einen Unfall ursächlich sein. Ursache eines Unfalls kann auch in einem solchen Falle nur ein dem Zustand des Fahrers oder des Fahrzeugs nicht entsprechendes Fahren sein. Es ist somit unrichtig, wenn das vorlegende Oberlandesgericht die Pflichtwidrigkeit des Angeklagten allein in der Teilnahme am Straßenverkehr im Zustand der Fahruntüchtigkeit sieht und diese dem Fahren im nüchternen Zustand mit derselben Geschwindigkeit gegenüberstellt.
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Fehl geht auch die Erwägung des Bayerischen Obersten Landesgerichts in einer von Mühlhaus (DAR 1970, 125, 127) angeführten unveröffentlichten Entscheidung vom 12. Mai 1965, es lasse sich "ohne Willkür keine Geschwindigkeit feststellen, die im Rahmen der Ursächlichkeitsprüfung der tatsächlich gefahrenen als noch erlaubt gegenübergestellt werden könnte". In welchem Maße die Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit des unter Alkoholeinfluß stehenden Fahrers herabgesetzt ist und welche - verminderte - Geschwindigkeit dieser herabgesetzten Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit entspricht, läßt sich - erforderlichenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen - ermitteln. Damit wird keine "erlaubte" Geschwindigkeit festgestellt, sondern nur die der verminderten Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit tatsächlich entsprechende Geschwindigkeit. In seiner Kritik an der Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle (DAR 1970, 125, 127) übersieht Mühlhaus, der sich im übrigen mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht auseinandersetzt, daß gerade die Nichteinhaltung dieser Geschwindigkeit die als unmittelbare Unfallursache in Betracht kommende Verkehrswidrigkeit war.
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Das vorlegende Oberlandesgericht weist darauf hin, daß ein Kraftfahrer, der unter Alkoholeinfluß steht und darum bewußt langsamer fährt, als er in nüchternem Zustand fahren dürfte, aber trotzdem wegen seiner herabgesetzten Reaktionsfähigkeit einen Unfall verursacht, nicht damit gehört würde, er sei doch gerade wegen seiner Trunkenheit langsamer gefahren. Diese Erwägung trifft zwar zu, ergibt aber für den zur Entscheidung stehenden Fall nichts. Wenn ein angetrunkener Fahrer auch bei verlangsamter Geschwindigkeit wegen seiner alkoholbedingt beeinträchtigten Reaktionsfähigkeit einen Unfall verursacht, so folgt daraus nur, daß er bei seinem Zustand er noch zu schnell gefahren ist.
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Auch wenn an einer schuldhaften Verkehrswidrigkeit und an ihrer Ursächlichkeit für den tödlichen Erfolg kein begründeter Zweifel möglich ist, so ist eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung dennoch immer nur unter der weiteren Voraussetzung begründet, daß der Täter den Unfall voraussehen kann (BGHSt 10, 369 [371]). Dagegen, daß dies in dem Vorlegungsfall zutrifft, bestehen zwar keine Bedenken; in anderen Fällen kann aber eine eingehende Prüfung und Erörterung nach dieser Richtung hin geboten sein.
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