BGHSt 36, 119 - Verbotene Rundfunkaufnahmen |
Ein Verstoß gegen § 169 Satz 2 GVG bildet keinen absoluten, sondern nur einen relativen Revisionsgrund i.S.v. § 337 Abs. 1 StPO. |
StPO § 337 Abs. 1, § 338 Nr. 6; GVG § 169 Satz 2 |
2. Strafsenat |
Urteil |
vom 17. Februar 1989 g.W. |
- 2 StR 402/88 - |
Landgericht Fulda |
Aus den Gründen: |
Der gerügte Verfahrensfehler liegt allerdings vor. Denn das Landgericht hat, als es am 21. April 1987 mehrere Örtlichkeiten in Augenschein nahm, nicht verhindert, daß an vier dieser Örtlichkeiten Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen während der Hauptverhandlung gefertigt wurden. Der Verstoß gegen § 169 Satz 2 GVG ist jedoch nur ein relativer Revisionsgrund, und im vorliegenden Fall beruht das Urteil nicht auf dem Verfahrensfehler.
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1. Die Frage, ob ein Verstoß gegen § 169 Satz 2 GVG einen absoluten oder nur einen relativen Revisionsgrund bildet, ist von der Rechtsprechung bisher nicht entschieden worden (vgl. BGHSt 22, 83; 23, 176 [181 f.]); im Schrifttum ist sie umstritten (für absoluten Revisionsgrund: Eb. Schmidt NJW 1968, 804 Anm. zu BGHSt 22, 83; ders., "Justiz und Publizistik", Heft 353/354 der Reihe "Recht und Staat" insbes. S. 38 ff.; Roxin JZ 1968, 803 - Anm. zu BGHSt 22, 83; ders. in Festschrift für Karl Peters (1974) S. 393, 402 ff.; Kissel, GVG § 169 Rn. 69; Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 338 Rn. 106;
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für relativen Revisionsgrund: Kleinknecht/Meyer, StPO 38. Aufl. § 338 Rn. 47; Meyer in Löwe/Rosenberg, StPO 23. Aufl. § 338 Rn. 97 f.; Schäfer in Löwe/Rosenberg, 23. Aufl., § 169 GVG Rn. 28; KMR 7. Aufl. Ergänzungsband GVG § 169 Rn. 18, 20; Paulus in KMR 7 Aufl. § 338 Rn. 73; Pikart in KK 2. Aufl. § 338 Rn. 84;
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unentschieden: Mayr in KK 2. Aufl. § 169 GVG Rn. 13; Peters, Der neue Strafprozeß 1975 S. 71; Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen 5. Aufl. Rn. 219).
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Für die Auffassung, daß eine Verletzung des 5 169 Satz 2 GVG lediglich ein relativer Revisionsgrund ist, sprechen insbesondere folgende Gesichtspunkte:
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Der Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens bedeutet, daß im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten jedermann die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen der Gerichte als Zuhörer und Zuschauer teilzunehmen (vgl. z.B. BGHSt 27, 13 [14]; Kissel, GVG § 169 Rn. 21). Mit dem Begriff "Öffentlichkeit" ist im Gerichtsverfassungsgesetz und dementsprechend in § 338 Nr. 6 StPO nur diese "unmittelbare Öffentlichkeit" gemeint. Er betrifft nicht die sogenannte "mittelbare" oder "erweiterte" Öffentlichkeit, die außerhalb des Gerichtssaals mit Hilfe der Berichterstattung den Gang der Verhandlung verfolgen kann. Er besagt auch nichts zu Fragen, die die Berichterstattung selbst betreffen (vgl. Kissel a.a.O. Rn. 3 m.w.N.). Diesen Inhalt hatte der Begriff auch zur Zeit der Einfügung des § 169 Satz 2 GVG im Jahre 1964 (vgl. BGHSt 10, 202 [205 f.] unter Hinweis auf Eb. Schmidt JZ 1956, 206, 210).
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Überdies wird und wurde seit jeher § 338 Nr. 6 StPO in feststehender Rechtsprechung dahin verstanden, daß eine Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit und damit ein absoluter Revisionsgrund nur in der gesetzwidrigen Beschränkung der Öffentlichkeit zu sehen ist, nicht aber dann, wenn die Öffentlichkeit zugelassen wird, obwohl ihr Ausschluß gesetzlich erlaubt oder gar zwingend vorgeschrieben war (RGSt 3, 295; RGRspr. 1, 652; 4,286; RG HRR 1939 Nr. 278; RGSt 77,186; OGHSt 2, 337; BGH NJW 1952, 153; BGH GA 1953, 83; BGHSt 23, 82; 23, 176 [178]).
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Roxin (JZ 1968, 803, 805) und Peters (Der neue Strafprozeß S. 71) ist darin zuzustimmen, daß eine auf Grund neuerer Entwicklung geschaffene Vorschrift über die Regelung, in die sie eingefügt wurde, hinausgreifen, die Regelung erweitern kann. Eine solche Annahme läßt sich aber, wie beide Autoren nicht verkennen, nur dort rechtfertigen, wo eine dahingehende gesetzgeberische Intention erkennbar ist und wo Wertigkeit und Bedeutung des neuen Grundsatzes denen der vorhandenen Regelung entsprechen. An beiden Voraussetzungen fehlt es bei der Vorschrift des § 169 Satz 2 GVG.
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Ihr Standort besagt nichts im Sinne der erwähnten Intention. Er ergab sich nahezu zwangsläufig, weil die neue Regelung für die in § 169 Satz 1 GVG genannte Verhandlung gilt. Auch dem Gang der Gesetzgebung läßt sich nichts für die Absicht entnehmen, der neuen Vorschrift eine dem Öffentlichkeitsgebot des Satzes 1 vergleichbare Bedeutung beizulegen. Der in BTDrucks. IV/178 wiedergegebene Gesetzentwurf hatte noch vorgesehen, Rundfunk-, Fernseh- und Filmaufnahmen lediglich für den Gang der Hauptverhandlung uneingeschränkt zu untersagen, für die Urteilsverkündung aber dem Vorsitzenden aus wichtigem Grund die Zulassung zu gestatten. In der Begründung des Entwurfs wird ausgeführt:
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"Rundfunk- und Filmaufnahmen im Gerichtssaal gehen über die in § 169 GVG gewährleistete Öffentlichkeit der Hauptverhandlung weit hinaus und gefährden nicht nur die Wahrheitsfindung im Strafverfahren, sondern beeinträchtigen auch die Verteidigung des Angeklagten. ... Den noch nicht verurteilten Angeklagten zerren sie in einer oft unerträglichen Weise in das Scheinwerferlicht einer weiteren Öffentlichkeit".
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Damit hat der Entwurf unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Entscheidungen BGHSt 10, 202 und BGH NJW 1961,1781 (= BGHSt 16, 111) Erwägungen übernommen, die sich bereits dort finden. Aus dieser Begründung des Entwurfs ergibt sich auch, daß sich der Gesetzgeber des oben dargestellten Inhalts des Öffentlichkeitsbegriffs bewußt war. Eine Aussage, daran etwas ändern zu wollen, fehlt.
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Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages (BTDrucks. IV/1020 S. 34 und zu Drucks. IV/1020 S. 178) schlug die jetzt geltende Fassung vor. Er hielt es - unter Hinweis auf die Möglichkeit der Verletzung der Menschenwürde und die Gefahr für die Wahrheitsfindung - für "angebracht, daß das Gesetz selbst über die Zulassung einer durch den Rundfunk, das Fernsehen und öffentliche Filmvorführungen erweiterten Öffentlichkeit entscheidet und daß es sich in dieser Entscheidung gegen die Zulassung ausspricht" (vgl. dazu auch BGHSt 23, 123 [124 f.]). Ebenso wie im Rechtsausschuß war die vorgesehene Neuregelung auch noch in der zweiten Beratung des Deutschen Bundestages umstritten; eine Minderheit hielt die Vorschrift für nicht notwendig (Protokoll über die 69. Sitzung des 4. Deutschen Bundestages vom 27. März 1963, Sten. Ber. S. 3145 bis 3151).
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Das in § 169 Satz 2 GVG ausgesprochene Verbot ist auch von seiner Bedeutung her nicht mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz des § 169 Satz 1 GVG vergleichbar. Er soll nach heutigem Verständnis verhindern, daß die "Tätigkeit des Gerichts hinter verschlossenen Türen in ein Dunkel gehüllt und dadurch Mißdeutungen und Argwohn ausgesetzt" ist (RGSt 70, 109 [112]); er soll eine "unparteiische und gesetzmäßige Strafrechtspflege gewährleisten" (BGH GA 1953, 83, 84). Mit dieser "überragenden Bedeutung ... für die Rechtspflege im ganzen" (BGHSt 9, 280 [281]) ist das Öffentlichkeitsgebot eine "grundlegende Einrichtung des Rechtsstaats" (BGHSt 23, 176 [178 f.]), zu deren Schutz der Gesetzgeber für jeden Fall einer gesetzwidrigen Beschränkung die Handhabe für die Beseitigung des Urteils, unabhängig davon, ob es auf dem Verfahrensfehler beruht, gegeben hat.
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Eine solche Tragweite hat § 169 Satz 2 GVG nicht. Die Vorschrift untersagt zwei von mehreren Formen der Berichterstattung für die Öffentlichkeit außerhalb des Gerichtssaals, weil durch sie Wahrheitsfindung und Verteidigungsinteresse beeinträchtigt werden können. Der hohe Wert dieser "Rechtsgüter" steht außer Frage. Jedoch bezweckt auch eine Vielzahl anderer Vorschriften ihren Schutz - es sei lediglich auf § 136 a StPO sowie auf die Vorschriften über die Beweisaufnahme hingewiesen -, in deren Verletzung das Gesetz trotzdem nur einen relativen Revisionsgrund sieht. Daß ein Verstoß gegen § 169 Satz 2 GVG weitergehende Gefahren begründet, ist nicht zu ersehen.
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2. Im vorliegenden Fall ist das Beruhen des Urteils auf dem Gesetzesverstoß auszuschließen. Die am 21. April 1987 an vier Örtlichkeiten fehlerhaft durchgeführte Beweisaufnahme wurde in Anwesenheit derselben Sachverständigen am 31. August 1987 an drei dieser Örtlichkeiten rechtsfehlerfrei - wenn auch nicht zum Zwecke der Heilung - wiederholt. Dabei entsprachen die äußeren Bedingungen (Jahreszeit, Pflanzenaufwuchs) den Verhältnissen zur Tatzeit besser als beim ersten Augenscheinstermin. Die vierte Örtlichkeit und die dort am 21. April 1987 durchgeführte Beweisaufnahme haben für das Urteil keinerlei Bedeutung erlangt.
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Es spricht alles dafür, daß die erneute Beweisaufnahme eine wesentlich bessere Sachaufklärung gebracht hat als die erste; auch fehlt jeder Anhaltspunkt für die Annahme, daß der am 21. April 1987 begangene Verfahrensfehler, wenn er an diesem Tag die Wahrheitsfindung oder die Verteidigung beeinträchtigt haben sollte, über den 31. August 1987 hinaus - und gar während der weiteren 17 Verhandlungstage bis zur Urteilsverkündung - fortgewirkt haben könnte. Auch die Revision hat dafür nichts vorgebracht. Nur denkbare Möglichkeiten, für die es keine Anhaltspunkte gibt, vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern.
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