BVerfGE 2, 380 - Haftentschädigung
1. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG ist unabhängig davon, ob auch das Verfassungsgericht eines Landes die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Normen der Landesverfassung zu prüfen hat, die mit Normen des Grundgesetzes inhaltsgleich sind.
2. Für die Zulässigkeit des Vorlagebeschlusses genügt es, daß nach Ansicht des vorlegenden Gerichts der beschrittene Rechtsweg zulässig und daß diese Ansicht des Gerichts nicht offensichtlich unhaltbar ist.
3. "Eigentum" im Sinne des Art. 14 GG umfaßt grundsätzlich nicht vermögenswerte Rechte des öffentlichen Rechts, jedenfalls nicht Ansprüche, die der Staat in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht den Bürgern durch Gesetz einräumt.
4. Das Verfassungsrecht besteht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung, sondern auch aus gewissen sie verbindenden, innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat.
5. Zu den Leitideen des Grundgesetzes, die auch den Landesgesetzgeber unmittelbar binden, gehört das Rechtsstaatsprinzip.
6. Das Rechtsstaatsprinzip enthält als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung der Rechtssicherheit; diese verlangt nicht nur einen geregelten Verlauf des Rechtsfindungsverfahrens, sondern auch einen Abschluß, dessen Rechtsbeständigkeit gesichert ist.
7. Mit der Gewährleistung der Rechtssicherheit ist es unverträglich, daß Akte der Staatsgewalt, die wie die Haftentschädigungsbeschlüsse in Nordrhein-Westfalen auf Grund eines gültigen Gesetzes in einem gerichtsähnlichen Verfahren zustandegekommen sind, an dem der Staat und der Einzelne als Parteien beteiligt waren, und die dem Einzelnen auf Grund eines abgeschlossenen Tatbestandes vorbehaltlos eine bestimmte Rechtsposition verliehen haben, nur wegen eines Wandels der Rechtsauffassung wieder beseitigt werden.
 
Urteil
des Ersten Senats vom 1. Juli 1953
-- 1 BvL 23/51 --
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des Landesgesetzes von Nordrhein-Westfalen über das Beanstandungsrecht in Haftentschädigungssachen vom 3. August 1951 - GVBl. S. 105 - auf Antrag des Landgerichts in Düsseldorf in dem Zivilprozeß des Adolf W. gegen das Land Nordrhein-Westfalen - 2 P 6/51 -.
Entscheidungsformel:
Das Landesgesetz von Nordrhein-Westfalen über das Beanstandungsrecht in Haftentschädigungssachen vom 3. August 1951 - GVBl. S. 105 - ist nichtig.
 
Gründe:
 
A. -- I.
Die Haftentschädigung beruht in Nordrhein-Westfalen auf dem Gesetz über die Entschädigung für Freiheitsentziehung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen vom 11. Februar 1949 (GVBl. S. 63) - Haftentschädigungsgesetz -. Nach diesem Gesetz ist entschädigungsberechtigt, wer
    1. in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 wegen seiner politischen Überzeugung, seiner Rasse, seines Glaubens oder seiner Weltanschauung länger als sechs Monate der Freiheit beraubt wurde und
    2. deswegen in einem besonderen Verfahren als politisch, rassisch oder religiös Verfolgter anerkannt ist, sofern er
    3. am 1. Januar 1948 seinen ständigen Wohnsitz im Land Nordrhein- Westfalen hatte oder sofern er als Emigrant oder Flüchtling dort wohnberechtigt ist.
Die Entschädigung stellt einen Ausgleich nur für die erlittene Freiheitsentziehung dar und beträgt 150 DM für jeden Monat.
Zum Erlaß der Durchführungsvorschriften zu diesem Gesetz wurden der Innenminister und, soweit erforderlich, die Landesregierung im Einvernehmen mit dem zuständigen Ausschuß des Landtages ermächtigt (§ 8 des Haftentschädigungsgesetzes). Von der Ermächtigung hat der Innenminister - mit Zustimmung des Sonderausschusses des Landtages - in der Ersten Durchführungsverordnung vom 12. Mai 1949 (GVBl. S. 97) Gebrauch gemacht. In dieser Verordnung hat er - neben anderen, hier nicht interessierenden Bestimmungen - Organisationsanordnungen getroffen und das bei der Behandlung der Haftentschädigungsansprüche zu beobachtende Verfahren geregelt. Danach entscheidet über den Antrag auf Entschädigung in erster Instanz der Entschädigungsausschuß, in der Beschwerdeinstanz die Kammer für Haftentschädigung. Entschädigungsausschüsse wurden in jedem Kreis, büromäßig bei der "Geschäftsstelle für Wiedergutmachung", gebildet; die Kammer für Haftentschädigung wurde beim Innenministerium eingerichtet. Ausschüsse und Kammer sind nicht weisungsgebunden; ihre Mitglieder werden auf Vorschlag der politischen Parteien vom Innenminister ernannt; der Vorsitzende wird von den Mitgliedern der Ausschüsse und der Kammer aus ihrer Mitte gewählt. Das Verfahren vor den Ausschüssen und der Kammer ist weitgehend dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren angeglichen. Die Entscheidungen ergehen auf Grund mündlicher Verhandlung durch einen mit Gründen und Rechtsmittelbelehrung zu versehenden Beschluß. Vertreter des Landesinteresses ist der Leiter des Amtes für Wiedergutmachung. Er hat in dem Verfahren vor den Ausschüssen und der Kammer dieselben Rechte und Pflichten wie der Antragsteller, kann also auch die Entscheidungen der Entschädigungsausschüsse mit der Beschwerde zur Haftentschädigungskammer anfechten.
Von besonderer Bedeutung für das vorliegende Verfahren sind die §§ 13 und 15 der Ersten Durchführungsverordnung. Sie lauten:
    § 13
    Die Beschlüsse des Entschädigungsausschusses sind, sobald die Entscheidung rechtskräftig ist, von dem "Amt für Wiedergutmachung" mit der Bescheinigung der Rechtskraft zu versehen. Eine Rechtskraftbescheinigung darf erst erteilt werden, wenn die Kammer für Haftentschädigung schriftlich mitgeteilt hat, daß eine Beschwerdeschrift innerhalb der im § 10 dieser Verordnung vorgesehenen Frist bei ihr nicht eingegangen ist. Soweit es sich um Entscheidungen der Kammer für Haftentschädigung handelt, darf diese Bescheinigung erst erteilt werden, nachdem die Frist zur Erhebung der Klage im Verwaltungsstreitverfahren abgelaufen ist.
    § 15
    Die Auszahlung der Entschädigung erfolgt nach Vorlage der mit der Bescheinigung der Rechtskraft versehenen Entscheidung durch den Innenminister.
Die in § 13 erwähnte Anfechtungsklage im verwaltungsgerichtlichen Verfahren steht nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Münster nicht nur dem Antragsteller offen, sondern auch dem - von dem Innenminister vertretenen - Land als dem betroffenen Vermögensträger, während für eine Teilnahme des "Vertreters des Landesinteresses" an dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren kein Raum ist (OVG Münster, Urt. vom 28. November 1952 - VI A 480/52 -).
Unter den Entschädigungsberechtigten war die Auffassung verbreitet, daß ein mit der Rechtskraftbescheinigung versehener Beschluß einen Titel darstelle, der den Innenminister unbedingt und endgültig zur Zahlung verpflichte. Der Innenminister hingegen lehnte trotz des Rechtskraftzeugnisses die Auszahlung ab, wenn nach seiner Auffassung die Voraussetzungen des Gesetzes für die Gewährung der Haftentschädigung nicht erfüllt waren.
Am 3. August 1951 erging das hier zu prüfende Gesetz über das Beanstandungsrecht in Haftentschädigungssachen (GVBl. S. 105) - Beanstandungsgesetz -, das den Innenminister ermächtigt, die mit Bescheinigung der Rechtskraft versehenen Beschlüsse durch die Kammer für Haftentschädigung nochmals nachprüfen zu lassen. Das Gesetz hat folgenden Wortlaut:
    § 1
    (1) Der Innenminister wird ermächtigt, Beschlüsse in Haftentschädigungssachen, die bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes mit der Bescheinigung der Rechtskraft nach § 13 der ersten Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Entschädigung für Freiheitsentziehung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen vom 11. Februar 1949 (GV NW S. 63) vom 12. Mai 1949 (GV NW S. 97) versehen worden sind, innerhalb eines Jahres seit Inkrafttreten dieses Gesetzes zu beanstanden, wenn sie nach seiner pflichtgemäßen Überzeugung zu Unrecht eine Haftentschädigungssumme festgesetzt oder versagt haben. Diese Befugnis soll insbesondere dann ausgeübt werden, wenn der Beschluß durch unrichtige Angaben oder Beweismittel herbeigeführt worden ist oder die Rechtsanwendung zu schwerwiegenden Bedenken Anlaß gibt.
    (2) Dies gilt nicht, soweit vor Inkrafttreten dieses Gesetzes eine rechtskräftige Entscheidung eines ordentlichen Gerichts oder Verwaltungsgerichts ergangen ist.
    § 2
    (1) Die Beanstandung erfolgt durch Erklärung gegenüber derjenigen Stelle, die den beanstandeten Beschluß erlassen hat. Sie muß den angefochtenen Beschluß bezeichnen und einen bestimmten zu begründenden Antrag enthalten.
    (2) Die Beanstandung hat aufschiebende Wirkung.
    (3) Eine Beanstandung durch den Innenminister kann in derselben Sache nur einmal erfolgen.
    § 3
    (1) Über die Beanstandung entscheidet in allen Fällen die Kammer für Haftentschädigung. Sie hat die Beanstandung dem Anspruchsberechtigten zuzustellen.
    (2) Auf das Verfahren finden im übrigen die Vorschriften der ersten Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Entschädigung für Freiheitsentziehung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen vom 11. Februar 1949 (GV NW S. 63) vom 12. Mai 1949 (GV NW S. 97) in der jeweils geltenden Fassung Anwendung.
    § 4
    Dieses Gesetz tritt mit dem auf seine Verkündung folgenden Tag in Kraft.
II.
1. Der Haftentschädigungsausschuß der Stadt Wuppertal hat dem Kläger W. durch Beschluß vom 14. Februar 1951 eine Haftentschädigung von 3600 DM zugesprochen. Dieser Beschluß ist gemäß der Durchführungsverordnung mit "Rechtskraftbescheinigung" versehen und dem Innenminister zur Zahlung vorgelegt worden. Da der Innenminister die Auszahlung verweigerte, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 10. April 1951 bei dem Landgericht Düsseldorf gegen das Land Nordrhein-Westfalen Klage auf Auszahlung der Entschädigungssumme erhoben. Am 11. September 1951 wurde der zugunsten des Klägers W. ergangene Haftentschädigungsbeschluß vom Innenminister beanstandet.
Das Landgericht hat das Verfahren durch Beschluß vom 19. Oktober 1951 gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und die Akten sowohl dem Bundesverfassungsgericht als auch dem damals für das Land Nordrhein-Westfalen als Verfassungsgericht zuständigen Oberverwaltungsgericht Münster zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Beanstandungsgesetzes vorgelegt. Das Landgericht ist der Auffassung, das Beanstandungsgesetz sei wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 u. Art. 14 Abs. 3 GG sowie gegen Art. 4 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen verfassungswidrig. Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt, weil durch das Beanstandungsgesetz nur ein Teil der Entschädigungsberechtigten der Vorteile der rechtskräftigen Entscheidung verlustig gehe, ein anderer Teil sie behalte. Die Verletzung des Art. 14 Abs. 3 GG wird darin erblickt, daß mit der Beanstandung ein Einzeleingriff in das durch die rechtskräftige Entscheidung zum "Vollrecht" erstarkte Recht auf Entschädigung erfolge. Bestehe diese Ansicht zu Recht, so könne sich das beklagte Land auf die Beanstandung nicht berufen, so daß der Klage stattzugeben wäre, während sie andernfalls abgewiesen werden müsse.
Das Oberverwaltungsgericht Münster hat den Antrag des Landgerichts Düsseldorf durch rechtskräftigen Vorbescheid des Vorsitzenden des V. Senats vom 13. Dezember 1951 - V E 38/51 - mit der Begründung abgewiesen, daß das Verfassungsgericht des Landes keine Gerichtsbarkeit habe, wenn - wie im Streitfall - die zu prüfenden bundesrechtlichen und landesrechtlichen Normen inhaltlich identisch seien.
2. Das Bundesverfassungsgericht hat gemäß §§ 82, 77 BVerfGG dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, dem Landtag und der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie den Parteien des Zivilprozesses Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Nur der Kläger W. und die Regierung des Landes haben hiervon Gebrauch gemacht; die Landesregierung jedoch, ohne dem Verfahren beizutreten.
In der mündlichen Verhandlung waren die Landesregierung und der Kläger vertreten.
Der Kläger hat sich der Rechtsansicht des Landgerichts angeschlossen und ferner vorgetragen:
Er halte das Beanstandungsgesetz nicht deshalb für nichtig, weil es in einer Art Wiederaufnahmeverfahren die Aufhebung der Haftentschädigungsbeschlüsse für solche Fälle vorsehe, in denen ein auch im Zivilprozeß anerkannter Wiederaufnahmegrund vorliege, insbesondere wenn ein Beschluß "durch unrichtige Angaben oder Beweismittel" herbeigeführt worden sei. Als verfassungswidrig jedoch sehe er es an, daß das Beanstandungsgesetz darüber hinaus die Aufhebung eines Beschlusses zuungunsten des Antragstellers auch dann ermögliche, wenn sich seit Erlaß des angegriffenen Beschlusses nur die Auslegung gewisser unbestimmter Rechtsbegriffe, wie z. B. "illegales Leben", "Zwangsarbeitslager", "Freiheitsentziehung", "deutscher Machtbereich" gewandelt habe. Gerade um dieser Ausweitung der allgemein anerkannten Wiederaufnahmegründe willen aber sei das Beanstandungsgesetz geschaffen, und es sei fast ausschließlich in diesem Sinne angewendet worden. Das treffe auch für ihn zu: Das Haftentschädigungsgesetz werde durch Abschnitt 3 der Ersten Durchführungsverordnung dahin interpretiert, daß es Entschädigung nur für Freiheitsentziehungen gewähre, die im deutschen Machtbereich vollzogen seien. Er sei am 5. November 1942 zu der "Strafeinheit 999" eingezogen worden und am 13. Mai 1943 als Angehöriger dieser Einheit in Gefangenschaft geraten. Für die Zeit vom 5. November 1942 bis zum 13. Mai 1943 sei sein Recht auf Haftentschädigung offenkundig. Hingegen hätten für die spätere Zeit zunächst Bedenken wegen der Auslegung des Begriffs "deutscher Machtbereich" bestanden. In einer grundsätzlichen Entscheidung vom 11. Januar 1950 - V/1 - 4 c Wa-T-Nr. 29 - habe die Kammer für Haftentschädigung jedoch ausgesprochen, daß Freiheitsentziehung im deutschen Machtbereich im Sinne des Haftentschädigungsgesetzes auch nach der Gefangennahme einer Strafeinheit durch die Alliierten anzuerkennen sei, wenn und solange in den Gefangenenlagern "aus fanatischen Nationalsozialisten zusammengesetzte Rollkommandos ihre Gewalttätigkeiten ziemlich ungehindert fortsetzen konnten". Auf diese Entscheidung gestützt, habe ihm der Haftentschädigungsausschuß nach wiederholter Verhandlung gerade über die bezeichnete Auslegungsfrage Haftentschädigung auch für die Zeit vom 13. Mai 1943 bis zum 8. Mai 1945 zugesprochen, und dieser Beschluß sei am 19. Februar 1951 mit Rechtskraftattest versehen worden. Sieben Monate später, am 11. September 1951, habe dann der Innenminister den Beschluß beanstandet und die Beanstandung nur darauf gestützt, daß eine Freiheitsentziehung nach der Gefangennahme durch die Alliierten nicht mehr innerhalb des "deutschen Machtbereichs" gelegen habe.
Die Regierung von Nordrhein-Westfalen hat zunächst darauf hingewiesen, daß der Haftentschädigungsanspruch öffentlich-rechtlicher Natur sei, auch durch die "Rechtskraftbescheinigung" nicht zum privatrechtlichen werde, so daß das Landgericht Düsseldorf zur Entscheidung des Rechtsstreits nicht zuständig der Vorlagebeschluß infolgedessen unzulässig sei. In der Sache selbst ist die Landesregierung der Rechtsansicht des Landgerichts und des Klägers W. entgegengetreten. Sie hat jedoch die Darstellung seines eigenen Falles nicht bestritten und hat eingeräumt, daß das Beanstandungsgesetz in dem von ihm behaupteten Sinne zu verstehen sei und angewendet werde.
 
B. -- I.
1. Für die Zulässigkeit der Vorlage ist es ohne Belang, ob etwa wegen der inhaltlichen Identität der maßgebenden Normen von Landesverfassung und Grundgesetz neben der Prüfungszuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts auch eine Prüfungszuständigkeit des Verfassungsgerichts des Landes bestanden hätte. Abgesehen davon, daß das Verfassungsgericht des Landes seine Zuständigkeit verneint hat, ist die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG unabhängig davon gegeben, ob daneben für inhaltsgleiche Normen der Landesverfassung ein anderes Gericht Prüfungszuständigkeit besitzt.
2. Ohne Belang für die Zulässigkeit des Vorlagebeschlusses ist es auch, ob nach richtiger Ansicht das vorlegende Gericht zur Sachentscheidung über den vorgelegten Rechtsstreit berufen und seine Entscheidung materiell von der Gültigkeit des vorgelegten Gesetzes abhängig ist. Es genügt vielmehr in der Regel, daß beides nach der - nicht offensichtlich unhaltbaren - Ansicht des vorlegenden Gerichts zu bejahen ist. Für die Entscheidungserheblichkeit eines zu prüfenden Gesetzes hat das Bundesverfassungsgericht das in seinem Urteil vom 18. März 1953 - 1 BvL 11/51 begründet. Für die Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweges folgt das gleiche aus dem dort ausgesprochenen Grundgedanken, daß der vorlegende Richter ohne die von ihm als notwendig angesehene Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Entscheidung in seinem Verfahren nicht fällen könnte.
Das Landgericht hat zwar ausdrücklich weder zu der Frage Stellung genommen, ob nicht auch ohne das Beanstandungsgesetz eine mit dem Rechtskraftzeugnis versehene Entscheidung im Haftentschädigungsverfahren wegen eines Wandels in der Gesetzesauslegung hätte abgeändert werden können, noch zu der Frage, ob bei Zahlungsverweigerung des Landes der ordentliche Rechtsweg gegeben ist. Doch folgt sinngemäß aus der Vorlage, daß das Landgericht die erste Frage verneint, weil es dem "Rechtskraftattest" eine materielle Bedeutung beimißt, und daß es die zweite bejaht. Beide Ansichten sind vertretbar. Für die Bedeutung des "Rechtskraftattestes" gibt sich das aus der materiellen Prüfung der Vorlage.
Was die Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweges anlangt, so betrachtet das Landgericht den Prozeß offenbar als "bürgerliche Rechtsstreitigkeit" im Sinne des § 13 GVG. Dem steht nicht entgegen, daß es die Klageforderung in anderem Zusammenhang als öffentlich-rechtlichen Anspruch bezeichnet; denn der prozeßrechtliche Begriff der "bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten" im Sinne des § 13 GVG ist nicht gleichbedeutend mit "Streitigkeiten aus privaten Rechtsverhältnissen", umfaßt vielmehr kraft Herkommens auch verschiedene Gruppen von Streitigkeiten über Ansprüche des öffentlichen Rechts. Bei der umfangreichen und uneinheitlichen Rechtsprechung zu § 13 GVG und der gerade in jüngster Zeit lebhaften wissenschaftlichen Kontroverse um die Abgrenzung des ordentlichen Rechtsweges gegen den Verwaltungsrechtsweg erscheint die Ansicht des Landgerichts jedenfalls nicht offensichtlich unhaltbar.
II.
Die Entscheidung über die Vereinbarkeit des Beanstandungsgesetzes mit dem Grundgesetz hängt in erster Linie davon ab, ob und inwieweit das Gesetz die bei seinem Erlaß bestehende Rechtslage überhaupt geändert hat. Zur Beantwortung dieser Frage muß zunächst die Rechtsnatur des Haftentschädigungsanspruchs, des Haftentschädigungsausschusses, der Haftentschädigungskammer und der Haftentschädigungsbeschlüsse bestimmt und die Bedeutung der "Rechtskraftbescheinigung" untersucht werden.
1. Zutreffend geht das Landgericht in seinem Vorlagebeschluß in Übereinstimmung mit der Landesregierung davon aus, daß es sich bei dem Anspruch auf Haftentschädigung um einen Anspruch des öffentlichen Rechts handelt; denn er entspringt der in dem Haftentschädigungsgesetz verwirklichten Fürsorgepflicht des Staates. Zutreffend ist auch die von dem vorlegenden Gericht und von den Parteien des Zivilprozesses vertretene Ansicht, daß der Anspruch des Verfolgten sich unmittelbar aus dem Haftentschädigungsgesetz ergibt, so daß es zwar noch seiner Feststellung und Realisierung durch die Verwaltung, nicht aber eines rechtsgestaltenden (konstitutiven) Verwaltungsaktes zu seiner Entstehung bedarf.
Ferner ist in Rechtsprechung und Lehre unbestritten, daß ein öffentlich-rechtlicher Anspruch durch die verwaltungsmäßige Feststellung nicht in seinem Wesen verändert wird. Weder wird er durch den Feststellungsbescheid in einen privatrechtlichen Anspruch umgewandelt, noch ist der Bescheid ein Anerkenntnis im Sinne eines selbständigen Verpflichtungsgrundes (so schon RGZ 85, 189 [193]).
Mit dieser - einhelligen - Rechtsansicht steht auch die Entscheidung des Reichsgerichts in RGZ 91, 291 (295) nicht in Widerspruch. Das Reichsgericht hat dort nicht entschieden, daß ein öffentlich-rechtlicher Anspruch durch seine verwaltungsmäßige Feststellung materiell in einen privatrechtlichen verwandelt werden könne, es hat lediglich den vorgelegten Spezialfall unter prozessualen Gesichtspunkten als "dem Bereich des öffentlichen Rechts entrückt" bezeichnet.
2. Die Haftentschädigungsausschüsse und die Haftentschädigungskammer sind nicht besondere Verwaltungsgerichte, sondern Verwaltungsbehörden, obwohl ihr Verfahren dem verwaltungsgerichtlichen weitgehend angeglichen ist (so auch OVG Münster, z. B. Beschl. vom 28. November 1952 - VI B 503/52 und Urt. vom 28. November 1952 - VI A 480/52 -). Dies ergibt sich schon daraus, daß die Erste Durchführungsverordnung selbst in § 13 Abs. 2 die Anrufung der Verwaltungsgerichte gegen die Entscheidungen der Haftentschädigungskammer vorsieht.
3. Die Haftentschädigungsbeschlüsse, durch die der Haftentschädigungsanspruch des Antragstellers von den Haftentschädigungsbehörden nach Maßgabe des Gesetzes festgestellt wird, ohne daß diesen hierbei vom Gesetzgeber ein Ermessensspielraum gegeben wäre, sind hiernach feststellende Verwaltungsakte.
Nicht gefolgt werden kann der schon vor Erlaß des Beanstandungsgesetzes vertretenen Ansicht des Innenministers von Nordrhein-Westfalen, daß die Haftentschädigungsbehörden nur beratende Stellen, ihre Beschlüsse nur innerdienstliche Empfehlungen gewesen seien, daß er also ohne weiteres die Auszahlung habe verweigern dürfen, wenn er einen Beschluß für falsch gehalten habe. Die Erste Durchführungsverordnung muß vielmehr dahin verstanden werden, daß für die Feststellung der Haftentschädigung, also für den maßgebenden Verwaltungsakt, die ausschließliche Zuständigkeit der Haftentschädigungsausschüsse und der Haftentschädigungskammer begründet worden ist. Wären die Haftentschädigungsentscheidungen, wie der Innenminister meint, nur innerdienstliche Empfehlungen, so wäre es sinnwidrig, sie den Betroffenen bekanntzugeben und dagegen Rechtsbehelfe zuzulassen. Auch das Beanstandungsgesetz geht davon aus, daß der Innenminister an die Haftentschädigungsbeschlüsse gebunden ist, solange sie nicht aufgehoben sind.
4.Über das Ausmaß der Rechtsbeständigkeit der Entscheidungen gehen die Ansichten der Beteiligten auseinander. Die Haftentschädigungsberechtigten berufen sich für ihre Meinung von der Unwiderruflichkeit der Beschlüsse insbesondere auf die "Rechtskraftbescheinigung". Nach § 15 der Ersten Durchführungsverordnung ist die Bescheinigung der Rechtskraft die Voraussetzung für die Auszahlung der Entschädigung. Darüber hinaus geben die Haftentschädigungsvorschriften selbst keinen Aufschluß über Bedeutung und Wirkungsgrad der Bescheinigung.
Geht man von dem Begriff der Rechtskraft aus, wie er im allgemeinen Prozeßrecht entwickelt und in das Verwaltungsrecht übernommen worden ist, so ergibt sich aus dem Wortlaut unzweideutig, daß § 13 der Ersten Durchführungsverordnung die "formell" rechtskräftige Entscheidung meint und daß die "Rechtskraftbescheinigung" zunächst nichts anderes ist als das Zeugnis über die formelle Rechtskraft, ähnlich dem Rechtskraftzeugnis des § 706 ZPO. Das ist auch zwischen den Parteien nicht streitig. Die "formelle Rechtskraft" bewirkt aber nach allgemeiner Ansicht im Verwaltungsrecht in der Regel nur, daß derjenige, an den der Verwaltungsakt sich richtet, mit Anträgen auf Aufhebung des Verwaltungsaktes ausgeschlossen wird, während die Befugnis der Verwaltungsbehörde, ihren Verwaltungsakt zu beseitigen, unberührt bleibt (vgl. hierzu ausführlich Ipsen, Widerruf gültiger Verwaltungsakte, § 10 I S. 57 f.). Die "formelle Rechtskraft" ist also für das vorliegende Verfahren ohne Belang.
5. Von Bedeutung ist allein, ob den Entscheidungen der Haftentschädigungsbehörden Rechtsbeständigkeit auch in dem Sinne zukommt, daß die Behörden ihre formell rechtskräftigen Entscheidungen nicht mehr aufheben oder ändern dürfen.
Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung hierfür ist im Haftentschädigungsrecht nicht getroffen worden. Wenn die Erste Durchführungsverordnung in § 6 Abs. 4 eine Reihe von Vorschriften der MilRegVO Nr. 165 für im Haftentschädigungsverfahren anwendbar erklärt, darunter aber nicht den § 80, der die materielle Rechtskraft behandelt, so kann das nicht dahin gedeutet werden, daß der Gesetzgeber den Beschlüssen der Haftentschädigungsbehörden die materielle Rechtskraft habe versagen wollen. Er hat offenbar nur der Einfachheit halber die ohne weiteres anwendbaren Vorschriften über die Verfahrensgestaltung aus dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren übernommen.
In Wissenschaft und Rechtsprechung wird die Frage der Rechtsbeständigkeit von Verwaltungsakten - vielfach als das Problem der materiellen Rechtskraft von Verwaltungsakten bezeichnet - nicht einheitlich beantwortet; sie ist auch einer einheitlichen Lösung nicht zugänglich, muß vielmehr je nach der Eigenart der Verwaltungsakte und der besonderen Gestaltung des Verfahrens, in dem die Verwaltungsakte ergehen, beantwortet werden: Die Entscheidungen der Haftentschädigungsbehörden sind, wie oben gezeigt, feststellende Verwaltungsakte, die auf Grund eines abgeschlossenen, fest umrissenen Tatbestandes über einen öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruch befinden. Ihr besonderes Kennzeichen ist, daß sie in einem prozeßähnlichen, zweistufigen Verwaltungsverfahren unter Beteiligung des Antragstellers und eines Vertreters des öffentlichen Interesses ergehen.
Rechtsprechung und Wissenschaft
    - vgl. RGZ 122, 94 (96); RVerwG in DR 1943, 197 ff. und in RSteuerbl. 1944, 376; PrOVG 41, 280 (284); 83, 360 (362); JbSächsOVG 16, 292 (295); Eyermann-Fröhler, Kommentar zum Verwaltungsgerichtsgesetz für Bayern, Bremen, Hessen und Württemberg-Baden, Anh. zu § 35, Erläut. IV 2 b s. 130; Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl., § 13 II 1 b S. 200 f.; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Bd., Allg. Teil, 2. Aufl., § 13, 1, S. 203 (208); Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1948), § 11 IV 3 S. 281; Köhler, Grundlehren des deutschen Verwaltungsrechts, § 39 II S. 186 f.; Nebinger, Verwaltungsrecht, Allg. Teil, 2. Aufl., § 12 E III S. 215 ff.; Stier-Somlo/Elster, Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, 4. Bd., Art. "Rechtskraft", B II S. 709 (710) -
stimmen weitgehend darin überein, daß sich solche sogenannte streitentscheidende, das Bestehen oder das Nichtbestehen eines Rechts oder einer Verpflichtung feststellende Verwaltungsakte als Akte der Rechtsfindung den richterlichen Urteilen nähern und daß ihnen insbesondere dann eine ähnliche Wirkungskraft zukommt, wenn eine Klärung des Tatbestandes unter Anhörung der Beteiligten vorausgegangen ist. Derartigen Verwaltungsakten wird allgemein eine Beständigkeit beigemessen, die der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen jedenfalls wesensverwandt ist.
Eine solche Annäherung eines Verwaltungsverfahrens an das verwaltungsgerichtliche Verfahren liegt auch hier vor. Sie zeigt sich besonders deutlich darin, daß nicht nur dem Antragsteller, sondern auch dem Land die Anfechtungsklage zum Verwaltungsgericht zu Gebote steht. Damit gewinnen die Beschlüsse der Haftentschädigungsbehörden einen ähnlichen Charakter wie Entscheidungen unterer Gerichte im Instanzenzuge. Sinn und Zweck einer derartigen Regelung eines Verwaltungsverfahrens kann nur der sein, eine endgültige Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch herbeizuführen, auch wenn kein verwaltungsgerichtliches Verfahren nachfolgt. Ebenso wie der Entschädigungsberechtigte, dessen Antrag ganz oder teilweise abgelehnt worden ist, nach Erschöpfung oder Versäumung der vorgesehenen Rechtsbehelfe das Verwaltungsverfahren nicht erneut in Gang bringen kann, muß es auch dem entschädigungspflichtigen Land grundsätzlich versagt bleiben, das abgeschlossene Verfahren wieder aufzurollen. Die gegenteilige Meinung würde zu einer verfahrensrechtlichen Ungleichheit zwischen dem Land und dem Antragsteller führen, die mit der gleichartigen Parteirolle, die ihnen in dem gesamten Verfahren zugewiesen ist, unvereinbar wäre. Die Feststellungsbeschlüsse der Haftentschädigungsbehörden können daher - wenn die Rechtsbehelfsfristen ungenützt verstrichen sind - grundsätzlich nicht mehr aufgehoben oder geändert werden. Ihre Aufhebung oder Änderung darf vielmehr sinngemäß nur in einer Art Wiederaufnahmeverfahren möglich sein.
Was die Wiederaufnahmegründe anlangt, so kann dahingestellt bleiben, ob sie auf den Kreis der in § 96 MilReg VO Nr. 165 in Verbindung mit §§ 578 ZPO normierten und durch die Rechtsprechung sonst anerkannten Gründe (insbesondere bei Erschleichung der Entscheidung durch unlautere Machenschaften, vgl. Baumbach- Lauterbach, Kommentar zur ZPO, 20. Aufl., Einführung zu § 322 Anm. 6 B S. 575) beschränkt sind oder ob im Bereich des Verwaltungsverfahrens eine Wiederaufnahme auch dann gerechtfertigt sein kann, wenn eine Feststellungsinstanz ohne vorsätzliche Täuschung durch den Antragsteller (Erschleichung) von einem objektiv falschen Tatbestand ausgegangen ist oder wenn sie zwingende gesetzliche Vorschriften offensichtlich falsch angewandt hat.
Keinesfalls ist ein bloßer Wandel in der Rechtsauffassung, insbesondere in der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, dazu geeignet, die Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens zu rechtfertigen. Diese Regel erleidet nur dann eine Ausnahme, wenn der Gesetzgeber von vornherein ausdrücklich eine gegenteilige Bestimmung getroffen hat, wie das etwa in § 66 Abs. 1 Ziff. 12 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. November 1934 (RGBl. I S. 1113) für die Wiederaufnahme des Verfahrens geschehen ist. Wie es legitime Funktion der Verwaltung ist, sich wechselnden Lagen anzupassen - woraus die grundsätzliche Widerruflichkeit ihrer Akte folgt -, so ist es legitime Funktion der Rechtsfindung, die Rechtsfolgen abgeschlossener Tatbestände endgültig klarzustellen. Solche Klarstellung aber besteht zu einem wesentlichen Teil gerade in der Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe und in der Subsumtion von Grenz- und Zweifelsfällen unter diese Begriffe. Die Rechtsfindung würde daher ihres eigentlichen Sinnes beraubt werden, wenn man die Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens wegen eines Wandels der Auslegung von Rechtsbegriffen zuließe. Sie könnte die ihr eigentümliche Aufgabe, Rechtssicherheit zu gewährleisten, nicht mehr erfüllen; vielmehr würde eine unerträgliche Rechtsunsicherheit eintreten und das Vertrauen in staatliches Handeln aufs schwerste erschüttert werden. Es ist aus diesen Gründen allgemein anerkannt, daß die Rechtsbeständigkeit von Prozeßentscheidungen durch einen Wechsel der Anschauungen über Interpretation und Subsumtion nicht berührt wird (vgl. RGZ 125, 159 [162]; Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur ZPO, 17. Aufl., Anm. VIII 1 zu § 322; Baumbach-Lauterbach aaO, Einführung zu § 322 Anm. 3 C S. 573). Das gleiche gilt - mangels vorheriger anderweitiger gesetzlicher Regelung - nach der Natur der Sache auch für die Entscheidungen der Haftentschädigungsbehörden, da sie, wie oben ausgeführt, ihrem Wesen nach Akte der Rechtsfindung sind.
6. Diese Rechtslage wird durch das Beanstandungsgesetz geändert: Im Zuge einer Verfahrensregelung für die Wiederaufnahme erweitert es den Kreis der Wiederaufnahmegründe über die allgemein anerkannten und über die zweifelhaften hinaus, indem es eine Wiederaufnahme insbesondere auch wegen einer Wandlung der Rechtsauffassung zuläßt. Dieser Sinn des Gesetzes ergibt sich bereits aus dem Wortlaut seines § 1 Abs. 1 an sich, der den Innenminister zur Beanstandung der Haftentschädigungsbeschlüsse ermächtigt, wenn sie
    "nach seiner pflichtgemäßen Überzeugung zu Unrecht eine Haftentschädigungssumme festgesetzt oder versagt haben",
und der die Weisung hinzufügt, die Befugnis insbesondere dann auszuüben,
    "wenn der Beschluß durch unrichtige Angaben oder Beweismittel herbeigeführt worden ist oder die Rechtsanwendung zu schwerwiegenden Bedenken Anlaß gibt".
Die Deutung wird ferner unterstrichen durch einen Vergleich der verschiedenen Fassungen des § 1, unter denen der Landtag zu wählen hatte. Die Landesregierung zögerte, einen Beanstandungsgesetzentwurf vorzulegen, obwohl eine gesetzliche Klärung der Rechtslage allgemein für wünschenswert gehalten wurde. Sie befürchtete, "im Volke würde nicht verstanden werden, wenn Rechtsentscheidungen, die heute getroffen würden, morgen wieder abgeändert werden könnten" (Erklärung von Ministerialdirektor Dr. Rombach in der 7. Sitzung des Wiedergutmachungsausschusses des Landtages vom 25. Mai 1951). Deshalb brachte das Zentrum am 28. Mai 1951 einen Entwurf ein, dessen § 1 eine Beanstandung der Haftentschädigungsbeschlüsse vorsah,
    "soweit diese Entscheidungen offensichtlich gegen die gesetzlichen Vorschriften verstoßen"
(2. Wahlperiode Bd. I Drucks. Nr. 291). Am 12. Juni 1951 folgte dann doch eine Regierungsvorlage, die den Innenminister zur Beanstandung der Haftentschädigungsbeschlüsse ermächtigen wollte,
    "wenn sie nach seiner pflichtgemäßen Überzeugung dem geltenden Recht zuwider eine Haftentschädigungssumme festgesetzt oder versagt haben"
(Anlage zum Protokoll über die 235. Kabinettssitzung vom 12. Juni 1951). In der Sitzung des Wiedergutmachungsausschusses vom 28. Juni 1951 erhielt § 1 Abs. 1 - über Zentrums- und Regierungsentwurf hinausgehend - die Fassung, die er im Gesetz behalten hat (2. Wahlperiode Bd. II Drucks. Nr. 337). Am 31. Juli 1951 stellte die SPD, die schon im Ausschuß Bedenken angemeldet hatte, im Plenum des Landtages den Änderungsantrag, dem Innenminister die Befugnis zur Beanstandung von Haftentschädigungsbeschlüssen nur zu geben,
    "wenn der Beschluß durch unrichtige Angaben oder Beweismittel herbeigeführt worden ist oder offensichtlich gegen die gesetzlichen Vorschriften verstößt"
(2.Wahlperiode, 30. Sitzung, Bd. I S.1161). Zur Begründung dieses "Kompromisses" sagte der Abgeordnete Siemsen (aaO S. 1162): "Durch unseren Antrag werden alle Fälle des Unrechts erfaßt, wenn nämlich die Entscheidung erschlichen ist oder auf unrichtigen Angaben beruht oder wenn die Entscheidung offensichtlich gegen die gesetzlichen Bestimmungen verstößt. Wir halten es für notwendig, daß das Beanstandungsrecht in diesem Sinne eingeschränkt wird, weil sonst eine ungeheuere Beunruhigung in die Kreise der Verfolgten, denen eine Haftentschädigung zugesprochen ist, getragen wird." Der Landtag jedoch lehnte - nach nochmaliger Vorberatung im Wiedergutmachungsausschuß - den Änderungsantrag ab und wählte von den vier ihm vorliegenden Fassungen die einzige, die eine Beanstandung - über die üblichen Wiederaufnahmegründe hinaus - nicht nur wegen objektiv falschen Tatbestandes oder offensichtlichen Verstoßes gegen das Gesetz, sondern auch wegen eines Wandels der Rechtsanschauung über Interpretation und Subsumtion zuließ. Es kam dem Landtag also unverkennbar gerade auf die Erfassung dieser Fälle an. Das wird bestätigt durch die von dem Land und dem Kläger übereinstimmend geschilderte Handhabung des Gesetzes, wonach die weitaus größte Zahl der Beanstandungen darauf gestützt worden ist, daß unbestimmte Rechtsbegriffe inzwischen von den Verwaltungsgerichten anders interpretiert und Tatbestände anders gewürdigt worden sind als anfänglich durch die Haftentschädigungsinstanzen. Eine einschränkende Interpretation der von dem Beanstandungsgesetz zugelassenen Wiederaufnahmegründe ist bei dem eindeutigen Wortlaut und Sinn des Gesetzes nicht möglich.
III.
Es bleibt zu prüfen, ob das Beanstandungsgesetz durch diese Erweiterung der Wiederaufnahmegründe gegen das Grundgesetz verstößt.
1. Nicht verletzt ist das Gebot des Art. 3 Abs. 1 GG. Eine Verletzung des Gleichheitsprinzips kann nicht darin erblickt werden, daß die erneute Überprüfung der Haftentschädigungsbeschlüsse nur auf Beanstandung durch den Innenminister vorgesehen ist, während die nicht beanstandeten Entscheidungen unberührt bleiben. Es genügt, daß der außerordentliche Rechtsbehelf der Beanstandung allgemein zugelassen ist und daß nach Wortlaut und Sinnzusammenhang des Gesetzes der Innenminister verpflichtet ist, sämtliche in Haftentschädigungssachen ergangenen Beschlüsse auf ihre Gesetzmäßigkeit nachzuprüfen.
Es liegt in der Natur der Beanstandung als eines Rechtsbehelfs und verletzt daher den Gleichheitssatz nicht, daß der Innenminister nur in den Fällen von dem Behelf Gebrauch macht, in denen er sich davon Erfolg verspricht. Daß die Auswahl der zu beanstandenden Fälle dem pflichtgemäßen Ermessen des Innenministers überlassen bleibt, ist hiernach selbstverständlich.
Allerdings könnte die Handhabung des Gesetzes durch den Innenminister Art. 3 GG verletzen, wenn dieser - wie der Kläger vermutet - Überprüfung und Beanstandung auf solche Beschlüsse beschränkt hätte, die noch nicht durch Auszahlung erledigt waren. Darauf kommt es aber bei der Untersuchung, ob das Beanstandungsgesetz gegen den Gleichheitssatz verstößt, nicht an.
2. Ein Verstoß gegen Art. 14 GG kann - von allen anderen Bedenken gegen die Ansicht des Landgerichts Düsseldorf abgesehen - schon deshalb nicht vorliegen, weil "Eigentum" im Sinne dieser Vorschrift jedenfalls grundsätzlich vermögenswerte Rechte des öffentlichen Rechts nicht umfaßt.
Vor 1933 waren Rechtsprechung und Wissenschaft mit geringen Ausnahmen darüber einig, daß der dem Art. 14 GG entsprechende Art. 153 der Reichsverfassung vom 11. August 1919 sich nur auf private Vermögensrechte bezog (vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., Anm. 2 zu Art. 153 S. 704, und die grundlegende Entscheidung des Reichsgerichts in RGZ 129, 246 [250/251] mit zahlreichen Verweisungen).
Diese herrschende Meinung war dem Grundgesetzgeber bekannt. Ihm war ferner bekannt, daß bis zuletzt sogar die Ausdehnung des Eigentumsbegriffs auf sämtliche private Vermögensrechte von namhaften Vertretern der Rechtswissenschaft bekämpft worden ist (vgl. z. B. Hofacker, Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, 1936, S. 34/35; Schelcher, Eigentum und Enteignung nach der Reichsverfassung, in: Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, Bd. 3 S. 196 ff.) und daß allgemein - besonders auch in der Reichsgesetzgebung - ein Ausgleich gegen die "prätorische" (vgl. Wittmayer auf dem 36. Deutschen Juristentag, Bd. II S. 407) Ausdehnung des Eigentumsbegriffs auf alle privaten Vermögensrechte in der Zulässigkeit eines reichsgesetzlichen Ausschlusses der Entschädigung erblickt wurde. Wenn das Grundgesetz in Art. 14 Abs. 3 diese Ausgleichsmöglichkeit ausschließt, indem es vorschreibt, daß Art und Ausmaß der Entschädigung jeweils in dem Enteignungsgesetz zu regeln sind, so folgt daraus, daß Eigentums- und Enteignungsbegriff nach dem Grundgesetz möglicherweise enger, keinesfalls aber extensiver zu interpretieren sind als nach der Reichsverfassung.
Die Materialien zu Art. 14 GG geben keinen Anhalt dafür, daß der Parlamentarische Rat von der Beschränkung des Eigentumsbegriffes auf das Privatrecht hätte absehen wollen. Am weitesten gingen im Interesse des Eigentumsschutzes die Anträge der Deutschen Partei; aber auch diese Anträge hielten sich in den Grenzen des Privatrechts, so z. B. der Antrag vom 29. November 1948 (PR-Drucks. Nr.298), zu bestimmen, daß "eine Aushöhlung des Eigentums durch Entzug der wesentlichen Verfügungsrechte oder durch die Steuergesetzgebung unzulässig" sei und daß dies "für Vermögensgegenstände jeder Art, an denen private Berechtigungen erworben werden können", gelten solle. Die Kommentatoren des Grundgesetzes sind daher mit Selbstverständlichkeit bei der alten Interpretation geblieben: vgl. v. Mangoldt, Kommentar zum Grundgesetz, Anm. 2 zu Art. 14 S. 100; Giese, Kommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., Anm. 1 und 3 zu Art. 14 S. 33/34; Abraham im Bonner Kommentar Anm. 2 zu Art.14 S. 5.
In jüngster Zeit hat namentlich der Bundesgerichtshof in seinem Beschluß vom 10. Juni 1952 - BGHZ 6, 271 (278) - die Ansicht ausgesprochen, daß die Eigentumsgarantie und der Enteignungsschutz heute das gesamte Vermögen des Bürgers, also auch jedes vermögenswerte Recht auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts decken müßten. Hingegen sind das Deutsche Obergericht (Urteil vom 5. Juli 1950, DOGE 1948-1951 S. 66 [73]) und der Bayerische Verfassungsgerichtshof (Entscheidung vom 18. Januar 1952, VGHE II. Teil 68 [NF 5], 1 [4]) der Rechtsprechung des Reichsgerichts gefolgt. Dem ist zuzustimmen.
Allerdings kann eine Verfassungsbestimmung einen Bedeutungswandel erfahren, wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen; davon kann hier nicht die Rede sein. Der Staat greift nicht erst neuerdings auch nach den vermögenswerten subjektiven Rechten des öffentlichen Rechts, sondern nimmt von jeher für sich in Anspruch, solche Rechte, die er selbst erst geschaffen hat, im Rahmen der Gesetze oder durch Gesetz wieder zu entziehen, sei es, daß es sich um Befugnisse oder Rechtspositionen handelt - für einen solchen Fall hat das Bundesverfassungsgericht die Anwendung des Eigentumsbegriffs bereits im Urteil vom 30. April 1952, BVerfGE 1, 264 (278) verneint -, sei es, daß subjektive Forderungsrechte in Rede stehen, wie im vorliegenden Fall.
Auch die systematische Einordnung des Eigentumsschutzes ist unverändert. Die Verbindung der Eigentumsgarantie mit der des Erbrechts sowohl in Art. 153 RV wie in Art. 14 GG weist darauf hin, daß nach wie vor nur private Vermögensrechte geschützt werden sollen, und die Stellung der Eigentumsgarantie zwischen Art. 13 GG - Unverletzlichkeit der Wohnung - und Art. 15 GG - Vergesellschaftung - zeigt, daß es sich um den Schutz der privaten Sphäre gegen Eingriffe des Staates handelt.
Die verfassungsmäßige Garantie vom Staat verliehener subjektiver öffentlicher Vermögensrechte wäre, wenn auch begrifflich möglich, doch höchst ungewöhnlich. Es ist zu bedenken, daß ein großer Teil der Gesetze des öffentlich-rechtlichen Bereichs den Betroffenen vermögensrechtliche Positionen einräumt, kraft deren sie vom Staat bestimmte Leistungen fordern, bestimmte Unterlassungen verlangen können. Würde man in jedem Falle einer Entziehung oder Verkürzung einer solchen Position eine Enteignung erblicken, so dürfte der Gesetzgeber solche Positionen auch für die Zukunft nur noch verbessern, nicht aber - ohne Entschädigung oder vorherige Änderung des Grundgesetzes verschlechtern. Art. 14 GG könnte damit die einfache Gesetzgebung weitgehend blockieren und eine Anpassung des Rechts an die Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse hintanhalten. Eine solche Beschränkung des Gesetzgebers bedürfte einer ausdrücklichen und unzweideutigen Normierung in der Verfassung.
In Art. 14 GG ist sie nicht enthalten. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits in der zitierten Entscheidung (277, 278) ausgeführt hat, will Art. 14 GG das Eigentum so schützen, "wie es das bürgerliche Recht und die gesellschaftlichen Anschauungen geformt haben"; dazu gehören sicherlich Ansprüche nicht, die der Staat seinen Bürgern in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht durch Gesetz einräumt.
Umfaßt schon der Begriff "Eigentum" in Art. 14 Abs. 1 GG Fürsorgeansprüche nicht, so darf dahingestellt bleiben, ob darüber hinaus bei Herabsetzung oder Entziehung öffentlich-rechtlicher Geldforderungen begrifflich überhaupt eine "Enteignung" im Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG vorliegen kann.
Auch ist hier nicht zu untersuchen, ob öffentlich-rechtliche Ansprüche denkbar sind, die so starke privatrechtliche Elemente enthalten, daß sie dem verfassungsrechtlichen Begriff des Eigentums zugerechnet werden müssen.
Betrifft Art. 14 GG jedenfalls nicht Fürsorgeansprüche gegen den Staat, dann kann er durch die im Beanstandungsgesetz für die Haftentschädigungsansprüche getroffene Regelung nicht verletzt sein.
3. Verstößt das Beanstandungsgesetz nicht gegen Art. 3 und Art. 14 GG, so bleibt doch noch zu prüfen, ob sich die Verfassungswidrigkeit nicht aus anderen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ergibt (vgl. hierzu BVerfGE 1, 14 [41, 45]). Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Verfassungsrecht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung besteht, sondern auch aus gewissen sie verbindenden, innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat.
Zu diesen Leitideen, die auch den Landesgesetzgeber unmittelbar binden, gehört das Rechtsstaatsprinzip; das ergibt sich aus einer Zusammenschau der Bestimmungen des Art. 20 Abs. 3 GG über die Bindung der Einzelgewalten und der Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4, 28 Abs. 1 Satz 1 GG sowie aus der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes. Das Rechtsstaatsprinzip enthält als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung der Rechtssicherheit; diese verlangt nicht nur einen geregelten Verlauf des Rechtsfindungsverfahrens, sondern auch einen Abschluß, dessen Rechtsbeständigkeit gesichert ist. Hiermit ist zwar die rückwirkende Beseitigung eines Rechtsspruches aus den hergebrachten Wiederaufnahmegründen vereinbar; unvereinbar aber damit ist es, einen in aller Form abgeschlossenen Fall nachträglich aus solchen Gründen zu erneuter Entscheidung zu stellen, die nach althergebrachter und unbestrittener Rechtsüberzeugung zur Begründung eines Wiederaufnahmeverfahrens nicht geeignet sind. Rechtsfriede und Rechtssicherheit sind von so zentraler Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit, daß um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muß. Dieser Erkenntnis trägt auch das Beanstandungsgesetz insoweit Rechnung, als es in § 1 Abs. 2 die Beanstandung nicht zuläßt, wenn eine rechtskräftige Entscheidung eines ordentlichen Gerichts oder Verwaltungsgerichts ergangen ist. Eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Rechtsbeständigkeit von Entscheidungen der Haftentschädigungsbehörden und von verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen aber ist innerlich nicht gerechtfertigt, vielmehr entspricht die ursprüngliche Ansicht der Landesregierung, daß die Haftentschädigungsbeschlüsse in ähnlicher Weise respektiert werden müßten wie gerichtliche Urteile, der Sach- und Rechtslage (Bericht von Ministerialdirektor Rombach in der 7. Sitzung des Wiedergutmachungsausschusses). Wollte man den formell rechtskräftigen Haftentschädigungsbeschlüssen diesen Respekt versagen, so müßte man sich vergeblich fragen, welchen Zweck es hätte haben sollen, daß die Befristung der Rechtsbehelfe und die Beschränkung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch gegen die öffentliche Hand Geltung hatten. Das Beanstandungsgesetz führt zu einem für rechtsstaatliches Denken unleidlichen Ergebnis: Wenn Land und Antragsteller mit der Entscheidung einer Haftentschädigungsbehörde einverstanden waren und deshalb den Rechtsweg nicht beschritten haben, so bleibt die Rechtsunsicherheit einer Beanstandung bestehen, während gerade in zweifelhaften Fällen, wenn von der einen oder anderen Seite die Verwaltungsgerichte angerufen worden sind, eine unangreifbare Entscheidung vorliegt.
In ihrer ganzen Bedeutung für das Rechtsstaatsprinzip wurde die Rechtsbeständigkeit von Akten der Rechtsfindung bei der Beratung von § 79 BVerfGG erkannt, der das Schicksal solcher Entscheidungen behandelt, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Norm beruhen. Nach "langen und eingehenden Verhandlungen" drang die Überzeugung durch, "daß der Rechtsfriede und die Rechtssicherheit dem Rechtsschutz des Einzelnen vorgehe" und daß man um der Rechtssicherheit willen auch "Normverletzungen ... hinnehmen müsse" (Neumayer in der 112.Sitzung des Deutschen Bundestages S.4234; im gleichen Sinne Dr. Wahl ebenda S. 4227 und Dr. Laforet in der 114. Sitzung S. 4289). Deshalb sah man davon ab, die rückwirkende Nichtigkeit aller auf Grund der nichtigen Norm erlassenen Akte anzuordnen, und beschränkte sich darauf, zugunsten eines rechtskräftig Verurteilten die Wiederaufnahme des Verfahrens zuzulassen, wenn die Verurteilung auf Grund einer für nichtig erklärten Norm erfolgt ist.
Werden um der Rechtssicherheit willen sogar staatliche Akte aufrechterhalten, die auf einem von vornherein verfassungswidrigen Gesetz beruhen, dann ist es um so mehr mit dem Gedanken der Rechtssicherheit unverträglich, daß Akte der Staatsgewalt, die auf Grund eines gültigen Gesetzes in einem gerichtsähnlichen Verfahren zustande gekommen sind, an dem der Staat und der Einzelne als Parteien beteiligt waren und die dem Einzelnen auf Grund eines abgeschlossenen Tatbestandes vorbehaltlos eine bestimmte Rechtsposition verliehen haben, nur wegen eines Wandels der Rechtsauffassung wieder beseitigt werden. Eine Ausnahme von dieser Regel könnte nur dann gerechtfertigt sein, wenn besonders zwingende und schwerwiegende, den Erwägungen der Rechtssicherheit übergeordnete Gründe dazu Anlaß geben. Weder begrenzte fiskalische Interessen, wie sie für den Erlaß des Beanstandungsgesetzes mitbestimmend waren, noch das Bedürfnis, nachträglich eine einheitliche Handhabung des Haftentschädigungsgesetzes herbeizuführen, rechtfertigen die Preisgabe der Rechtssicherheit. § 1 Abs. 1 des Beanstandungsgesetzes verstößt hiernach durch die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe über jedes voraussehbare Maß hinaus gegen das Prinzip der Rechtssicherheit und damit der Rechtsstaatlichkeit und ist deshalb nichtig.
4. Daß eine verfassungsrechtlich zulässige, d. h. die Wiederaufnahmegründe einschränkende Interpretation dieser Bestimmung bei ihrem klaren Sinn und Wortlaut nicht möglich ist, wurde bereits zu B II 6 dargelegt.
Es ist weiter erwogen worden, ob § 1 Abs. 1 nicht teilweise, nämlich für den verfassungsrechtlich zulässigen Teil der Wiederaufnahmegründe, hätte aufrechterhalten werden können. Das wäre tunlich und geboten gewesen, wenn das Gesetz die Wiederaufnahmegründe - ähnlich wie § 580 ZPO - einzeln aufgeführt hätte. Da das Beanstandungsgesetz jedoch nur eine allgemeine Bestimmung enthält, die sämtliche Wiederaufnahmegründe umfaßt, konnte eine solche Unterscheidung nicht vorgenommen werden Es wäre erforderlich gewesen, die zulässigen Wiederaufnahmegründe neu zu formulieren, mit anderen Worten an die Stelle einer gesetzlichen Vorschrift inhaltlich eine andere Vorschrift zu setzen. Damit aber wären die Grenzen der Gerichtsbarkeit überschritten und ein Akt der Rechtsetzung vorgenommen worden, der nur dem Gesetzgeber zukommt. Im vorliegenden Falle erscheint es überdies mit Rücksicht darauf, daß die Beanstandungsfrist auf 1 Jahr beschränkt ist, höchst zweifelhaft, ob der Gesetzgeber das Beanstandungsgesetz ohne die verfassungswidrige Ausweitung der Wiederaufnahmegründe im übrigen unverändert erlassen hätte oder ob er es ohne diese Ausweitung etwa bei den Fristen des § 586 ZPO (Notfrist von 1 Monat seit Kenntnis des Anfechtungsgrundes, Ausschlußfrist von 5 Jahren) belassen hätte.
Die dem § 1 Abs. 1 folgenden Bestimmungen des Beanstandungsgesetzes sind ohne selbständige Bedeutung, da sie nur eine Ausnahme zu § 1 Abs. 1 statuieren und das Verfahren zur Durchführung des § 1 Abs. 1 regeln. Sie werden deshalb von der Nichtigkeit des § 1 Abs. 1 mit ergriffen, so daß die Nichtigkeit des ganzen Beanstandungsgesetzes auszusprechen ist.