BVerfGE 3, 34 - Aussetzung des Gesetzesvollzugs |
Voraussetzungen für eine einstweilige Anordnung in einem Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz. |
Urteil |
des Ersten Senats vom 1. August 1953 |
-- 1 BvR 459, 484, 623, 651 und 783/52 -- |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden der Firma Hellmut D. in Köln und 255 anderer gegen das Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft vom 7. Januar 1952 (BGBl. I S. 7). |
Entscheidungsformel: |
Die Anträge, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, werden abgelehnt. |
Gründe: |
I. |
Die Antragsteller haben Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft vom 7. Januar 1952 (BGBl. I S. 7) -- IHG -- erhoben. Sie haben beantragt, im Wege einer einstweiligen Anordnung den Vollzug dieses Gesetzes vorläufig auszusetzen, insbesondere sie von der Zahlung weiterer Aufbringungsbeträge zu befreien, dem bei der Industriekreditbank gebildeten "Sondervermögen Investitionshilfe" die Weitergabe von Investitionshilfemitteln zu untersagen und der Bundesregierung aufzuerlegen, dieses Verbot zu überwachen.
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Die Anträge werden vornehmlich damit begründet, daß durch den weiteren Vollzug des Gesetzes über die Investitionshilfe "irreparable Tatsachen" geschaffen würden. Insbesondere sei es zweifelhaft, ob die auf Grund dieses Gesetzes an das Sondervermögen eingezahlten Beträge erstattet würden, falls das Gesetz für verfassungswidrig erklärt werde. Die Aufbringungspflicht gefährde auch die wirtschaftliche Existenz vieler Betriebe, während die begünstigten Unternehmen infolge der seit Erlaß des Gesetzes veränderten Wirtschaftslage auf die Mittel der Investitionshilfe nicht mehr angewiesen seien.
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Dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Bundestag und Bundesrat haben sich zur Sache nicht geäußert. Die Bundesregierung hält die Anträge für unbegründet: Bei Abwägung aller Belange sei der Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht dringend geboten; die Investitionshilfemittel seien zu etwa 80% bereits aufgebracht und verteilt. Eine etwaige einstweilige Anordnung würde das gesamte Wirtschaftsleben stören; sie würde einen Kreditfluß stoppen, auf den die Planungen nicht nur der Grundstoffindustrie, sondern auch der Investitionsgüterindustrie seit geraumer Zeit abgestellt seien. Soweit die Aufbringungspflicht die Existenz gefährde, könnten die Aufbringungsbeträge gestundet und notfalls erlassen werden. Falls das Gesetz über die Investitionshilfe für nichtig erklärt werde, müsse der Gesetzgeber eingreifen, sofern die Antragsteller nicht Ansprüche wegen ungerechtfertigter Bereicherung hätten.
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In der mündlichen Verhandlung am 28. Juli 1953, in der die Antragsteller zu 8, 252 bis 254 und 256 sowie die Bundesregierung vertreten waren, wurden die Verfahren 1 BvR 459/52, 484/52, 623/52, 651/52 und 783/52 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung über die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung verbunden.
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II. |
Die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung sind unzulässig, soweit sie von den Antragstellern zu 47 bis 251 ausgehen, da die von diesen Antragstellern eingereichten Verfassungsbeschwerden nach Ablauf der Frist des § 93 Abs. 2 BVerfGG -also verspätet- eingereicht worden sind.
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Im übrigen sind die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zulässig.
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Auch im Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde kann eine einstweilige Anordnung ergehen (BVerfGE 1, 74 [75]; 1, 281 [282]). Zwar wäre eine einstweilige Anordnung unzulässig, wenn nicht nur Zweifel an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden beständen, sondern bereits jetzt offenbar wäre, daß die Verfassungsbeschwerden selbst unzulässig wären. Das ist aber nicht der Fall. Eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz ist zwar dann unzulässig, wenn dieses rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis einen besonderen, vom Willen der vollziehenden Gewalt beeinflußten Vollziehungsakt voraussetzt (BVerfGE 1, 97 [102]). Das Gesetz über die Investitionshilfe setzt aber weder rechtsnotwendig noch nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis Vollzugsakte voraus. Die in den §§ 13 ff. IHG vorgesehenen Aufbringungsbescheide ergehen nur, wenn der Aufbringungspflichtige seine Aufbringungserklärung nicht oder nicht richtig abgibt. Daher sind die Antragsteller vom Gesetz über die Investitionshilfe unmittelbar betroffen; sie können es deshalb mit der Verfassungsbeschwerde angreifen. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG findet entgegen der Auffassung der Bundesregierung -- keine Anwendung, weil sich die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz richtet (vgl. BVerfGE 2, 292).
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III. |
Die Anträge sind jedoch unbegründet:
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1. Eine einstweilige Anordnung kann nach § 32 BVerfGG ergehen, wenn sie zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grunde zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Die Antragsteller berufen sich darauf, daß ihnen der Vollzug des Gesetzes über die Investitionshilfe schwere Nachteile bringe, und meinen unter Berufung auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13. November 1951 (BVerfGE 1, 74 [75]), dies allein rechtfertige den Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Sie verkennen dabei, daß der damals zu beurteilende Sachverhalt sich von dem jetzt zu beurteilenden wesentlich unterscheidet. Im vorliegenden Fall richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz. Hier handeln die Antragsteller gleichsam als Repräsentanten aller, die durch das angegriffene Gesetz betroffen sind. Es ist offensichtlich, daß die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes durch einstweilige Anordnung nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
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Ob diese Voraussetzung vorliegt, kann nur auf Grund gerechter Abwägung der widerstreitenden Interessen entschieden werden (BVerfGE 1, 85 [86]). Bei dieser Abwägung müssen beide Möglichkeiten, daß das Gesetz gültig oder nichtig ist, in Betracht gezogen werden, da im Verfahren über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung eine Entscheidung über die Rechtswirksamkeit des Gesetzes noch nicht getroffen werden kann.
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2. Wenn das Gesetz über die Investitionshilfe gültig wäre, würde die Aussetzung des Vollzugs den mit dem Gesetz verfolgten Plan vereiteln, durch ein Programm umfassender Kreditlenkung die Produktionskapazität der begünstigten Industrien schnell zu erhöhen. Durch die Zuführung von Krediten in Höhe von einer Milliarde DM an die begünstigten Industrien sind, wie der Berichterstatter des Ausschusses für Wirtschaftspolitik im Bundestag bekanntgab, Investitionen im Werte von 4 1/2 Milliarden DM ausgelöst worden (vgl. Sitzungsprotokoll über die 256. Sitzung des Bundestages vom 20. März 1953 -- S. 12370 -). Das bisherige Aufkommen beträgt nach dem Vortrag der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung 802 Millionen DM. Davon sind 787 Millionen DM ausgezahlt, weitere 65 Millionen DM sind an begünstigte Unternehmen unter dem Vorbehalt des Eingangs der Mittel zugesagt. Die umfangreichen Planungen, die sich an die Zusage von Mitteln der Investitionshilfe knüpfen, wirken sich weit über den Rahmen der begünstigten Industrien auf die gesamte deutsche Volkswirtschaft aus. Die Aussetzung des Vollzugs würde also eine schwere Erschütterung der deutschen Wirtschaft zur Folge haben und dem gemeinen Wohle widersprechen.
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3. Wäre das Gesetz über die Investitionshilfe nichtig und würde sein Vollzug nicht durch eine einstweilige Anordnung gehemmt werden, so entständen zwar den Antragstellern wirtschaftliche Nachteile. Diese wären jedoch nicht so schwer, daß sie im Interesse des gemeinen Wohles dringend verhütet werden müßten.
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In Härtefällen sieht das Gesetz zur Abwendung von Nachteilen die Stundung und den Erlaß von Aufbringungsbeträgen auf Antrag der Aufbringungspflichtigen vor (§ 20, 21 IHG). Daraufhin haben die Finanzämter von insgesamt rund 28.000 Stundungsgesuchen rund 23.000 bewilligt. Von den Antragstellern, die sich auf Existenzgefährdung berufen haben, hat niemand vorgetragen, daß er ohne Erfolg Stundung beantragt habe. Deshalb können bei der Abwägung der gegenüberstehenden Interessen keine Nachteile berücksichtigt werden, die durch einen Antrag auf Stundung oder Erlaß abgewandt werden konnten.
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Im übrigen ist den Wünschen der Antragsteller in gewissem Umfange durch das Erste und Zweite Änderungsgesetz zum Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft vom 22. August 1952 (BGBl. I S. 585) und vom 30. März 1953 (BGBl. I S. 107) 1. u. 2. ÄndIHGÜ Rechnung getragen worden. So sind z. B. die Zinsen der zugeteilten Wertpapiere ebenso steuerfrei wie die bis zur Zuteilung von der Industriekreditbank -- Sondervermögen -- gezahlten Zinsen, die sich von 4 auf 5% erhöhen, wenn die Zuteilung nicht binnen 18 Monaten erfolgt (§ 5 Abs 3 IHG i. d. Fassung d. Art. 1 Nr. 1 des 1. ÄndIHG), während die Sollzinsen für einen etwa aufgenommenen Bankkredit steuerlich als Betriebsausgaben behandelt werden können.
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Soweit die Antragsteller Nachteile ausschließlich darin erblicken, daß sie Beiträge auf Grund eines ihrer Auffassung nach verfassungswidrigen Gesetzes leisten müssen, liegen rechtlich erhebliche Nachteile im Sinn des § 32 BVerfGG nicht vor.
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Den Antragstellern entstünde auch kein irreparabler Schäden. Ob ihnen im Falle der Nichtigkeit des Gesetzes etwaige Rückforderungsansprüche durch § 79 Abs. 2 BVerfGG abgeschnitten wären, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls wären unzählige Rechtsbeziehungen neu zu regeln. Die Rechtsunsicherheit aber wäre so groß, daß sie nur durch neue gesetzgeberische Maßnahmen behoben werden könnte. Das ist auch die Auffassung der Bundesregierung.
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