BVerfGE 9, 83 - Strafbarkeit der Arzneiproduktion |
Eine Strafnorm, die der Durchsetzung eines gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstoßenden Verbots beruflicher Betätigung dient und ein auf ihr beruhendes Urteil verletzen Art. 12 Abs. 1 GG. |
Beschluß |
des Ersten Senats vom 8. Januar 1959 |
- 1 BvR 425/52 - |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Kaufmanns Wilhelm P. gegen die Urteile des Amtsgerichts Eßlingen vom 19. Dezember 1951 - 1 Ds 160/51 - und des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 25. April 1952 - Ss 39/52 -. |
Entscheidungsformel: |
Die Urteile des Amtsgerichts Eßlingen vom 19. Dezember 1951 - 1 Ds 160/51 - und des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 25. April 1952 - Ss 39/52 - verletzen Art. 12 Abs. 1 GG. Sie werden aufgehoben Die Sache wird an das Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen. Die Verordnung über die Herstellung von Arzneifertigwaren vom 11. Februar 1943 (RGBl. I S.99) ist nichtig. |
Gründe: |
I. |
1. Der Ministerrat für die Reichsverteidigung hat am 11. Februar 1943 folgende Verordnung über die Herstellung von Arzneifertigwaren mit Gesetzeskraft erlassen (RGBl. I S. 99):
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"§ 1
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Die Herstellung neuer Arzneifertigwaren (Spezialitäten) wird mit sofortiger Wirkung verboten.
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§ 2
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Arzneifertigwaren (Spezialitäten) im Sinne der Verordnung sind Stoffe und Zubereitungen, die zur Verhütung, Linderung oder Beseitigung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder Beschwerden bei Mensch oder Tier bestimmt sind, in abgabefertiger Packung in den Verkehr gelangen und durch besondere Bezeichnung oder Aufmachung als Erzeugnisse bestimmter Hersteller gekennzeichnet sind.
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Eine Arzneifertigware ist neu im Sinne des § 1, wenn sie bei Inkrafttreten dieser Verordnung nicht im Verkehr war.
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§ 4
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Der Reichsminister des Innern kann im Einvernehmen mit dem Reichswirtschaftsminister und, soweit sein Geschäftsbereich berührt wird, mit dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Ausnahmen vom Verbot des § 1 zulassen.
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§ 5
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(1) Mit Gefängnis und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen wird bestraft, wer vorsätzlich dieser Verordnung oder ihren Ausführungsbestimmungen zuwiderhandelt.
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(2) Neben der Strafe kann auf Einziehung oder Vernichtung der Arzneifertigware, auf die sich die strafbare Handlung bezieht, in schweren Fällen auf Schließung des Betriebes erkannt werden.
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§ 6
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Der Reichsminister des Innern erläßt im Einvernehmen mit dem Reichswirtschaftsminister und, soweit sein Geschäftsbereich berührt wird, mit dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft die zur Durchführung und Ergänzung dieser Verordnung erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften."
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Am 17. Mai 1943 erging hierzu ein Runderlaß des Reichsministers des Innern (MBliV 1943 S. 866), der für die Ausnahmegenehmigungen in Abschnitt III bestimmte:
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"III. (1) Die Ausnahmegenehmigung für die Herstellung von neuen Arzneifertigwaren (§ 4 der VO) ist bei mir zu beantragen. Hierbei sind Angaben über die Bezeichnung, Zusammensetzung, Darreichungsform, Packungsgröße, Einzelgabe, Gebrauchsanweisung und Zweckbestimmung des Mittels mit etwaigen Unterlagen über die pharmakologische und klinische Wirkung beizufügen sowie Name und Sitz der Herstellerfirma anzugeben. Die Mitteilung des Herstellungsverfahrens kann, wenn erforderlich, verlangt werden.
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(2) Die Herstellung von Arzneifertigwaren, die ausschließlich für die Ausfuhr bestimmt sind, wird durch die VO nicht berührt.
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(3) Für die Erteilung einer Genehmigung nach § 4 der VO ist eine Verwaltungsgebühr in Höhe von 50 RM zu entrichten."
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2. Der Beschwerdeführer vertrieb ohne Genehmigung einen sogenannten "Varia-Heiltrank", den er nach dem Rezept des schon lange im Handel befindlichen "Lehmanns Heiltrank" herstellte. Durch Urteil des Amtsgerichts Eßlingen vom 19. Dezember 1951 wurde er nach § 5 wegen Zuwiderhandlung gegen § 1 der Verordnung vom 11. Februar 1943 zu einer Geldstrafe von 50 DM, ersatzweise 10 Tage Gefängnis, verurteilt. Seine Revision wurde durch Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 25. April 1952 verworfen. Gegen diese beiden Urteile richtet sich die Verfassungsbeschwerde.
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Der Beschwerdeführer hält die Verordnung für ungültig. Der Ministerrat für die Reichsverteidigung habe auf Grund seines Aufgabenbereiches Verordnungen nur für kriegswichtige Zwecke erlassen dürfen. Die vorliegende Verordnung könne also höchstens für die Kriegsdauer Geltung beanspruchen. Sie verstoße ferner gegen Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 GG. Die Freiheit seiner gewerblichen Betätigung sei durch Art. 2 und 12 GG geschützt. Man könne kein allgemeines Verbot einer bestimmten gewerblichen Betätigung verfügen und Ausnahmen von diesem Verbot ohne nähere Regelung vorsehen. Der Gleichheitsgrundsatz sei in mehrfacher Hinsicht verletzt.
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3. Der Bundesminister des Innern ist der Ansicht, daß der Ministerrat für die Reichsverteidigung zum Erlaß der angefochtenen Verordnung zuständig gewesen sei. Die Verordnung verfolge vor allem gesundheitspolitische Ziele und verstoße nicht gegen Grundrechte. Ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt sei zulässig. Fehlerhafte Ermessensentscheidungen könnten durch die Verwaltungsgerichte nachgeprüft werden.
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Der Beschwerdeführer hat auf mündliche Verhandlung verzichtet.
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II. |
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
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1. Die Ungültigkeit der Verordnung vom 11. Februar 1943 kann allerdings nicht daraus hergeleitet werden, daß der Ministerrat für die Reichsverteidigung nur für die Dauer des Krieges und für kriegswichtige Zwecke zum Erlaß von Rechtsvorschriften befugt gewesen sei. Dem Ministerrat für die Reichsverteidigung war in Ziffer II des Erlasses vom 30. August 1939 (RGBl. I S. 1539) die Befugnis zum Erlaß von Verordnungen mit Gesetzeskraft ganz allgemein ohne Beschränkung auf bestimmte Aufgabengebiete und auf bestimmte Zeitdauer eingeräumt worden. Die Geltung der von ihm erlassenen Vorschriften ist daher weder materiell auf ein bestimmtes Sachgebiet, noch zeitlich auf die Dauer des Krieges beschränkt, soweit sich nicht im Einzelfall etwas anderes ergibt. Dies ist bei der Verordnung nicht der Fall. Der Wortlaut bietet keine Anhaltspunkte für eine solche Beschränkung und auch aus dem Sinn ergibt sich nichts hierfür. Insbesondere ist der Gesichtspunkt der kriegsbedingten Rohstoffverknappung nicht allein ausschlaggebend gewesen, da die Strafvorschrift neben der Einziehung auch die Vernichtung der verbotswidrig hergestellten Arzneifertigwaren vorsieht. Dies und die Zuständigkeit des für die Gesundheitsfürsorge verantwortlichen Reichsministers des Innern zum Vollzug der Verordnung sprechen dafür, daß auch gesundheitspolitische Erwägungen zum Erlaß der Verordnung geführt haben. Die Verordnung ist demnach nicht als kriegsbedingt mit Beendigung des Kriegszustandes hinfällig geworden. Sie ist auch weder durch Besatzungsrecht noch durch deutsches Recht ausdrücklich aufgehoben worden.
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2. Sie ist aber mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar und deshalb nichtig.
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§ 1 der Verordnung verbietet die Herstellung von neuen Arzneifertigwaren schlechthin. Ausnahmen von diesem Verbot kann nach § 4 der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem Reichswirtschaftsminister und dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft zulassen. Es handelt sich also um ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Jedoch bestimmt weder die Verordnung selbst noch der Runderlaß vom 17. Mai 1943, unter welchen Voraussetzungen die Erlaubnis zu erteilen ist. Andere Rechtsvorschriften zur Ausführung der Verordnung vom 11. Februar 1943 sind nicht ergangen. Die Erteilung der Erlaubnis liegt demnach, weil jede tatbestandsmäßige Normierung über die Voraussetzungen fehlt, unter denen sie zu erteilen oder zu versagen ist, im völlig freien Ermessen der zuständigen Behörde.
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Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ist auch im Rechtsstaat ein zulässiges gesetzestechnisches Mittel. Zu den Grundsätzen des Rechtsstaates gehört jedoch die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Dies bedeutet, daß das Gesetz der Entschlußfreiheit der Behörden hinreichende rechtliche Schranken setzen, die Tatbestände, unter denen eine Behörde eine Erlaubnis zu erteilen oder zu versagen hat, normieren und, soweit Raum für ein behördliches Ermessen ist, dessen Grenzen abstecken muß.
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Der Verordnung fehlt das Mindestmaß an solchen normierten Tatbeständen. Sie verstößt daher gegen die Grundsätze des Rechtsstaats (vgl. BVerfGE 8, 71 [76]). Dieser Mangel läßt sich auch nicht durch verfassungskonforme Auslegung beheben, denn der Inhalt der Verordnung gibt keinen Anhaltspunkt dafür, wann die Erlaubnis erteilt werden muß oder versagt werden darf. Der Versuch einer verfassungskonformen Auslegung würde demnach, wenn er Versagungsgründe entwickeln würde, den normativen Gehalt der Verordnung selbst erst bestimmen. Das kann nicht durch Spruch des Bundesverfassungsgerichts geschehen, sondern muß der Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten bleiben (BVerfGE 8, 71 [79]).
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Das in § 1 der Verordnung ausgesprochene Verbot der Herstellung neuer Arzneimittel ist somit wegen Verstoßes gegen die rechtsstaatlichen Grundsätze nichtig. Aus der Nichtigkeit dieses Verbots folgt zugleich die Nichtigkeit der übrigen Vorschriften der Verordnung, denn diese haben nur im Zusammenhang mit dem § 1 einen eigenen Sinn, werden also durch seinen Wegfall gegenstandslos.
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3. Ist das Herstellungsverbot mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar, so verstößt es schon aus diesem Grunde gegen objektives Verfassungsrecht. Da es in die Freiheit der beruflichen Betätigung des Beschwerdeführers eingreift, entsteht darüber hinaus die Frage seiner Vereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 GG. Ob es mit der Berufsfreiheit im übrigen vereinbar ist, kann dahingestellt bleiben; es verletzt sie jedenfalls deshalb, weil die Regelung, die Art. 12 Abs. 1 GG erlaubt, immer eine verfassungsmäßige sein muß. Auch die Strafnorm, die der Durchsetzung des Verbots dient, kann folglich weder mit den objektiven verfassungsrechtlichen Prinzipien des Rechtsstaats noch mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers vereinbart werden. Dasselbe gilt von der Anwendung dieser Strafnorm auf den Beschwerdeführer.
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Darüber hinaus erhebt sich die Frage, ob eine auf einer verfassungswidrigen Norm beruhende Verurteilung zu einer Kriminalstrafe wegen ihrer Folgewirkungen auf den Verurteilten als Person auch dessen Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt. Die Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit erschöpft sich nicht in der allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern umfaßt in unserer grundgesetzlichen Ordnung auch den grundrechtlichen Anspruch, durch die Staatsgewalt nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist. Die Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG akzentuiert zwar besonders die aktive Gestaltung der Lebensführung durch den Grundrechtsträger selbst. Diese setzt aber die Freiheit von unberechtigten - also auch von nicht rechtsstaatlichen - Eingriffen der Staatsgewalt geradezu voraus. Ob ein Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG vorliegt, darf also nicht nur danach beurteilt werden, daß eine Geldstrafe dem Verurteilten die Möglichkeit der Verwendung seiner Mittel nach seinem eigenen Ermessen nimmt; auch wenn eine Geldstrafe etwa auf Grund eines Gnadenaktes nicht entrichtet zu werden brauchte, dürfte die in dem Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung notwendig enthaltene Freiheit von unberechtigten staatlichen Eingriffen verletzt sein. Jedoch braucht diese Frage hier nicht entschieden zu werden, da die Grundrechtswidrigkeit des Strafurteils schon in der Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG liegt, weil es das allgemeine Herstellungsverbot als ein neuer selbständiger Akt der staatlichen Gewalt gegenüber dem Beschwerdeführer verstärkt und bestätigt.
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