BVerfGE 12, 311 - Wehrpflichtgesetz
 
Urteil
des Ersten Senats vom 18. April 1961 auf die mündliche Verhandlung vom 10. Mai 1960
– 1 BvL 389, 416, 615/56, 43, 47, 127, 355, 372/57 –
in dem Verfahren über die verbundenen Verfassungsbeschwerden 1. des ... 43. des ..., gegen Bestimmungen des Wehrpflichtgesetzes vom 21. Juli 1956 (BGBl. I S. 651) und gegen das Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956 (BGBl. I S. 111) insoweit, als Art. 12 GG die Einführung eines Ersatzdienstes anstelle des Kriegsdienstes vorsieht.
 
Entscheidungsformel:
1. Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
2. Die Verfassungsbeschwerde des ... ist durch seinen Tod erledigt.
 
Gründe:
 
A. – I.
Das Wehrpflichtgesetz vom 21. Juli 1956 – BGBl. I S. 651 – (WehrpflG) und einzelne seiner Bestimmungen sind in folgenden Verfassungsbeschwerden angegriffen:
1. Die Beschwerdeführer zu 1 bis 6 haben Verfassungsbeschwerde gegen "das Wehrpflichtgesetz" erhoben mit dem Antrag, das Gesetz für nichtig zu erklären, weil es gegen Art. 1, 3, 4 Abs. 3, Art. 16 Abs. 1, Art. 26, 30 und 146 GG verstoße (1 BvR 389/56).
2. Die Beschwerdeführer zu 7 bis 11 haben Verfassungsbeschwerde gegen §§ 1 und 3 Abs. 1 Satz 1, ferner gegen §§ 25, 26 Abs. 3 und 4, 27 Abs. 1 Satz 2 und gegen §§ 32, 33 Abs. 3 und § 34 WehrpflG erhoben; als verletzt bezeichnet werden Art. 1, 3, 4 Abs. 3 Satz 1 , Art. 12 Abs. 2, Art. 19 Abs. 4, Art. 20, 92 und 101 Abs. 1 GG (1 BvR 416/56).
3. Die Beschwerdeführer zu 12 bis 14 haben Verfassungsbeschwerde gegen §§ 25 bis 27 WehrpflG erhoben und beantragt, die Bestimmungen wegen Unvereinbarkeit mit Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG für nichtig zu erklären (1 BvR 615/56).
4. Die Beschwerdeführer zu 15 bis 18 haben Verfassungsbeschwerde gegen § 1 Abs. 1, § 5 Abs. 2 Satz 1 und § 44 Abs. 1 Satz 4 WehrpflG erhoben, da diese Bestimmungen mit Art. 6 Abs. 2 und 3 GG in Widerspruch ständen (1 BvR 43/57).
5. Die Beschwerdeführer zu 19 bis 28 haben Verfassungsbeschwerde gegen das Wehrpflichtgesetz erhoben; sie sind der Auffassung, daß das Gesetz mit Art. 3 Abs. 2 und 3 GG nicht vereinbar sei (1 BvR 47/57).
6. Der Beschwerdeführer zu 42 hat Verfassungsbeschwerde gegen § 1 WehrpflG erhoben, der nach seiner Ansicht gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG verstößt (1 BvR 355/57).
7. Der Beschwerdeführer zu 43 hat Verfassungsbeschwerde gegen § 25 WehrpflG erhoben; er hält die Bestimmung für unvereinbar mit Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG (1 BvR 372/57).
II.
Die Beschwerdeführer zu 29 bis 41 haben Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956 (BGBl. I S. 111) erhoben. Sie beantragen, die Neufassung des Art. 12 GG insoweit für nichtig zu erklären, als darin die Einführung eines Ersatzdienstes anstelle des Kriegsdienstes vorgesehen sei; die Bestimmung sei mit Art. 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar (1 BvR 127/57).
III.
Zur Begründung der Verfassungsbeschwerden wird im einzelnen noch folgendes vorgetragen:
1. Der Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht verletze die Würde des Menschen, ferner die Verfassungspflicht zur Wiedervereinigung Deutschlands sowie das allgemeine Völkerrecht. Daß die Wehrpflicht auf männliche Staatsbürger beschränkt sei, stehe mit Art. 3 Abs. 2 und 3 GG in Widerspruch. Das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 und 3 GG sei verfassungswidrig beschränkt, da die Verpflichtung zum Wehrdienst die Trennung minderjähriger Wehrpflichtiger von ihrer Familie gegen deren Willen ermögliche.
2. Die Vorschriften des Wehrpflichtgesetzes über die Kriegsdienstverweigerung, vor allem § 25, seien mit Art. 4 Abs. 3 GG unvereinbar, da die "situationsbedingte" Kriegsdienstverweigerung nicht anerkannt werde und durch die Verpflichtung zur Leistung eines Ersatzdienstes das Grundrecht beeinträchtigt sei.
3. Gegen die Regelung des Verfahrens, in dem über das Recht der Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe entschieden wird, sei einzuwenden:
a) Durch §§ 26 Abs. 3, 33 Abs. 3 und 34 WehrpflG würden die Antragsteller ihrem gesetzlichen Richter entzogen (Art. 101 Abs. 1 GG); die Prüfungsausschüsse und Prüfungskammern für Kriegsdienstverweigerer seien verfassungswidrige Scheingerichte oder Ausnahmegerichte.
b) Die Weisungsfreiheit der Mitglieder der Ausschüsse und Kammern verstoße gegen den Verfassungsgrundsatz der parlamentarischen Verantwortlichkeit der vollziehenden Gewalt.
c) Durch § 26 Abs. 4 Satz 1 und § 33 Abs. 3 Satz 2 WehrpflG werde die Menschenwürde verletzt, weil die Gewissensentscheidung als solche, d.h. ihre Berechtigung oder Richtigkeit, nicht nachgeprüft werden könne und der sein Grundrecht geltend machende Bürger nicht zu einer solchen Bloßlegung seines Innern gezwungen werden dürfe.
4. Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 19. März 1956 stehe in Widerspruch zu Art. 79 Abs. 3 GG. Wer von einem Grundrecht Gebrauch mache, dürfe nicht dafür mit einer andersartigen Pflicht belastet werden; daß der anerkannte Wehrdienstverweigerer einen Ersatzdienst leisten müsse, sei mit dem Wesen der Grundrechte unvereinbar.
IV.
Bei der mündlichen Verhandlung über die zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden waren mit Ausnahme des Beschwerdeführers zu 42 sämtliche Beschwerdeführer und die Bundesregierung vertreten. Die Bundesregierung hält die Verfassungsbeschwerden für unzulässig, weil die Beschwerdeführer nicht unmittelbar und gegenwärtig von den gesetzlichen Bestimmungen betroffen seien, im übrigen aber auch für unbegründet.
V.
Nach der mündlichen Verhandlung hat das Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren der Normenkontrolle auf Vorlage eines Gerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG durch Beschluß vom 20. Dezember 1960 – 1 BvL 21/60 – entschieden, daß § 25 Satz 1 WehrpflG – verfassungskonform ausgelegt – mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Entscheidung hat Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG). In der Begründung ist auch dargelegt, daß der Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht nicht gegen Verfassungsrecht verstößt.
Die Beschwerdeführer zu 7 bis 11 haben ihre Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen § 27 Abs. 1 Satz 2 WehrpflG richtete, zurückgenommen. Im übrigen haben die Beschwerdeführer ihre Verfassungsbeschwerden aufrechterhalten und im wesentlichen ihre frühere Begründung wiederholt; als neuer Gesichtspunkt von Bedeutung wird vorgetragen, die Entscheidung vom 20. Dezember 1960 lege nur den Art. 4 Abs. 3 GG aus; es bedürfe noch einer Entscheidung darüber, ob auch eine Gewissensentscheidung vom Staat anerkannt werden müsse, die nach Art. 4 Abs. 1 GG "dem bestimmten Töten eines bestimmten Menschen" im Kriege entgegenstehen könne.
Nach der mündlichen Verhandlung sind von den in den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Einzelbestimmungen des Wehrpflichtgesetzes die §§ 5, 27 und 33 durch Gesetz vom 28. November 1960 – BGBl. I S. 853 – geändert worden. Die Änderungen der §§ 5 und 33 WehrpflG berühren den hier wesentlichen Sachgehalt der Bestimmungen nicht; § 5 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes ist jetzt § 5 Abs. 1 Satz 2 geworden. § 27 WehrpflG war von den Beschwerdeführern nur insoweit angegriffen, als er Bestimmungen über den zivilen Ersatzdienst enthielt. Da diese Bestimmungen in der Neufassung weggefallen sind, ist der Angriff insoweit gegenstandslos geworden; auch für die zurückliegende Zeit bedarf es keiner Entscheidung mehr, da während der Geltung der Bestimmungen ein Ersatzdienst nicht bestand.
 
B.
Der Beschwerdeführer zu 18 ist nach der mündlichen Verhandlung verstorben. Seine Verfassungsbeschwerde ist erledigt (vgl. BVerfGE 6, 389 [442 f.]).
Die übrigen zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden sind zurückgenommen worden.
Die Richter Dr. Heiland und Dr. Scholtissek, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, waren an der Mitwirkung bei der Urteilsfindung verhindert.
 
C.
Die Verfassungsbeschwerden sind teils unzulässig, teils unbegründet.
1. Soweit die Bestimmungen des § 3 Abs. 1 Satz 1, § 5 Abs. 1 Satz 2 und § 44 Abs. 1 Satz 4 WehrpflG angefochten werden, sind die Verfassungsbeschwerden unzulässig. Die Beschwerdeführer sind von diesen Bestimmungen nicht gegenwärtig und unmittelbar betroffen (BVerfGE 1, 97 [101 ff.]). Betroffen wären sie erst, wenn sie (oder bei den Beschwerdeführern zu 15 bis 17 ihre Söhne) zum Wehrdienst tatsächlich herangezogen würden. Kein Wehrpflichtiger kann aber zum Wehrdienst herangezogen werden, bevor er erfaßt (§ 15 WehrpflG), gemustert (§ 16) und einberufen ist (§ 21). Das Ergebnis der Musterung und die Einberufung werden dem Wehrpflichtigen jeweils durch einen Bescheid eröffnet (Musterungsbescheid, Einberufungsbescheid). Der Heranziehung zum Wehrdienst sind demnach rechtsnotwendig Verwaltungsakte vorgeschaltet, die der Betroffene im Rechtsweg nach §§ 32 ff. WehrpflG anfechten kann. Da nicht alle Wehrpflichtigen zum Wehr- oder Ersatzdienst einberufen werden (vgl. §§ 9 ff. WehrpflG), kann erst in diesen Vollziehungsakten und nicht schon in dem sie ermöglichenden Gesetz der behauptete unmittelbare Eingriff in die Grundrechte der Beschwerdeführer erblickt werden.
2. Aus demselben Grunde sind unzulässig alle Angriffe, die sich unmittelbar gegen die Vorschriften über Einführung und Gestaltung des zivilen Ersatzdienstes richten (Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956, §§ 25, 27 WehrpflG). Nach § 9 Abs. 2 des Gesetzes über den zivilen Ersatzdienst vom 13. Januar 1960 (BGBl. I S. 10) ist die Ableistung des Ersatzdienstes von einer Einberufung durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung abhängig. Dieser Bescheid kann nach Maßgabe des § 40 des Gesetzes mit der verwaltungsgerichtlichen Klage angefochten werden.
3. Soweit Wehrpflichtige das Wehrpflichtgesetz "in seiner Gesamtheit" oder seinen § 1, insofern er die allgemeine Wehrpflicht für Männer vom vollendeten 18. Lebensjahre an einführt, angreifen, ergibt sich aus dem inzwischen ergangenen Beschluß vom 20. Dezember 1960 – 1 BvL 21/60 – (Abschn. D I), daß die Verfassungsbeschwerden unbegründet sind. Es kann deshalb dahinstehen, ob sie unter dem Gesichtspunkt des unmittelbaren und gegenwärtigen Betroffenseins als zulässig angesehen werden könnten. Was die Beschwerdeführer hierzu noch vorbringen, kann nicht zu anderer Beurteilung führen. Ob es eine "allgemeine Regel des Völkerrechts" (Art. 25 GG) gibt, die die Kriegführung mit Atomwaffen verbietet, ist hier nicht zu entscheiden; wieso ihr bereits der Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht widersprechen sollte, ist nicht ersichtlich.
4. Die Verfassungsbeschwerden, die sich unmittelbar gegen § 25 WehrpflG mit der Begründung richten, daß diese Bestimmung den Kreis der zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe Berechtigten verfassungswidrig abgrenze, können nicht mehr als zulässig angesehen werden, weil ein Rechtsschutzbedürfnis für diese Form des Angriffs gegen die gesetzliche Bestimmung nicht mehr besteht. Den Beschwerdeführern kam es darauf an, festgestellt zu sehen, daß der Gesetzgeber in § 25 WehrpflG das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG bewußt nach seinem Ermessen umgestaltet habe; er habe über den Gehalt des Grundrechts selbst verfügt, die Formel des § 25 WehrpflG an die Stelle der grundgesetzlichen Norm gesetzt. Aus diesem behaupteten unmittelbaren Eingriff des Gesetzes in die Substanz des Grundrechts haben die Beschwerdeführer das Recht zum unmittelbaren Angriff gegen das Gesetz hergeleitet. Dieser Grund ist jetzt weggefallen; die Frage, an deren Klärung den Beschwerdeführern vor allem gelegen war, ist im Beschluß vom 20. Dezember 1960 mit Gesetzeskraft entschieden. Die Gründe des Beschlusses legen dar, wie Art. 4 Abs. 3 GG zu interpretieren ist und welche Bedeutung dem Art. 4 Abs. 1 GG in diesem Sachzusammenhang zukommt (vgl. Abschn. D II 3 des Beschlusses). Auf dieser Grundlage beruht die Feststellung, daß § 25 WehrpflG, in bestimmter Weise ausgelegt, der Verfassung nicht widerspricht. Damit ist dem Anliegen der Beschwerdeführer insofern entsprochen, als einmal über die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 25 Klarheit besteht, zum andern die mit dem Vollzug des Gesetzes befaßten Verwaltungsbehörden und Gerichte nunmehr Richtlinien für die Auslegung der Vorschrift besitzen, an Hand derer sie die ihnen vorliegenden Einzelfälle behandeln können. Es mag sein, daß sich dabei Fehler oder weitere Zweifelsfragen, auch verfassungsrechtlicher Art, ergeben; sie können und müssen aber am konkreten Einzelfall erörtert und entschieden werden; dem Bundesverfassungsgericht können sie gegebenenfalls durch Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Entscheidung vorgetragen werden. Zu einer weiteren Ergänzung der Gründe des Beschlusses vom 20. Dezember 1960, wie sie die Beschwerdeführer zu 7 bis 11, 12 bis 14 und 43 begehren, besteht kein Bedürfnis, solange nicht feststeht, daß den Beschwerdeführern auch nach dieser Entscheidung die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer versagt wird.
5. Die Verfahrensvorschriften der §§ 26, 32 bis 34 WehrpflG können nicht unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden, sondern nur mittelbar, wenn ein Beschwerdeführer durch die Entscheidung in einem solchen Verfahren beschwert ist. Es mag angefügt werden, daß das Bundesverfassungsgericht die erhobenen Rügen – in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 7, 66 [69 f., 73]) – auch für unbegründet hält (vgl. BVerfGE 9, 268 [282]).
Mißgriffe bei der Anwendung der Verfahrensbestimmungen müssen im Einzelfall korrigiert werden (BVerwGE 7, 242 [249]; 9, 97 und 100).