BVerfGE 41, 246 - Baader-Meinhof |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 21. Januar 1976 gemäß § 24 BVerfGG |
- 2BvR 941/75 - |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. des Herrn Andreas Baader, der Frau Gudrun Ensslin, 3. der Frau Ulrike Meinhof, 4. des Herrn Jan-Carl Raspe, z.Z. Stuttgart-Stammheim, Asperger Straße 60 - Justizvollzugsanstalt - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Armin Golzem, Rupert v. Plottnitz, Helmut Riedel, Bernd Koch, Frankfurt/Main, Hochstraße 52 - gegen den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 22. Oktober 1975 - 1 StE 1/74 - StB 60-63/75 |
Entscheidungsformel: |
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen. |
Gründe |
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Frage, ob es Grundrechte der Angeklagten des Stuttgarter Baader-Meinhof-Prozesses verletzt, daß die Hauptverhandlung in ihrer Abwesenheit fortgesetzt wird.
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I. |
1. Grundsätzlich findet gegen einen abwesenden Angeklagten keine Hauptverhandlung statt. Davon gibt es Ausnahmen. Das Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 20. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3686) hat den Kreis dieser Ausnahmen erweitert, insbesondere folgende Vorschrift eingefügt:
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§ 231 a StPO
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(1) Hat sich der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt und verhindert er dadurch wissentlich die ordnungsmäßige Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung in seiner Gegenwart, so wird die Hauptverhandlung, wenn er noch nicht über die Anklage vernommen war, in seiner Abwesenheit durchgeführt oder fortgesetzt, soweit das Gericht seine Anwesenheit nicht für unerläßlich hält. Nach Satz 1 ist nur zu verfahren, wenn der Angeklagte nach Eröffnung des Hauptverfahrens Gelegenheit gehabt hat, sich vor dem Gericht oder einem beauftragten Richter zur Anklage zu äußern. (2) Sobald der Angeklagte wieder verhandlungsfähig ist, hat ihn der Vorsitzende, solange mit der Verkündung des Urteils noch nicht begonnen worden ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was in seiner Abwesenheit verhandelt worden ist. (3) Die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nach Absatz 1 beschließt das Gericht nach Anhörung eines Arztes als Sachverständigen. Der Beschluß kann bereits vor Beginn der Hauptverhandlung gefaßt werden. Gegen den Beschluß ist sofortige Beschwerde zulässig; ... (4) Dem Angeklagten, der keinen Verteidiger hat, ist ein Verteidiger zu bestellen, sobald eine Verhandlung ohne den Angeklagten nach Absatz 1 in Betracht kommt. |
2. Auf Grund dieser Bestimmung beschloß das Oberlandesgericht Stuttgart am 30. September 1975, die begonnene Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten fortzusetzen.
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Durch Beschluß vom 22. Oktober 1975 verwarf der Bundesgerichtshof die dagegen erhobenen sofortigen Beschwerden. Zur Begründung führte er aus, § 231 a StPO sei nicht nur bei absoluter Verhandlungsunfähigkeit anwendbar; vielmehr ergebe sich aus dem Zweck der Regelung, daß Verhandlungsunfähigkeit im Sinne dieser Bestimmung bereits vorliege, wenn der Angeklagte zwar für kürzere Zeitspannen zur Wahrnehmung seiner Rechte imstande sei, diese Zeitspannen aber nicht ausreichten, das Verfahren ordnungsmäßig, insbesondere in vernünftiger Frist, zum Abschluß zu bringen. Dies sei hier der Fall, da die Angeklagten - laut Sachverständigengutachten - der Verhandlung nur für drei bis vier Stunden an jeweils drei Tagen der Woche folgen könnten. Ihre damit gegebene Verhandlungsunfähigkeit beruhe auf Ursachen, die sie selbst zu verantworten hätten, insbesondere auf ihrem rechtswidrigen Verhalten in der Haftanstalt, dem nur durch eine entsprechende Verschärfung der Haftbedingungen habe entgegengewirkt werden können, und den gesundheitsbeeinträchtigenden Auswirkungen ihrer Hungerstreiks.
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3. Gegen diesen Beschluß richtet sich die Verfassungsbeschwerde der Angeklagten. Sie rügen Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 3 GG. Zur Begründung tragen sie vor:
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Es verstoße gegen ihre Menschenwürde und beeinträchtige ihren Anspruch auf rechtliches Gehör, daß in ihrer Abwesenheit weiterverhandelt werde. Die Voraussetzungen des § 231 a StPO seien nicht gegeben. Die Ansicht, Verhandlungsunfähigkeit im Sinne der Vorschrift könne schon vorliegen, wenn die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten lediglich eingeschränkt, nicht aber ausgeschlossen sei, gehe fehl. Sie widerspreche dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes. Soweit § 231 a StPO auf die Verhinderung der Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung abstelle, bestimme das Gesetz damit nicht den Begriff der Verhandlungsunfähigkeit, sondern bezeichne lediglich die Folge, die eintreten müsse, um eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten zu erlauben. Es ändere also nichts an dem Grundsatz, daß die Hauptverhandlung in Gegenwart des Angeklagten stattfinden müsse, wenn dessen Verhandlungsfähigkeit bloß zeitlich beschränkt sei.
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Der angegriffene Beschluß verletze sie auch in ihrem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Denn seine Begründung leugne einerseits nicht, daß die Haftbedingungen die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten beeinträchtigt hätten, erkläre sie aber gleichwohl für rechtens; das laufe praktisch darauf hinaus, ein staatliches Recht auf Körperverletzung oder Folter gegenüber bestimmten Gefangenen anzuerkennen.
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II. |
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich unbegründet.
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Der angegriffene Beschluß des Bundesgerichtshofs verletzt die Beschwerdeführer nicht in ihren Grundrechten.
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1. Die Bestimmung des § 231 a StPO, auf der er beruht, ist verfassungsgemäß. Sie beeinträchtigt den Angeklagten weder in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) noch in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG).
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Soweit sich aus diesen Grundrechten die Befugnis des Angeklagten ergibt, bei der Hauptverhandlung anwesend zu sein und sich selbst zu verteidigen, wird ihm dies Anwesenheitsrecht durch § 231 a StPO nicht genommen. Wer seine Verhandlungsunfähigkeit vorsätzlich und schuldhaft herbeiführt, steht demjenigen gleich, der - obwohl er anwesend sein könnte - zur Hauptverhandlung nicht erscheint oder sich eigenmächtig aus ihr entfernt (vgl. § 231 Abs. 2 StPO). Wenn aber der Angeklagte, statt von seinem Recht auf Anwesenheit Gebrauch zu machen, sich selbst der Möglichkeit seiner persönlichen Teilnahme an der Hauptverhandlung begibt, so wird er in seinen Grundrechten nicht dadurch verletzt, daß die Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit stattfindet.
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§ 231 a StPO entspricht auch im übrigen den rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien. Die Bestimmung gewährleistet, daß dem abwesenden Angeklagten hinreichende Möglichkeiten verbleiben, auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluß zu nehmen. Denn sie schreibt vor, daß der Angeklagte Gelegenheit gehabt haben muß, sich vor einem Richter zur Anklage zu äußern (Abs. 1 Satz 2), daß er nach Wiedererlangung seiner Verhandlungsfähigkeit vom wesentlichen Inhalt des in seiner Abwesenheit Verhandelten zu unterrichten ist (Abs. 2) und daß er stets über den Beistand eines Verteidigers verfügt, durch den er sich Gehör verschaffen kann (Abs. 4).
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2. Die Auslegung des § 231 a StPO durch den Bundesgerichtshof läßt keinen Verfassungsverstoß erkennen. Danach liegt Verhandlungsunfähigkeit im Sinne dieser Bestimmung schon vor, wenn der Angeklagte zwar für kürzere Zeitspannen zur persönlichen Wahrnehmung seiner Rechte imstande ist, diese Zeitspannen aber nicht ausreichen, um das Verfahren ordnungsmäßig, insbesondere in angemessener Zeit, zu Ende zu führen.
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Diese Begriffsbestimmung ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Sie orientiert sich an dem in § 231 a StPO bezeichneten Schutzgut der "ordnungsmäßigen Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung". Damit entspricht sie einem Gebot des Rechtsstaatsprinzips, das die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege verlangt (BVerfGE 39, 156 [163] mit weiteren Nachweisen). Um diesem Gebot zu genügen, muß sichergestellt sein, daß ein Strafverfahren auch gegen denjenigen innerhalb angemessener Zeit zum Abschluß gebracht werden kann, der das Erfordernis seiner Verhandlungsfähigkeit dazu mißbraucht, die Verhandlung in seiner Gegenwart zu vereiteln und damit dem Gang der Rechtspflege entgegenzutreten.
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3. Die Anwendung des § 231 a StPO auf den vorliegenden Fall begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Bundesgerichtshof hat dabei weder Bedeutung und Tragweite von Grundrechten der Angeklagten verkannt noch die Grenzen des Willkürverbots überschritten.
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Die Ansicht der Beschwerdeführer, die Begründung des angegriffenen Beschlusses laufe darauf hinaus, ein staatliches Recht auf Körperverletzung oder gar Folter anzuerkennen, ist abwegig.
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