BVerfGE 60, 374 - Redefreiheit und Ordnungsrecht |
1. Eine "Rüge", die der amtierende Präsident des Bundestages einem Bundestagsabgeordneten erteilt, berührt in der Regel nicht dessen Status als Abgeordneten. |
2. Das Grundgesetz gewährleistet die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG; sie unterfällt weder dem Schutzbereich des Art. 5 GG noch dem des Art. 2 GG. |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 8. Juni 1982 gemäß § 24 BVerfGG |
-- 2 BvE 2/82 -- |
in dem Verfahren über den Antrag, festzustellen, daß der amtierende Präsident des Deutschen Bundestages durch die dem Antragsteller in der 78. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 19. Januar 1982 erteilte Rüge gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verstoßen hat, Antragsteller: Prof. Dr. M. Abelein, Mitglied des Deutschen Bundestages, Bundeshaus, Bonn 1, Antragsgegner: Der Präsident des Deutschen Bundestages, Bundeshaus, Bonn 1. |
Entscheidungsformel: |
Der Antrag wird verworfen. |
Gründe: |
A.--I. |
Der Antragsteller ist Abgeordneter des 9. Deutschen Bundestages und Mitglied der Fraktion der CDU/CSU.
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In der 78. Sitzung des Bundestages am 19. Januar 1982 ergriff der Antragsteller während der Haushaltsdebatte bei der Beratung des Einzelplanes 04 (Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts) das Wort und nahm zur Außenpolitik der Bundesregierung, insbesondere im Hinblick auf die Situation in Polen, Stellung. In diesem Zusammenhang führte er aus (Sten. Ber. S. 4503, A):
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Meine Damen und Herren, der bedeutende Historiker und Geschichtsphilosoph Helmut Schmidt, auf der Suche nach tieferem Verständnis für den schwierigen Verlauf der aktuellsten Zeitgeschichte und ihrer betrüblichen Auswirkungen für die Bundesregierung, hat Konferenz und Abkommen von Jalta entdeckt. Daß seine Interpretation ganz offensichtlich völlig falsch ist, tut ihrer Bedeutung keinerlei Abbruch. Aber sie ist auch schlimm; sie ist in ihrer Auswirkung verheerend. Sie wäre schlimm genug, wenn sie nur uns Deutsche beträfe, wenn sie damit gleichsam international legalisierte, daß ein großer Teil des deutschen Volks nach wie vor in Unterdrückung und Abhängigkeit leben muß. Aber sie ist in der gegenwärtigen Situation noch schlimmer wegen ihrer außenpolitischen Wirkung, denn sie betrifft jetzt besonders die Polen, die Tschechen, die Ungarn, die Deutschen - kurz: alle, die unter der Diktatur der Sowjetunion leben müssen und nach Schmidts Interpretation doch auch ganz offensichtlich leben sollen, weil ihre Freiheit, ja ihre Sehnsucht nach Freiheit ganz offensichtlich die Friedensordnung von Jalta gefährdet.
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Zur Rede des Antragstellers gab der amtierende Präsident des Bundestages Wurbs folgende Erklärung ab (Sten. Ber. S. 4514, D; 4515, A):
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Meine Damen und Herren, ich rüge den Abgeordneten Dr. Spöri wegen Verwendung eines nichtparlamentarischen Ausdrucks. Ich rüge aber auch den Abgeordneten Dr. Abelein wegen seiner nichtparlamentarischen Ausführungen, die er im Zusammenhang mit Jalta gemacht hat. Ich darf -- entgegen der Übung -- diese in Parenthese gesetzte Formulierung hier mitteilen, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Dr. Abelein führte aus:
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"... kurz: alle, die unter der Diktatur der Sowjetunion leben müssen und nach Schmidts Interpretation doch auch ganz offensichtlich leben sollen, ..."
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Ich rüge diese Ausdrucksform. Ich rüge schließlich auch den Abgeordneten Wehner wegen Verwendung eines nichtparlamentarischen Ausdrucks.
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Nachdem Vizepräsident Wurbs im weiteren Verlauf der Sitzung den Vorsitz abgegeben hatte, erläuterte er die dem Antragsteller erteilte Rüge in der Form einer Erklärung gemäß § 30 der Geschäftsordnung des Bundestages (GO) wie folgt (Sten. Ber. S. 4549, D; 4550, A):
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Ich habe Herrn Abgeordneten Dr. Abelein wegen einer Formulierung im Zusammenhang mit seinen Ausführungen über Jalta gerügt. Herr Dr. Abelein hat u.a. ausgeführt:
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"Aber sie ist in der gegenwärtigen Situation noch schlimmer wegen ihrer außenpolitischen Wirkung, denn sie betrifft jetzt besonders die Polen, die Tschechen, die Ungarn, die Deutschen - kurz: alle, die unter der Diktatur der Sowjetunion leben müssen und nach Schmidts Interpretation doch auch ganz offensichtlich leben sollen, weil ihre Freiheit, ja ihre Sehnsucht nach Freiheit ganz offensichtlich die Friedensordnung von Jalta gefährdet."
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§ 36 der Geschäftsordnung gibt dem amtierenden Präsidenten das Recht, den Redner -- in der Geschäftsordnung wird nicht unterschieden, ob der Redner als Regierungsmitglied oder als Abgeordneter spricht -- bei Verwendung nichtparlamentarischer Ausführungen zur Ordnung zu rufen. Ich halte es für nicht gerechtfertigt, wenn einerseits Zwischenrufe gerügt werden, Bemerkungen, die möglicherweise zu einem Zwischenruf geführt haben, aber nicht. Aus Gründen der Gleichbehandlung der Redner war ich der Auffassung, so handeln zu sollen.
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Nach den Angaben des Antragstellers haben sich der Ältestenrat und das Präsidium des Deutschen Bundestages mit seinem Einspruch gegen die Rüge befaßt; der Präsident des Deutschen Bundestages habe ihm daraufhin sinngemäß mitgeteilt, daß die Rüge nicht zurückgenommen werde.
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II. |
Der Antragsteller hat mit seinem am 31. März 1982 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Schreiben vom 25. März 1982 beantragt, festzustellen, daß die ihm in der 78. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 19. Januar 1982 vom amtierenden Präsidenten erteilte Rüge gegen Artikel 2, 5 und 38 des Grundgesetzes verstößt.
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Zur Begründung macht er geltend, daß seine Äußerungen selbst dann kein Anlaß für die Ordnungsmaßnahme gewesen wären, wenn er dem Bundeskanzler vorgeworfen hätte, er billige innerlich die Unterdrückung der osteuropäischen Völker durch die Sowjetunion. Diesen Vorwurf habe er aber nicht einmal gemacht. Er habe nur eine Schlußfolgerung aus einer im übrigen falschen Geschichtsinterpretation des Bundeskanzlers zu Jalta gezogen. Die Begründung für die beanstandete Rüge sei unhaltbar. Das Rederecht gehöre zu den Statusrechten eines Abgeordneten aus Art. 38 GG. Bei der Ausübung des Rederechts vor dem Bundestag mache der Abgeordnete auch von seinem Grundrecht der freien Meinungsäußerung Gebrauch. Die Maßnahme des Vizepräsidenten beschränke dieses Recht in unzulässiger Weise und berühre ihn - den Antragsteller - auch in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Der Präsident des Bundestages könne auf den Inhalt von Reden im Bundestag keinen Einfluß nehmen, da dies eine unzulässige Zensur wäre. Er könne nur formale Beleidigungen rügen. Eine solche liege hier aber nicht vor. Die Begründung für die Rüge, die der amtierende Präsident gegeben habe, würde die Konsequenz haben, daß jede Ausführung im Parlament, die beleidigende Zwischenrufe nach sich ziehe, ebenfalls gerügt werde. Das würde das freie Rederecht im Bundestag erheblich einschränken.
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B. |
Der Antrag ist unzulässig.
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1. Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG gegeben. Danach entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind.
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Obwohl der Antragsteller die von ihm gewählte Verfahrensart und den Antragsgegner nicht ausdrücklich genannt hat, ergibt sich aus Antrag und Antragsbegründung, daß er die begehrte Feststellung im Wege des Organstreits nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG gegen den Präsidenten des Deutschen Bundestages erreichen möchte. Dieser ist der Antragsgegner. Ein Stellvertreter des Präsidenten handelt bei der Leitung von Bundestagssitzungen als "amtierender Präsident" im Sinne der Geschäftsordnung (vgl. § 8) anstelle des Präsidenten.
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a) Der Antragsteller als Abgeordneter des Deutschen Bundestages und der Präsident des Deutschen Bundestages sind durch das Grundgesetz (Art. 38 Abs. 1 Satz 2, 40 Abs. 2) mit eigenen Rechten ausgestattete andere Beteiligten im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (für Bundestagsabgeordnete vgl. BVerfGE 2, 143 [164]; 10, 4 [10 f.]; für Landtagsabgeordnete vgl. BVerfGE 4, 144 [148 f.]; 6, 445 [448]; 32, 157 [162]; 43, 142 [148]; siehe auch BVerfGE 40, 296 [308 f.]; für den Präsidenten des Deutschen Bundestages vgl. BVerfGE 27, 152 [157]).
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Antragsteller und Antragsgegner stehen auch in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zueinander. Zwischen den Verfahrensbeteiligten besteht Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten aus der parlamentarischen Ordnungsoder Disziplinargewalt des Präsidenten einer- und aus dem Abgeordnetenstatus andererseits.
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Zwar ist die Ordnungs- oder Disziplinargewalt Bestandteil der dem Parlament durch Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Geschäftsordnungsautonomie (vgl. BVerfGE 44, 308 [314 f.] und BVerfGE 10, 4 [13]). Träger dieser Ordnungsgewalt ist mithin nicht der Präsident, sondern das Plenum des Deutschen Bundestages. Der Präsident des Bundestages übt jedoch kraft Übertragung durch das Parlament die Ordnungsgewalt des Parlaments gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 und den Bestimmungendes VI. Abschnittes der Geschäftsordnung (§§ 36 ff.) in eigener Verantwortung und unabhängig aus (vgl. hierzu Bücker in: Ritzel/Bücker, Handbuch der Parlamentarischen Praxis, 1981, Vorbem. zu §§ 36 bis 41 GO, S. 83; Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, § 7 Rdnr. 34). In dieser Funktion kann er im verfassungsrechtlichen Organstreit mit der Behauptung in Anspruch genommen werden, er habe bei der Ausübung der Ordnungsgewalt den verfassungsrechtlichen Status eines Abgeordneten verletzt (vgl. Lorenz, Der Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 1, S. 254; Ulsamer in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 64 Rdnr. 21, 22).
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b) Im verfassungsrechtlichen Organstreitverfahren kann ein Abgeordneter die Verletzung jedes mit seinem Status verfassungsrechtlich verbundenen Rechtes geltend machen (vgl. BVerfGE 43, 142 [148 f.]). Die Frage, ob ein Bundestagsabgeordneter wegen einer Äußerung in einer Plenardebatte mit einer Ordnungsmaßnahme belegt werden darf, berührt die zu seinem verfassungsrechtlichen Status aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gehörende Befugnis zur Rede (vgl. BVerfGE 10, 4 [12]).
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Die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament ist durch besondere Vorschriften und Grundsätze des Grundgesetzes geschützt; sie unterfällt weder dem Schutzbereich des Art. 5 GG noch dem des Art. 2 GG; mögliche Grenzen ihrer Einschränkung ergeben sich nicht aus diesen Artikeln des Grundgesetzes. Die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament ist nicht die Freiheit des Bürgers gegenüber dem Staat, wie Art. 5 Abs. 1 GG sie schützen will, sondern eine in der Demokratie unverzichtbare Kompetenz zur Wahrnehmung der parlamentarischen Aufgaben, die den Status als Abgeordneter wesentlich mitbestimmt. Die freie Rede des Abgeordneten dient mithin unmittelbar der Erfüllung der in der Verfassung normierten Staatsaufgaben.
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Das Grundgesetz gewährleistet die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Um der parlamentarischen Rede- und Handlungsfreiheit willen verleiht die Verfassung den Abgeordneten die Privilegien des Art. 46 GG. Insbesondere die Indemnitätsvorschrift des Art. 46 Abs. 1 GG, wonach ein Abgeordneter wegen seiner Abstimmung oder wegen seiner Äußerungen im Bundestag oder einem seiner Ausschüsse durch keine Instanz außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden darf, hat kein Seitenstück im Recht der freien Meinungsäußerung nach Art. 5 GG. Umgekehrt ist ebenso vorstellbar, daß Äußerungen eines. Abgeordneten die Ordnung des Parlaments verletzen und eine Sanktion des Präsidenten nach sich ziehen, obschon sie sich in den Grenzen der Meinungsfreiheit des Art. 5 GG gehalten haben.
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2. Der Antragsteller ist aus seinen Rechten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG oder nach der Geschäftsordnung nicht antragsbefugt, da die beanstandete Maßnahme seinen verfassungsrechtlichen Status nicht verletzt haben kann.
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Nach § 64 Abs. 1 BVerfGG ist ein Antrag im Organstreit nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, daß er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Die zur Nachprüfung gestellte Maßnahme muß demnach rechtserheblich sein oder sich zumindest zu einem die Rechtsstellung des Antragstellers beeinträchtigenden, rechtserheblichen Verhalten verdichten können (BVerfGE 57, 1 [4 f.]; 13, 123 [125] m.w.N.); die mögliche Verletzung oder Gefährdung der Rechte muß sich aus dem Sachvortrag ergeben (vgl. BVerfGE, a.a.O.).
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Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor.
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a) Der amtierende Präsident des Deutschen Bundestages hat dem Antragsteller wegen "nichtparlamentarischer" Ausführungen eine Rüge erteilt.
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Die vom Antragsteller beanstandete Maßnahme ist kein Ordnungsruf im Sinne von § 36 Satz 2 GO. Rügen dieser Art, die im parlamentarischen Schrifttum teilweise dem parlamentarischen Gewohnheitsrecht, teilweise dem Parlamentsbrauch zugeordnet werden, sind eigenständige Ordnungsmaßnahmen des Bundestagspräsidenten gegenüber den Mitgliedern des Bundestages (Kleinschnittger, Die rechtliche Stellung des Bundestagspräsidenten, Diss. Münster, 1963, S. 90 f.; Richter, Die Stellung des Bundestagspräsidenten, insbesondere seine Ordnungsgewalt, sein Hausrecht und seine Polizeigewalt, Diss. Bonn, 1953, S. 93; Schneider-Dennewitz in: Bonner Kommentar, Erstbearbeitung, Art. 40 Erl. 6 c; Ritzel/Koch, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, 1952, § 40 Anm. 5).
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Die Rüge im vorstehend beschriebenen Sinn ist das mildeste Mittel zur Aufrechterhaltung der parlamentarischen Ordnung gegenüber einem Bundestagsabgeordneten. Sie kann der Bundestagspräsident bei solchen Verstößen gegen die parlamentarische Ordnung anwenden, die er als so leicht bewertet, daß selbst ein Ordnungsruf als schwächstes der förmlichen Disziplinarmittel der Geschäftsordnung noch nicht angezeigt erscheint. Die Rüge, die zum Teil auch als Mahnung bezeichnet wird, ist an keine bestimmte Form gebunden und kann auch als Erinnerung, Ermahnung, Mißbilligung, Aufforderung zu ordnungsgemäßem Verhalten, Hinweis auf die Unzulässigkeit eines Ausdrucks oder das Unparlamentarische des Verhaltens erteilt werden (Richter, a.a.O., S. 93 bis 95 mit Beispielen von Rügen). Kennzeichnend für die Ordnungsmaßnahme "Rüge" ist ihr präventiver, hinweisender Charakter; sie ist als Maßnahme unterhalb der Sanktion für die Verletzung der parlamentarischen Form ein Hinweis, die parlamentarischen Gepflogenheiten zu beachten. Dementsprechend gibt es gegen die Rüge auch keinen Einspruch an den Bundestag, wie er in § 39 GO für die Fälle des Ordnungsrufes und des Ausschlusses vorgesehen ist.
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Der Annahme einer Rüge in diesem speziellen Sinne steht nicht entgegen, daß Vizepräsident Wurbs in seiner Erklärung gemäß § 30 GO auf § 36 GO Bezug genommen hat, und daß darüber hinaus der Ausdruck "Rüge" im Parlamentsrecht auch in einem weiteren, den Ordnungsruf umfassenden Sinne gebraucht wird (vgl. § 119 Abs. 2 GO und Troßmann, a.a.O., § 40 Rdnr. 17 und § 120 Rdnr. 4; Bücker, a.a.O., GO, § 119 Anm. II a). Denn ein Ordnungsruf im Sinne des § 36 Satz 2 GO liegt nur dann vor, wenn er vom Präsidenten des Bundestages auch nach außen hin ausdrücklich als solcher kenntlich gemacht worden ist, d.h. mindestens den Begriff "Ordnung" enthält. Durch dieses strenge Formerfordernis soll gerade sichergestellt werden, daß der Ordnungsruf, gegen den der betroffene Abgeordnete Einspruch einlegen kann (§ 39 GO) und der bei zweimaliger Wiederholung zur Entziehung des Wortes führt (§ 37 GO), eindeutig von der Rüge im engeren Sinn zu unterscheiden ist (vgl. Bücker, a.a.O., GO, § 36 Anm. 2 g; Troßmann, a.a.O., § 40 Rdnr. 17; Kleinschnittger, a.a.O., S. 92). Selbst wenn also der amtierende Präsident des Bundestages den Antragsteller mit der beanstandeten Maßnahme zur Ordnung hätte rufen wollen, wäre dies wegen der mangelnden Form unbeachtlich.
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Aus dem vorwiegend mahnenden Charakter der parlamentarischen Rüge folgt, daß dieses Ordnungsmittel in der Regel nicht die verfassungsmäßigen Rechte des Abgeordneten, gegen den sie sich richtet, beeinträchtigen kann. Eine Rüge durch den Präsidenten bringt zwar auch eine Mißbilligung der Äußerung oder des Verhaltens eines Abgeordneten zum Ausdruck, hat jedoch weder unmittelbar noch mittelbar einen Rechtsnachteil zur Folge.
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b) Eine rechtserhebliche Wirkung der hier beanstandeten Rüge läßt sich auch nicht im Blick auf mögliche künftige Reden des Antragstellers im Bundestag mit der Erwägung rechtfertigen, eine gleiche Äußerung könne mit einem Ordnungsruf sanktioniert werden und nach zwei weiteren Ordnungsrufen während derselben Rede zur Entziehung des Wortes führen (§ 37 GO). Denn diese Erwägung beträfe nicht mehr die Verfassungswidrigkeit der Rüge selbst.
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Zeidler, Rinck, Wand, Dr. Rottmann, Dr. Dr. h. c. Niebler, Steinberger, Träger, Mahrenholz |