BVerfGE 99, 273 - Kinderexistenzminimum III |
Zum von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden einkommensteuerlichen Kinderexistenzminimum für zwei Kinder in den Veranlagungszeiträumen 1987 und 1988. |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 10. November 1998 |
-- 2 BvR 1852, 1853/97 -- |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. a) des Herrn Dr. R... , b) der Frau R..., gegen a) das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 22. Juli 1997 -- VI R 121/90 --, b) mittelbar § 32 Abs. 6 EStG -- 2 BvR 1852/97 --, 2. a) des Herrn S..., b) der Frau S... gegen a) das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 22. Juli 1997 -- VI R 147/90 --, b) mittelbar § 32 Abs. 6 EStG -- 2 BvR 1853/97 -- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Gerhard Geckle, Schwabentorring 2, Freiburg i.B. --. |
Entscheidungsformel: |
1. § 32 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 vom 26. Juni 1985 (Bundesgesetzbl. I Seite 1153) ist in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum des Jahres 1987 mit Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit er die Aufwendungen für Kinderunterhalt für zwei Kinder regelt. |
2. § 32 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 vom 26. Juni 1985 (Bundesgesetzbl. I Seite 1153) ist in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum des Jahres 1988 mit Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit er die Aufwendungen für Kinderunterhalt für zwei Kinder regelt. |
3. Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 22. Juli 1997 - VI R 121/90 - verletzt die Beschwerdeführer zu 1. in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. |
4. Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 22. Juli 1997 - VI R 147/90 - verletzt die Beschwerdeführer zu 2. in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. |
5. Die Sachen werden an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen. |
6. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern der beiden Verfahren die notwendigen Auslagen zu erstatten. |
Gründe: |
A. |
Streitig ist, ob die den Beschwerdeführern für jeweils zwei Kinder gewährten einkommensteuerlichen Kinderfreibeträge in den Veranlagungszeiträumen 1987 (2 BvR 1852/97) und 1988 (2 BvR 1853/97) den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen.
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I. |
1. Die verheirateten und jeweils gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagten Beschwerdeführer beider Verfahren erhielten für die Veranlagungszeiträume 1987 und 1988 für ihre beiden Kinder Kinderfreibeträge in Höhe von jeweils insgesamt 4.968 DM (2 x 2.484 DM). Sie wandten sich mit Einspruch, Klage und Revision im Ergebnis erfolglos gegen die nach ihrer Ansicht zu gering bemessenen und daher verfassungswidrigen Kinderfreibeträgen gemäß § 32 EStG.
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2. Der Bundesfinanzhof bekundete zwar Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 32 Abs. 6 EStG i.d.F. des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 i.V.m. § 10 Abs. 1 und 2 BKGG vom 21. Januar 1986 (BGBl I S. 222), konnte sich aber letztlich von der Verfassungswidrigkeit dieser Regelung nicht überzeugen (Urteil vom 22. Juli 1997 - VI R 121/90 -, BStBl II 1997, S. 692 = BFHE 183, 538; Urteil vom 22. Juli 1997 - VI R 147/90 -, BStBl II 1997, S. 694 = BFHE 183, 544). Das Finanzgericht habe rechtsfehlerfrei entschieden, daß den Klägern in den jeweiligen Verfahren keine höheren Kinderfreibeträge zu gewähren seien. Es sei zwar zweifelhaft, ob § 32 Abs. 6 EStG i.V.m. § 10 Abs. 1 und 2 BKGG unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch mit dem Grundgesetz vereinbar sei, soweit Steuerpflichtige mit zwei Kindern und einem auf den Sockelbetrag geminderten Kindergeld gemäß § 10 Abs. 2 BKGG betroffen seien. Angesichts der unterschiedlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen, auf welche die Bemessung der Kinderentlastung in vertretbarer Weise gestützt werden könne, sei der Senat jedoch nicht überzeugt, daß diese Regelungen unter Berücksichtigung des dem Gesetzgeber einzuräumenden Entscheidungsraums mit dem Grundgesetz unvereinbar seien.
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II. |
Die Beschwerdeführer wenden sich jeweils gegen die Revisionsentscheidungen des Bundesfinanzhofs und mittelbar gegen § 32 Abs. 6 EStG und rügen die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und 2, Art. 20 Abs. 1 GG sowie Art. 100 i.V.m. Art. 101 GG.
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1. Die Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 1852/97 errechnen für das Jahr 1987 auf der Grundlage des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 1994 (BVerfGE 91, 93) nach der dort angenommenen durchschnittlichen jährlichen Sozialhilfe für Kinder in Höhe von 11.232 DM Abweichungen zwischen dem tatsächlichen Existenzminimum und dessen gesetzlicher Berücksichtigung zwischen 13,03 % und 23,72 % je nach dem bei der Umrechnung von Kindergeld in einen Kinderfreibetrag zugrunde gelegten Grenzsteuersatz. Die Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 1853/97 errechnen nach derselben Methode für den dort streitigen Veranlagungszeitraum 1988 Abweichungen zwischen 15,06 % und 25,50 %.
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2. Die Abweichungen seien so schwerwiegend, daß eine Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge gegeben sei. Von entscheidender Bedeutung sei, daß die von der Finanzrechtsprechung, insbesondere vom Bundesfinanzhof, ermittelten Bedarfswerte sich am extremen unteren Rand bewegten. Das Bundesverfassungsgericht habe sich demgegenüber an die vorgelegten Zahlen des Bundesministers für Familie und Senioren gehalten, der den durchschnittlichen Sozialhilfebedarf der Kinder dargelegt habe.
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Nach der Begründung des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 (BTDrucks 10/2884, S. 96, 100) sollte der Kinderfreibetrag seit dem 1. Januar 1986 nicht nur das allgemeine Kinderexistenzminimum abdecken, sondern daneben auch kindbedingte Vorsorgeaufwendungen von der Steuer freistellen. Die Vorsorgeaufwendungen für zwei Kinder beliefen sich schon 1987 auf 454 DM pro Jahr, so daß diese bei den Vergleichsberechnungen jedenfalls mit 400 DM berücksichtigt werden könnten. Der Abschlag sei auch von der steuerlichen Systematik her notwendig.
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B. -- I. |
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden sind zulässig und begründet. § 32 Abs. 6 EStG war in seiner Anwendung auf die Veranlagungszeiträume der Jahre 1987 und 1988 in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar. Insoweit gelten die im Beschluß vom 10. November 1998 im Verfahren BVerfGE 99, 246 dargelegten Maßstäbe entsprechend. Nach den dort getroffenen Klarstellungen bildet das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum die Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum, die über-, aber nicht unterschritten werden darf. Der Wohnbedarf ist nach dem Mehrbedarf, nicht nach der Pro-Kopf-Methode zu ermitteln. Das damit quantifizierte steuerliche Existenzminimum ist für alle Steuerpflichtigen - unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz - in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen.
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Nach diesen Maßstäben ist der Familienleistungsausgleich für zwei Kinder im Veranlagungszeitraum 1987 verfassungswidrig. Gleiches gilt für den Familienleistungsausgleich des Veranlagungszeitraums 1988.
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1. Unter Berücksichtigung der auch vom Bundesfinanzhof in den Revisionsverfahren zugrunde gelegten Grenzsteuersätze der Beschwerdeführer in Höhe von 40 % bleibt das gesetzlich anerkannte Existenzminimum für zwei Kinder im Veranlagungszeitraum 1987 hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestbedarf um 264 DM jährlich, im Veranlagungszeitraum 1988 um 576 DM jährlich zurück.
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Der existenznotwendige Mindestbedarf bemißt sich nach der von der Bundesregierung zugrunde gelegten Methode zur Ermittlung des jeweiligen Mindestbedarfs (vgl. BVerfG, Beschluß des Zweiten Senats vom 10. November 1998 - 2 BvL 42/93 - unter C.I.6.a) und beträgt damit im Veranlagungszeitraum 1987 4.416 DM pro Kind und Jahr und 8.832 DM für die beiden Kinder der Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 1852/97.
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Die nach derselben Methode zu ermittelnden existenznotwendigen Mindestbedarfswerte von Kindern im Veranlagungszeitraum 1988 betragen unter Zugrundelegung der von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen 4.572 DM für ein Kind und damit für die beiden Kinder der Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 1853/97 9.144 DM jährlich. Dieser Mindestbedarf errechnet sich aus dem Sozialhilferegelsatz für Kinder in Höhe von 259 DM, einmaligen Leistungen in Höhe von 44 DM, einem Mietmehrbedarf in Höhe von 64 DM und Heizkosten in Höhe von 14 DM für jedes Kind pro Monat. Daraus ergibt sich ein Monatsbedarf von 381 DM, ein Jahresbedarf von 4.572 DM.
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2. Die Abweichungen zwischen dem gesetzlich anerkannten und dem verfassungsrechtlich gebotenen Bedarf geben nachstehende Tabellen zusammenfassend wieder:
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Veranlagungszeitraum 1987 2 Kinder gesetzliche Berücksichtigung bei Grenzsteuersatz: Bedarf, Differenz 30 % 9.768: 8.832,+ 936 40 % 8.568: 8.832,- 264 50 % 7.848: 8.832, - 984 56 % 7.539: 8.832, - 1.293 |
Veranlagungszeitraum 1988 2 Kinder gesetzliche Berücksichtigung bei Grenzsteuersatz: Bedarf, Differenz 30 % 9.768: 9.144, + 624 40 % 8.568: 9.144, - 576 50 % 7.848: 9.144, - 1.296 56 % 7.539: 9.144, - 1.605 |
II. |
Die Sachen waren an den Bundesfinanzhof zurückzuverweisen. Dieser wird zu prüfen haben, ob er die Einkommensteuern der Beschwerdeführer auch ohne gesetzliche Änderung des § 32 Abs. 6 EStG entsprechend dem Grundgedanken der §§ 163, 227 AO in den Höhen erlassen kann, die sich ergäben, wenn die jeweils von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden Kinderexistenzminima in Form eines Kinderfreibetrages unter Einrechnung der individuellen Grenzsteuersätze der Beschwerdeführer gewährt würden.
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Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungspflicht zum Billigkeitserlaß festgestellt, wenn die Anwendung eines nicht zu beanstandenden Gesetzes in Einzelfällen zu einem "ungewollten Überhang" führen würde (vgl. z.B. BVerfGE 48, 102 [116]). In ähnlicher Weise könnte der Bundesfinanzhof sich zu der Prüfung veranlaßt sehen, im Ausgangsverfahren und in allen bei ihm anhängigen Parallelverfahren eine verfassungsrechtlich veranlaßte Herabsetzung der Steuerschuld zu prüfen, die auch ohne Durchführung eines getrennten Billigkeitsverfahrens den dort das Revisionsverfahren führenden Eltern ihr verfassungsrechtlich gebotenes Kindesexistenzminimum gewährt und damit eine gesetzliche Neuregelung mit Wirkung für zurückliegende Veranlagungsjahre in wenigen Fällen erübrigt. Anderenfalls wäre der Gesetzgeber verpflichtet, in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben. In jedem Fall steht es ihm frei, die verfassungsrechtlich gebotene Änderung durch eine Anhebung des einkommensteuerlichen Kinderfreibetrages, durch eine Anhebung des Kindergeldes oder durch eine anderweitige Ausgleichsregelung vorzunehmen (vgl. BVerfGE 82, 60 [97]; 82, 198 [208]).
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C. |
Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Limbach, Kirchhof, Winter, Sommer, Jentsch, Hassemer, Broß, Osterloh |