BVerfGE 146, 71 - Tarifeinheitsgesetz |
1. Das Freiheitsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG schützt alle koalitionsspeziflschen Verhaltensweisen, insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen, deren Bestand und Anwendung sowie Arbeitskampfmaßnahmen. Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen. |
2. Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Koalitionen in ihrem Bestand, ohne dass damit eine Bestandsgarantie für einzelne Koalitionen verbunden wäre. Staatliche Maßnahmen, die darauf zielen, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen herauszudrängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen die Existenzgrundlage zu entziehen, sind mit Art. 9 Abs. 3 GG ebenso unvereinbar wie die Vorgabe eines bestimmten Proflls. |
3. Gesetzliche Regelungen, die in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fallen, und die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie herstellen und sichern sollen, verfolgen einen legitimen Zweck. Dazu kann der Gesetzgeber nicht nur zwischen den sich gegenüberstehenden Tarifvertragsparteien Parität herstellen, sondern auch Regelungen zum Verhältnis der Tarifvertragsparteien auf derselben Seite treffen, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen auch insofern einen fairen Ausgleich ermöglichen und in Tarifverträgen mit der ihnen innewohnenden Richtigkeitsvermutung angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können. |
4. Bei der Regelung der Strukturbedingungen der Tarifautonomie verfügt der Gesetzgeber über eine Einschätzungsprärogative und einen weiten Handlungsspielraum. Schwierigkeiten, die sich nur daraus ergeben, dass auf einer Seite mehrere Tarifvertragsparteien auftreten, rechtfertigen eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit grundsätzlich nicht. |
Urteil |
des Ersten Senats vom 11. Juli 2017 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24. und 25. Januar 2017 |
-- 1 BvR 1571, 1588, 2883/15, 1043, 1477/16 -- |
in den Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. des Marburger Bundes, Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands e.V., Bundesverband, vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den Ersten Vorsitzenden Rudolf Henke und den Zweiten Vorsitzenden Dr. Andreas Botzlar, Reinhardtstraße 36, 10117 Berlin, -- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Frank Schorkopf, Ehrengard-Schramm-Weg 5, 37085 Göttingen -- gegen Art. 1 Nr. 1 und Art. 2 Nr. 2 und 3 des Gesetzes zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (BGBl. I S. 1130) -- 1 BvR 1571/15 --, 2. der Vereinigung Cockpit e.V., vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den Präsidenten Ilja Schulz, Unterschweinstiege 10, 60549 Frankfurt, -- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Baum, Reiter & Collegen, Benrather Schlossallee 101, 40597 Düsseldorf -- gegen § 4a Abs. 1 und Abs. 2 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) in der Fassung vom 3. Juli 2015 (BGBl. I S. 1130) -- 1 BvR 1588/15 --, 3. a) des dbb beamtenbund und tarifunion (dbb), vertreten durch die Bundesleitung, diese vertreten durch den Bundesvorsitzenden Klaus Dauderstädt und den Fachvorstand Tarifpolitik, den Zweiten Vorsitzenden Willi Russ, Friedrichstraße 169/170, 10117 Berlin, b) der Nahverkehrsgewerkschaft (NahVG), vertreten durch ihren Bundesvorsitzenden Axel Schad, Longericher Straße 205, 50739 Köln, c) des Herrn R. -- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Geierweg 20, 72144 Dußlingen -- gegen das Tarifeinheitsgesetz vom 3. Juli 2015 (BGBl. I S. 1130) -- 1 BvR 2883/15 --, 4. der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, vertreten durch den Bundesvorstand, dieser vertreten durch den Bundesvorsitzenden Frank Bsirske sowie die stellvertretende Bundesvorsitzende Andrea Kocsis, Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin, -- Bevollmächtigte: 1. Apl. Prof. Dr. Jens M. Schubert, Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin 2. Rechtsanwalt Prof. Dr. Henner Wolter, Witzlebenstraße 31, 14057 Berlin -- gegen Artikel 1 Nummer 1 des Gesetzes zur Tarifeinheit (§ 4a TVG) vom 3. Juli 2015 (BGBl. I S.1130) -- 1 BvR 1043/16 --, 5. der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation e.V. (UFO), vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Alexander Behrens und das Vorstandsmitglied Christoph Drescher, Farmstraße 118, 64546 Mörfelden-Walldorf, -- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Matthias Jacobs, c/o Bucerius Law School, Jungiusstraße 6, 20355 Hamburg -- gegen Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Tarifeinheit (TEG) vom 3. Juli 2015 (BGBl. I S. 1130), insbesondere gegen § 4a Abs. 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) -- 1 BvR 1477/16 --. |
Entscheidungsformel: |
1. § 4a des Tarifvertragsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (Bundesgesetzblatt I Seite 1130) ist insoweit mit Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes nicht vereinbar, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden. |
2. Im Übrigen ist das Gesetz zur Tarifeinheit nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz vereinbar. Insoweit werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen. |
3. Bis zu einer Neuregelung gilt § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes mit der Maßgabe fort, dass ein Tarifvertrag von einem kollidierenden Tarifvertrag nur verdrängt werden kann, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. |
4. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführenden ein Drittel ihrer notwendigen Auslagen aus den Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. |
5. Der Gegenstandswert der Verfassungsbeschwerden wird auf jeweils 500.000 € (in Worten: fünfhunderttausend Euro) festgesetzt. |
Gründe: |
A. |
Mit den Verfassungsbeschwerden wenden sich Berufsgruppengewerkschaften, Branchengewerkschaften, ein Spitzenverband sowie ein Gewerkschaftsmitglied gegen das Gesetz zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (Tarifeinheitsgesetz, BGBl. I S. 1130). Mit ihm hat der Gesetzgeber das Tarifvertragsgesetz (TVG) geändert und Verfahrensregelungen in das Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) eingefügt.
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I. |
Die Vorschriften des Tarifeinheitsgesetzes regeln Konflikte im Zusammenhang mit der Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb.
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In Betrieben und Unternehmen finden regelmäßig mehrere Tarifverträge Anwendung. Arbeitgeber tarifieren oft mit mehreren Gewerkschaften, die nach ihren Satzungen unterschiedlich ausgerichtet sind. Das Tarifeinheitsgesetz knüpft hieran an. Dabei richtet es sich nicht gegen die Tarifpluralität als solche, sondern regelt die Auflösung von Tarifkollisionen. Darunter sind Situationen zu verstehen, in denen nicht inhaltsgleiche Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften für dieselben Beschäftigtengruppen gelten. Wenn sich in einem Betrieb für dieselben Beschäftigtengruppen divergierende Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden, ist nach der Neuregelung grundsätzlich nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat; der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft wird verdrängt.
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Diese Regelung zielt in erster Linie darauf, Vorwirkungen zu entfalten (vgl. BTDrucks 18/4026, S. 9, 15). Die drohende Möglichkeit der Unanwendbarkeit von Tarifverträgen in Abhängigkeit von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen der von ihnen organisierten Beschäftigten im Betrieb soll für die Gewerkschaften strukturelle Anreize setzen, die Organisation und Durchsetzung gewerkschaftlicher Interessen so zu gestalten, dass Tarifkollisionen nach Möglichkeit vermieden werden. Das soll einem rein eigennützigen, strukturell unfairen Aushandeln von Tarifverträgen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Schlüsselposition sowie einer hierdurch drohenden Entsolidarisierung innerhalb der Arbeitnehmerschaft entgegenwirken, um so die Schutzfunktion des Tarifvertrags zu stärken.
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II. |
1. Wie solche Tarifkonflikte gelöst werden sollen, wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert. Gesetzlich geregelt wurde die Frage bislang nicht. Es wurde davon ausgegangen, dass Branchengewerkschaften als "Einheitsgewerkschaften" nach dem Industrieverbandsprinzip agieren würden (vgl. die Materialien zur Entstehung des Tarifvertragsgesetzes vom 9. April 1949, ZfA 1973, S. 129 [146]). Mangels gesetzlicher Regelung entwickelte daraufhin die Rechtsprechung Grundsätze, um auf Konflikte zu reagieren, die durch die parallele Geltung mehrerer Tarifverträge hervorgerufen wurden. Diese Fälle waren selten und wurden vom Bundesarbeitsgericht nach dem Spezialitätsprinzip der Sachnähe in einem Betrieb entschieden und auf diese Weise dort Tarifeinheit hergestellt. Danach setzt sich bei einer Tarifkollision im Betrieb derjenige Tarifvertrag durch, der diesem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht und deshalb seinen Erfordernissen und Eigenarten am ehesten gerecht wird, also insofern spezieller ist (vgl. BAG, Urteil vom 29. März 1957 -- 1 AZR 208/55 --, juris, Rn. 7; Urteil vom 14. Juni 1989 -- 4 AZR 200/89 --, juris, Rn. 21 ff.; Urteil vom 5. September 1990 -- 4 AZR 59/90 --, juris, Rn. 16 ff.; Urteil vom 20. März 1991 -- 4 AZR 455/90 --, juris, Rn. 28; zur Kollision von betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Normen BAG, Urteil vom 9. Dezember 2009 -- 4 AZR 190/08 --, juris, Rn. 49). Einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG sah das Bundesarbeitsgericht hierin zunächst nicht, denn das Grundrecht der Koalitionsfreiheit schütze nur einen Kernbereich, der durch die Verdrängung eines Tarifvertrags nicht berührt werde (vgl. BAG, Urteil vom 20. März 1991 -- 4 AZR 455/90 --, juris, Rn. 27). Das Spezialitätsprinzip findet auch heute Anwendung, wenn im einzelnen Arbeitsverhältnis eine Tarifkonkurrenz auftritt.
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Diese Rechtsprechung stieß zunächst auf breite Zustimmung in der Arbeitsrechtswissenschaft (etwa Hromadka, NZA 2008, S. 384; m.w.N. Hopfner, Grundgesetz und gesetzliche Tarifeinheit bei Tarifpluralität, 2015, S. 37 Fn. 72), doch mehrten sich die kritischen Stimmen (Zusammenstellung in BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010 -- 4 AZR 549/08 (A) --, juris, Rn. 42; Schliemann, in: Festschrift für Wolfgang Hromadka, 2008, S. 359 Fn. 4), auch innerhalb des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG, Urteil vom 26. Januar 1994 -- 10 AZR 611/92 --, juris, Rn. 58 ff.; Beschluss vom 22. März 1994 -- 1 ABR 47/93 --, juris, Rn. 36) und in den Instanzen (Hessisches LAG, Urteil vom 2. Mai 2003 -- 9 SaGa 637/03 --, juris, Rn. 36; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14. Juni 2007 -- 11 Sa 208/07 --, juris, Rn. 71 ff.; Sächsisches LAG, Urteil vom 2. November 2007 -- 7 SaGa 19/07 --, juris, Rn. 134 ff.).
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2. Im Jahr 2010 gab das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung zur Tarifeinheit im Fall einer unmittelbaren Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 TVG auf (angekündigt in BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010 -- 4 AZR 549/08 (A) --, juris, Rn. 43; sodann BAG, Urteil vom 7. Juli 2010 -- 4 AZR 549/08 --, juris). Die Tarifpluralität sei direkte Folge der unmittelbaren Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 1 TVG und könne nicht nach dem Grundsatz der Tarifeinheit dahingehend aufgelöst werden, dass nur ein Tarifvertrag "für den Betrieb" gelte. Ein solcher Rechtsgrundsatz bestehe nicht. Die nach § 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen geltenden tariflichen Normen müssten auch nicht aufgrund praktischer Schwierigkeiten verdrängt werden. Die Gefahr ständiger Tarifauseinandersetzungen und Streiks sei eine Frage des Arbeitskampfrechts und dort zu lösen. Richterliche Rechtsfortbildung komme nicht in Betracht, denn das Tarifvertragsrecht enthalte keine planwidrige Regelungslücke. Vielmehr werde mit § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB die Existenz parallel anwendbarer tarifvertraglicher Regelungswerke in einem Betrieb anerkannt. Daher liege in der Verdrängung eines Tarifvertrags ein gesetzlich nicht gerechtfertigter Eingriff in die nach Art. 9 Abs. 3 GG geschützte kollektive Koalitionsfreiheit der tarifschließenden Gewerkschaft und in die individuelle Koalitionsfreiheit des an diesen gebundenen Gewerkschaftsmitglieds. Der Schutz sei nicht auf einen Kern beschränkt. Ob der einfache Gesetzgeber zu einem derart weit reichenden Eingriff verfassungsrechtlich befugt sei, könne im Ergebnis offenbleiben (vgl. BAG, Urteil vom 7. Juli 2010 -- 4 AZR 549/08 --, juris, Rn. 52 ff., 65).
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3. Auf die Rechtsprechungsänderung setzte eine rechtspolitische Diskussion ein, ob und wie hierauf zu reagieren sei.
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a) Ausgangspunkt dieser Diskussion war die von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) veröffentlichte, als Eckpunktepapier bezeichnete Erklärung "Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern -- Tarifeinheit gesetzlich regeln" vom 4. Juni 2010. Der Grundsatz der Tarifeinheit sei gesetzlich zu regeln und das Arbeitskampfrecht einzuschränken: Bei kollidierenden, von verschiedenen Gewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträgen solle der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft zur Anwendung kommen, die im Betrieb mehr Mitglieder hat, und im Arbeitskampfrecht solle die Friedenspflicht für die Mehrheitsgewerkschaft während der Laufzeit auch auf die Minderheitsgewerkschaften erstreckt werden. Der Bundesrat unterstützte dies durch einen Entschließungsantrag (BRDrucks 417/10). Der DGB verließ die Initiative allerdings nach einem Jahr, auch weil insbesondere die hier beschwerdeführende Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di den Vorschlag nicht unterstützte.
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b) Die von der Bundesregierung als Beratungsgremium für Wettbewerbsfragen eingesetzte Monopolkommission sah es als Aufgabe an, Instrumente zu entwickeln, die der Tarifpluralität entgegen wirkten; es gebe mehrere Lösungsmöglichkeiten. Auf eine Handlungsempfehlung wurde indes ausdrücklich verzichtet (vgl. BTDrucks 17/2600, S. 352 f. Rn. 1008 ff.). Weitere Vorschläge betrafen die Auflösung der Tarifpluralität durch eine "Tarifeinheit in der Sparte" (Bayreuther u.a., Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, 2011, S. 44 ff.), ein betriebs- oder unternehmensbezogenes Mehrheitsprinzip mit starken Minderheitenrechten (Greiner, in: Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, 2014, Band II/2, K 190 [K 192 ff.]) oder Änderungen des Arbeitskampfrechts (Henssler, RdA 2011, S. 65 [71 ff.]), insbesondere in der Daseinsvorsorge (Franzen u.a., Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, 2012, im Jahr 2015 übernommen in einen Entschließungsantrag des Bundesrates, BRDrucks 294/15).
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c) Im von CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode im Jahr 2013 abgeschlossenen Koalitionsvertrag wurde dann vereinbart, "den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken"; dafür wolle man "den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesetzlich festschreiben" (Deutschlands Zukunft gestalten -- Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD -- 18. Legislaturperiode, S. 50). Darauf gehen die vorliegend angegriffenen Regelungen zurück.
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III. |
Das mit den Verfassungsbeschwerden angegriffene Tarifeinheitsgesetz sieht vor, dass Tarifkollisionen im Betrieb nach einem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip aufgelöst werden. Es ändert das Tarifvertragsgesetz und ergänzt Regelungen im Arbeitsgerichtsgesetz. Dazu ordnet es die Verdrängung des Tarifvertrags der Gewerkschaft an, die weniger Mitglieder im Betrieb organisiert, und regelt ein Beschlussverfahren zur Feststellung dieser Mehrheit. Tarifverhandlungen müssen nun anderen Gewerkschaften im Betrieb bekanntgegeben werden. Diese Gewerkschaften müssen vom Arbeitgeber angehört werden, wenn andere Gewerkschaften mit ihm für einen Betrieb verhandeln, für den auch sie tarifieren wollen. Normiert wird ein Anspruch auf Nachzeichnung des verdrängenden Tarifvertrags, wenn der eigene Tarifvertrag nicht zur Anwendung kommt. Der Gesetzgeber reagiert damit ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs auf die Rechtsprechungsänderung durch das Bundesarbeitsgericht (oben A II 2 Rn. 7). Durch nun mögliche Tarifkollisionen sei die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beeinträchtigt (BTDrucks 18/4062, S. 1).
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1. Die angegriffenen Vorschriften lauten:
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(1) Zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags werden Tarifkollisionen im Betrieb vermieden. (2) Der Arbeitgeber kann nach § 3 an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden sein. Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, ist dieser für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich. Als Betriebe gelten auch ein Betrieb nach § 1 Absatz 1 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes und ein durch Tarifvertrag nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 bis 3 des Betriebsverfassungsgesetzes errichteter Betrieb, es sei denn, dies steht den Zielen des Absatzes 1 offensichtlich entgegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Betriebe von Tarifvertragsparteien unterschiedlichen Wirtschaftszweigen oder deren Wertschöpfungsketten zugeordnet worden sind. (3) Für Rechtsnormen eines Tarifvertrags über eine betriebsverfassungsrechtliche Frage nach § 3 Absatz 1 und § 117 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes gilt Absatz 2 Satz 2 nur, wenn diese be triebsverfassungsrechtliche Frage bereits durch Tarifvertrag einer anderen Gewerkschaft geregelt ist. (4) Eine Gewerkschaft kann vom Arbeitgeber oder von der Vereinigung der Arbeitgeber die Nachzeichnung der Rechtsnormen eines mit ihrem Tarifvertrag kollidierenden Tarifvertrags verlangen. Der Anspruch auf Nachzeichnung beinhaltet den Abschluss eines die Rechtsnormen des kollidierenden Tarifvertrags enthaltenden Tarifvertrags, soweit sich die Geltungsbereiche und Rechtsnormen der Tarifverträge überschneiden. Die Rechtsnormen eines nach Satz 1 nachgezeichneten Tarifvertrags gelten unmittelbar und zwingend, soweit der Tarifvertrag der nachzeichnenden Gewerkschaft nach Absatz 2 Satz 2 nicht zur Anwendung kommt. (5) Nimmt ein Arbeitgeber oder eine Vereinigung von Arbeitgebern mit einer Gewerkschaft Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags auf, ist der Arbeitgeber oder die Vereinigung von Arbeitgebern verpflichtet, dies rechtzeitig und in geeigneter Weise bekanntzugeben. Eine andere Gewerkschaft, zu deren satzungsgemäßen Aufgaben der Abschluss eines Tarifvertrags nach Satz 1 gehört, ist berechtigt, dem Arbeitgeber oder der Vereinigung von Arbeitgebern ihre Vorstellungen und Forderungen mündlich vorzutragen. |
(1) In den Fällen des § 2a Absatz 1 Nummer 6 wird das Verfahren auf Antrag einer Tarifvertragspartei eines kollidierenden Tarifvertrags eingeleitet. (2) Für das Verfahren sind die §§ 80 bis 82 Absatz 1 Satz 1, die §§ 83 bis 84 und 87 bis 96a entsprechend anzuwenden. (3) Der rechtskräftige Beschluss über den nach § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag wirkt für und gegen jedermann. (4) In den Fällen des § 2a Absatz 1 Nummer 6 findet eine Wiederaufnahme des Verfahrens auch dann statt, wenn die Entscheidung über den nach § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag darauf beruht, dass ein Beteiligter absichtlich unrichtige Angaben oder Aussagen gemacht hat. § 581 der Zivilprozessordnung findet keine Anwendung. |
"Es soll vermieden werden, dass die Entsolidarisierung der Belegschaften für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne hinreichende Schlüsselposition im Betriebsablauf in eine Entwertung der Schutzfunktion des Tarifvertrags münden kann. Nehmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit besonderen Schlüsselpositionen in den Betrieben ihre Interessen gesondert wahr, führt dies tendenziell zu einer Beeinträchtigung einer wirksamen kollektiven Interessenvertretung durch die übrigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die keine besonderen Schlüsselpositionen im Betriebsablauf innehaben. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne besondere Schlüsselposition im Betriebsablauf sind dann selbst kollektiv nur noch eingeschränkt in der Lage, auf Augenhöhe mit der Arbeitgeberseite zu verhandeln. Es handelt sich hierbei um einen schleichenden Prozess, dessen -- auch gesamtwirtschaftliche -- Auswirkungen schon rein faktisch nur schwierig rückgängig gemacht werden könnten." (BTDrucks 18/4062, S. 9)
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Wenn konkurrierende Tarifabschlüsse nicht den Wert verschiedener Arbeitsleistung innerhalb einer betrieblichen Gemeinschaft zueinander widerspiegelten, sondern primär Ausdruck der jeweiligen Schlüsselpositionen der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen im Betriebsablauf seien, werde überdies die Verteilungsfunktion des Tarifvertrags beeinträchtigt (BTDrucks 18/4062, S. 11 f.). Bei erfolgreichen Tarifverhandlungen einer Gewerkschaft verringere sich der Verteilungsspielraum für die anders- und nichtorganisierten Beschäftigten. Die Konkurrenz unterschiedlicher Tarifwerke könne darüber hinaus die Herstellung von Gesamtkompromissen gefährden, die vor allem in wirtschaftlichen Krisensituationen oftmals zur Beschäftigungssicherung erforderlich seien (a.a.O., S. 8). Auch sei die Befriedungsfunktion des Tarifvertrags durch Tarifkollisionen beeinträchtigt, weil innerbetriebliche Verteilungskämpfe aufträten und sich ein bereits tarifgebundener Arbeitgeber jederzeit einer Vielzahl weiterer Forderungen konkurrierender Gewerkschaften gegenübersehen könne (a.a.O., S. 8).
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3. a) § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG stellt klar, dass ein Arbeitgeber an mehrere Tarifverträge gebunden sein kann. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG normiert den Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb. Er greift subsidiär, wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, sich autonom abzustimmen und Tarifkollisionen entstehen. Eine solche liegt vor, wenn sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden, an die der Arbeitgeber nach § 3 TVG gebunden ist. Die Überschneidung muss in räumlicher, zeitlicher, betrieblich-fachlicher und persönlicher Hinsicht vorliegen. Nicht inhaltsgleich sind Tarifverträge, wenn unterschiedliche Gegenstände geregelt werden oder wenn derselbe Gegenstand unterschiedlich geregelt wird. Die Regelungsgegenstände der Tarifverträge müssen sich nicht decken; auch die teilweise Überschneidung wird erfasst (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 12 f.).
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Eine Tarifkollision wird nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG aufgelöst: Danach findet der Tarifvertrag, der von der Gewerkschaft geschlossen wurde, die im Betrieb weniger Mitglieder hat als die tarifierende Gewerkschaft mit den meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitgliedern, keine Anwendung, "soweit sich die Geltungsbereiche überschneiden". Der Tarifvertrag der im Betrieb kleineren Gewerkschaft gilt zwar weiterhin und bindet die Gewerkschaft insbesondere an die Friedenspflicht, vermittelt aber keine Ansprüche auf vereinbarte Leistungen. Für betriebsverfassungsrechtliche Normen im Sinne der § 3 Abs. 1 und § 117 Abs. 2 BetrVG gilt das Mehrheitsprinzip allerdings nur nach Maßgabe der Sonderregelung in § 4a Abs. 3 TVG; sie werden nicht verdrängt, wenn sie zwar im Minderheitstarifvertrag geregelt sind, der Mehrheitstarifvertrag dazu aber keine Aussage trifft. Das soll die Kontinuität tarifvertraglich geschaffener betriebsverfassungsrechtlicher Vertretungsstrukturen sichern (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 14).
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Im Betrieb soll nach dem Tarifeinheitsgesetz damit nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft Wirkung entfalten, die dort die meisten Mitglieder organisieren kann. Anknüpfungspunkt ist der Betrieb als die "Solidargemeinschaft", die gemeinsam arbeitstechnische Zwecke verfolgt (BTDrucks 18/4062, S. 13). Das kann nach § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG auch ein gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen oder ein Betrieb sein, den ein Organisationstarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG errichtet. Um Missbrauch zu verhindern, gilt dies nach § 4a Abs. 2 Satz 5 TVG nicht, wenn Einheiten von den Tarifvertragsparteien unterschiedlichen Wirtschaftszweigen zugeordnet werden.
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Die Neuregelung gilt nach § 13 Abs. 3 TVG nicht für bis zum 10. Juli 2015 geltende Tarifverträge, womit "der bereits ausgeübten Tarifautonomie im besonderen Maße Rechnung" getragen werden soll (BTDrucks 18/4062, S. 9).
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b) Eine Gewerkschaft, die einen kollidierenden Tarifvertrag geschlossen hat, kann nach § 4a Abs. 4 TVG von der Arbeitgeberseite die Nachzeichnung der Rechtsnormen eines Tarifvertrags einer konkurrierenden Gewerkschaft verlangen. Damit will der Gesetzgeber den Nachteilen entgegenwirken, die einer Gewerkschaft im Fall einer Tarifkollision entstehen können; sie könne so die Tariflosigkeit ihrer Mitglieder vermeiden (BTDrucks 18/4062, S. 14). Es komme nicht darauf an, ob und inwieweit der Tarifvertrag tatsächlich verdrängt würde, sondern genüge, wenn eine Gewerkschaft potentiell einen Nachteil erleiden könnte (a.a.O.).
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Nach § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG bezieht sich der Anspruch auf Nachzeichnung auf den Abschluss eines Tarifvertrags, "soweit sich die Geltungsbereiche und Rechtsnormen" überschneiden. Die Minderheitsgewerkschaft solle über den Mehrheitstarifvertrag nur so viel erhalten, wie dies dem Überschneidungsbereich der konkurrierenden Tarifverträge entspreche; nur insoweit könne ihr ein dem Ausgleich zugänglicher Nachteil entstehen (BTDrucks 18/4062, S. 14).
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c) Nach § 4a Abs. 5 Satz 1 TVG wird die Arbeitgeberseite verpflichtet, die Aufnahme von Tarifverhandlungen rechtzeitig und in geeigneter Weise bekanntzugeben. Das diene der innerbetrieblichen Tarifpublizität (BTDrucks 18/4062, S. 15). Daneben erweitert der modifizierte § 8 TVG die Verpflichtung des Arbeitgebers, abgeschlossene Tarifverträge im Betrieb bekanntzugeben.
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Andere Gewerkschaften, die nach ihrer Satzung ebenfalls tarifieren könnten, haben nach § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG zudem das Recht, vom Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband angehört zu werden. Sie sollen Gelegenheit erhalten, ihre Vorstellungen und Forderungen mündlich vorzutragen; ein Recht auf Verhandlungen oder Teilnahme daran sei das nicht. Doch handele es sich um ein materielles Recht, das die Gewerkschaften auch gerichtlich geltend machen könnten. Die Anhörung soll jedoch nicht Voraussetzung für den Abschluss eines anderen Tarifvertrags oder den Arbeitskampf sein; auch stehe die Anwendung des Grundsatzes der Tarifeinheit nicht unter dem Vorbehalt der Anhörung (BTDrucks 18/4062, S. 15).
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d) Welcher Tarifvertrag im Kollisionsfall gilt, kann nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 Abs. 1 ArbGG auf Antrag einer Tarifvertragspartei eines kollidierenden Tarifvertrags vom Arbeitsgericht im Beschlussverfahren festgestellt werden. Nicht antragsberechtigt sind einzelne abhängig Beschäftigte und die Arbeitgeber, die nicht selbst Partei eines kollidierenden Tarifvertrags sind. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts gilt nach § 99 Abs. 3 ArbGG mit Wirkung für alle. Das Gericht muss die betriebliche Mehrheit und damit die Zahl der Mitglieder einer Gewerkschaft in einem Betrieb feststellen, was nach der deklaratorischen Vorschrift des § 58 Abs. 3 ArbGG durch öffentliche Urkunden bewiesen werden kann (vgl. § 415 Abs. 1 ZPO und Bundesregierung, Antwort auf eine Kleine Anfrage, BTDrucks 18/4156, S. 17).
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4. Das Tarifeinheitsgesetz enthält keine Regeln zum Arbeitskampfrecht. In der Begründung zum Gesetzentwurf heißt es, dass über die Unverhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen im Einzelfall im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit gerichtlich zu entscheiden sei; ein Arbeitskampf, der auf einen nicht zur Anwendung kommenden Tarifvertrag gerichtet sei, diene nicht mehr der Sicherung der Tarifautonomie (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 12).
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IV. |
1. Der Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 1571/15 ist eine im Jahr 1947 gegründete, gewerkschaftliche, gesundheits- und berufspolitische Interessenvertretung der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte in Deutschland, der Marburger Bund, Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte e.V., mit -- im Jahr 2014 -- etwa 117.000 Mitgliedern. Zu seinen Aufgaben gehört, die Arbeitsbedingungen angestellter Ärztinnen und Ärzte durch Tarifverträge und sonstige Vereinbarungen mit Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden zu regeln (§ 2 Abs. 2 Buchst. b der Satzung).
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Für den Marburger Bund verhandelte lange die Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG) und dann ver.di -- Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft. Das ihnen übertragene Verhandlungsmandat wurde ver.di im Jahr 2005 jedoch entzogen, da sich die Berufsgruppe der Ärztinnen und Ärzte nicht mehr hinreichend vertreten sah. Seit 2006 schließt der Marburger Bund eigene Tarifverträge, wobei der beschwerdeführende Bundesverband tarifiert, wenn sich die räumlichen Geltungsbereiche der Tarifverträge über den Zuständigkeitsbereich eines Landesverbands hinaus erstrecken.
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Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Marburger Bund sowohl gegen § 4a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 TVG als auch gegen § 58 Abs. 3 sowie § 99 ArbGG und rügt eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG.
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a) Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig. Das Gesetz ordne an, dass kollidierende Tarifverträge verdrängt werden, beschränke mittelbar das Streikrecht und bezwecke die Offenlegung des Mitgliederbestandes. Der Marburger Bund sei davon selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen. Die Regelungen hätten sich bereits negativ auf seine Stellung als tariffähiger Verhandlungspartner ausgewirkt; Tarifverhandlungen seien unter Berufung auf das Tarifeinheitsgesetz verweigert worden. Er sei gezwungen, sein tarifpolitisches Verhalten zu ändern und Organisationsänderungen einzuleiten, wie den Wiedereintritt in Tarifgemeinschaften oder die Öffnung für andere Berufsgruppen. Die fehlende Streikmöglichkeit schwäche die Verhandlungsposition. Gegen die Regeln bestünden weder fachgerichtliche Rechtsbehelfe noch außergerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten; in der Sache gehe es um spezifisch verfassungsrechtliche Fragen.
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b) Die angegriffenen Regelungen verletzten die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit. Sie schütze die auf eine Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gerichtete Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und in ihren Betätigungen, dabei insbesondere das autonome Aushandeln von Tarifverträgen. Schon nach dem Wortlaut, wonach das Grundrecht für jedermann und für alle Berufe gelte, sei auch die Gewerkschaftspluralität geschützt. § 4a Abs. 2 TVG und § 58 Abs. 3, § 99 ArbGG bewirkten mehrfache Eingriffe in den Schutzbereich des Grundrechts.
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Die Nichtanwendung des Tarifvertrags der Minderheitsgewerkschaft im Kollisionsfall und die daraus resultierende Begrenzung von Arbeitskampfmaßnahmen sowie die Notwendigkeit, den Mitgliederbestand zum Nachweis der Mehrheit gewerkschaftlich organisierter Mitglieder im Betrieb offenzulegen, greife unmittelbar in die Tarifautonomie ein. Mittelbar-faktisch greife der Gesetzgeber in Art. 9 Abs. 3 GG ein, indem er das Recht auf selbständige Koalitionsverhandlungen und die Organisationshoheit von Gewerkschaften beschränke. Minderheitsgewerkschaften seien gezwungen, gegen ihren Willen strategische Organisationsentscheidungen zu treffen, wodurch der Gesetzgeber die Selbstorganisation der Koalitionen vorstrukturiere und deren Chancengleichheit beeinflusse. Zudem normiere der Gesetzgeber mit dem Tarifeinheitsgesetz das unausgesprochene Leitbild von Brancheneinheitsgewerkschaften, womit er die staatliche Neutralitätspflicht verletze.
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Der subsidiäre Charakter der Kollisionsregel lasse den Eingriff nicht entfallen, weil die Verdrängung des Minderheitstarifvertrags Vorwirkungen nicht als unbeabsichtigten Nebeneffekt, sondern als Hauptzweck des Gesetzes entfalte. Ebenso wenig entfalle der Eingriff, weil jede Gewerkschaft die Chance habe, ihrerseits Mehrheitsgewerkschaft zu werden. Das der Demokratietheorie entlehnte und auf politische Parteien bezogene Argument passe hier nicht. Es sei jedenfalls problematisch, dass das Tarifeinheitsgesetz Art. 9 Abs. 3 GG als Grundrecht des sozialen Ausgleichs nur auf der Arbeitnehmerseite ausgestalte. Es bräuchte besondere Gründe, warum der soziale Ausgleich nicht primär im Verhältnis des traditionellen Konflikts von Kapital und Arbeit verortet, sondern nur im Binnenverhältnis "Arbeit" gesehen werde.
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c) Die Eingriffe in Art. 9 Abs. 3 GG seien nicht zu rechtfertigen. Der Gesetzgeber verfolge nur teilweise legitime Ziele. Das seien der Schutz der Tarifautonomie und die in § 4a Abs. 1 TVG genannte Sicherung der Schutz- und Befriedungsfunktion des Tarifvertrags. Nicht legitim sei dagegen das Ziel, die Verteilungs- und Ordnungsfunktion zu regeln. Die Verteilung sei gerade von den Koalitionen auszuhandeln. Eine widerspruchsfreie Ordnung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb verändere den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG; das notstandsfeste Grundrecht erleide so eine formlose Verfassungsänderung. Reine Praktikabilitäts- und Zweckmäßigkeitserwägungen könnten zur Rechtfertigung nicht herangezogen werden. Auf durch Arbeitskampfmaßnahmen betroffene Rechte Dritter ziele das Gesetz überhaupt nicht ab.
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Der Gesetzgeber dürfe auch bei legitimer Zielsetzung nur eingreifen, wenn ein korrekturbedürftiger Zustand vorliege, also etwa strukturelle Ungleichgewichte ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zuließen. Erforderlich sei keine antizipierte abstrakte Möglichkeit, sondern eine sich über längere Zeit konkret negativ auswirkende Tarifautonomiepraxis. Es gebe jedoch keinen Kausalzusammenhang zwischen Tarifpluralität und den behaupteten Funktionseinbußen; insoweit fehlten belegbare Tatsachen.
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Das Tarifeinheitsgesetz sei zur Zweckerreichung nicht geeignet. Es entlaste die Arbeitgeberseite nicht von Tarifverhandlungen mit konkurrierenden Gewerkschaften und Tarifforderungen, schaffe aber neues Konfliktpotenzial. Insbesondere sei ein aggressiver Wettbewerb um Mitglieder zu erwarten. Das Mehrheitsprinzip passe schon kategorial nicht zu einem Freiheitsrecht, das gerade dem Schutz der Minderheit gegen den Mehrheitswillen in der Demokratie diene. Die befriedende Funktion des Flächentarifvertrags werde in Frage gestellt. Soweit mit dem Tarifeinheitsgesetz eine Anreizstruktur geschaffen werden solle, dass sich konkurrierende Gewerkschaften abstimmten, könnten die Adressaten das nicht durch eigenes Verhalten erreichen, denn sie seien immer auch von der Konkurrenzgewerkschaft abhängig. Auch das Nachzeichnungsrecht in § 4a Abs. 4 TVG sei nicht geeignet, die Minderheitsgewerkschaft zu schützen; verweigere ihr die Arbeitgeberseite von vornherein einen Tarifabschluss, könne sie dieses nicht nutzen. Der Betrieb sei nicht eindeutig zu bestimmen und die Mehrheitsverhältnisse seien kaum feststellbar.
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Das Tarifeinheitsgesetz sei nicht erforderlich. Es gebe andere Regelungsmöglichkeiten, die Tarifautonomie im Sinne des Gesetzgebers zu fördern und weniger intensiv in die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG einzugreifen. Das seien beispielsweise das Spezialitätsprinzip, das Modell einer dynamischen Repräsentativität, die Einbindung der Minderheitsgewerkschaft in die Tarifverhandlungen zwischen Mehrheitsgewerkschaft und Arbeitgeber, die Synchronisierung der Laufzeit konkurrierender Tarifverträge, die Vorgabe einer Verhandlungs- oder Streikführerschaft oder eine zwingende Schlichtung.
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Das Tarifeinheitsgesetz sei nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Mit den Kategorien der Mehrheits- und Minderheitsgewerkschaft ändere es das Gewerkschaftsgefüge und habe erhebliche Vorwirkungen auf die Tariflandschaft. Minderheitsgewerkschaften trügen das Arbeitskampfrisiko. Berufsgruppengewerkschaften würden strukturell deutlich benachteiligt; das sei aber allenfalls durch eine Verfassungsänderung möglich, indem in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG "für alle Berufe" gestrichen werde. Eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch Streikhäufigkeit oder Ausnutzung von Schlüsselpositionen sei empirisch nicht nachweisbar.
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2. Der Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 1588/15 ist der im Jahr 1969 gegründete Verband für Verkehrsflugzeugführer und Flugingenieure in Deutschland, Vereinigung Cockpit e.V., dessen satzungsmäßiger Zweck der Zusammenschluss des Cockpitpersonals ist. Er hat etwa 9.300 Mitglieder. Zu den satzungsmäßigen Zielen gehört die Wahrung und Verfolgung seiner berufs- und tarifpolitischen Interessen. Die zunächst mit der DAG bestehende Tarifgemeinschaft endete im Jahr 2000. Seitdem handelt Cockpit tarifpolitisch eigenständig.
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Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich Cockpit gegen § 4a Abs. 1 und Abs. 2 TVG; die weiteren Vorschriften dienten der Umsetzung dieser Normen. Die Regelungen verletzten Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG.
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a) Die zulässige Verfassungsbeschwerde sei begründet. Der Gesetzgeber greife in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit ein, indem er tariffähigen Koalitionen die Fähigkeit nehme, Tarifverträge abzuschließen, und ein Haftungsrisiko erzeuge, was verhindere, Arbeitskämpfe durchzuführen. Das Gesetz entziehe einer Gewerkschaft den Kernbereich ihrer Betätigung, was faktisch einem Gewerkschaftsverbot gleichkomme. Mitglieder von Minderheitsgewerkschaften würden tariflos gestellt.
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b) Diese Eingriffe seien nicht zu rechtfertigen, weil Anhaltspunkte und insbesondere empirische Belege zu etwaigen negativen Folgen der Tarifpluralität im Betrieb fehlten. Das Gesetz halte auch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht stand. Legitime Zwecke seien die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und die Verhinderung einer Gefährdung der Verteilungsfunktion in Tarifverträgen. Andere als die in § 4a Abs. 1 TVG genannten Ziele könnten zur Rechtfertigung nicht herangezogen werden.
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Das Tarifeinheitsgesetz sei allenfalls mit Blick auf das Gleichbehandlungsgebot aller abhängig Beschäftigten als Aspekt der Verteilungsfunktion von Tarifverträgen ein geeignetes Mittel zur Zielerreichung. Das Mehrheitsprinzip sei dagegen ungeeignet, da es der Privat- und Tarifautonomie wesensfremd und systemwidrig sei. Es berge erhebliches Konfliktpotential und gefährde auch bislang funktionierende Kooperationsbeziehungen. Auch Mehrheitsgewerkschaften gäben einzelnen Berufsgruppen den Vorzug. Weiterhin könnten auch mehrere Gewerkschaften mit einem Arbeitgeber verhandeln.
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Es gebe mildere Mittel. Die Regelung sei im Übrigen unzumutbar. Sie schaffe keinen Ausgleich, sondern lasse die Koalitionsfreiheit der Minderheitsgewerkschaften völlig zurücktreten. Dagegen stünden weder Praktikabilitätsprobleme noch die Gleichbehandlung der Beschäftigten. Auch das Anhörungs- und das Nachzeichnungsrecht könnten den schwerwiegenden Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG nicht kompensieren.
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c) Das Tarifeinheitsgesetz verletze auch völkerrechtliche Vorschriften. Es verstoße gegen Art. 11 Abs. 1 EMRK und gegen die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) Nr. 87 und 98.
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3. Die Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 2883/15 sind der dbb beamtenbund und tarifunion (dbb), die Nahverkehrsgewerkschaft (NahVG) sowie eines ihrer Mitglieder.
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Der dbb ist als Spitzenorganisation im Sinne von § 2 Abs. 2 TVG ein Zusammenschluss von Gewerkschaften und Verbänden des öffentlichen Dienstes sowie des privaten Dienstleistungssektors in Deutschland. Nach seiner Satzung verfolgt er den Zweck, die Einzelmitglieder kollektiv zu vertreten und deren berufsbedingte rechtliche, wirtschaftliche, soziale und politische Belange zu fördern sowie Gemeinschaftsaufgaben wahrzunehmen. Dies erfolgt insbesondere durch das Aushandeln und die Vereinbarung von Tarifverträgen. Der dbb ist Vertragspartei zahlreicher Tarifverträge, darunter für den öffentlichen Dienst des Bundes und der Länder sowie im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände, und Partei zahlreicher Flächen- und Haustarifverträge, die er teils allein, teils als Mitglied einer Tarifgemeinschaft mit anderen Gewerkschaften verhandelt und eigenständig abgeschlossen hat.
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Die NahVG ist über die komba gewerkschaft mittelbare Mitgliedsgewerkschaft des dbb. Sie verfolgt nach ihrer Satzung das Ziel, die beruflichen, sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und ökologischen Interessen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern. Insbesondere will sie die Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder durch den Abschluss von Tarifverträgen verbessern. Über die NahVG organisiert der dbb bundesweit Mitglieder in allen Bereichen des Nahverkehrs. Nach § 16 der Satzung beschließt eine Tarifkommission die tarifpolitischen Ziele; Tarifverhandlungen führt eine Verhandlungsdelegation aus dbb und NahVG.
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Weiterer Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 2883/15 ist ein bei einem Nahverkehrsunternehmen beschäftigtes Mitglied der NahVG.
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Die gemeinsame Verfassungsbeschwerde richtet sich im Wesentlichen gegen § 4a TVG, gegen § 2a Abs. 1 Nr. 6 und § 99 ArbGG sowie gegen den auf § 4a TVG bezogenen § 58 Abs. 3 ArbGG. Gerügt wird insbesondere eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
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a) Die Beschwerdeführenden seien beschwerdebefugt. Dies gelte nicht nur mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG, sondern auch in Bezug auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, da das Tarifeinheitsgesetz offen lasse, wie die betriebliche Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder im Einzelnen zu bestimmen sei.
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b) Die Verfassungsbeschwerde sei begründet.
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aa) Mit dem Tarifeinheitsgesetz greife der Gesetzgeber nicht nur in die Koalitionsfreiheit der Koalitionen, sondern auch in die der einzelnen Gewerkschaftsmitglieder ein, weil diese ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr mit Hilfe der von ihnen frei gewählten Gewerkschaft verbessern könnten.
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Es lägen keine zur Rechtfertigung erforderlichen hinreichend gewichtigen Gründe des Gemeinwohls vor. Der Gesetzgeber habe den Sachverhalt nicht aufgeklärt, weshalb schon das Gesetzgebungsverfahren mangelhaft sei. Der Eingriff sei nicht zu rechtfertigen. Das Tarifeinheitsgesetz verletze den Grundsatz, dass Gewerkschaften gegnerunabhängig sein müssten, denn der Zuschnitt des Betriebes, den das Tarifeinheitsgesetz als Bezugsgröße benenne, werde entscheidend vom Arbeitgeber beeinflusst; er erhalte damit auf seine Gegner Einfluss.
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Der Eingriff sei unverhältnismäßig. Zwar sei die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ein legitimes Ziel, doch bestünden hinsichtlich der in § 4a Abs. 1 TVG benannten Teilziele Zweifel. So widerspreche die Verteilungsfunktion zur Herstellung innerbetrieblicher Lohngerechtigkeit mit Hilfe des Mehrheitsprinzips der in Art. 9 Abs. 3 GG angelegten Autonomie der Koalitionen. Das Mehrheitsprinzip sei auch zur Verwirklichung der Schutz- und Befriedungsfunktion ungeeignet. Es fehle ein Anreiz zur Kooperation, was bestehende Tarifgemeinschaften gefährde.
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Die Regelung sei nicht erforderlich, da zweifach überschießend: Verdrängt würden alle Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaft, obwohl die gewollte einheitliche und widerspruchsfreie Ordnung im Betrieb nicht gefährdet sei, wenn alle sich inhaltlich nicht überschneidenden Tarifverträge weiter zur Anwendung kämen. Verdrängt würden auch Tarifverträge einer Branchengewerkschaft, die aber nicht das Störpotential hätte, welches der Gesetzgeber den Berufsgruppengewerkschaften -- zu Unrecht -- zuschreibe.
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Das Tarifeinheitsgesetz sei unangemessen, denn die den Minderheitsgewerkschaften drohenden existenzgefährdenden Nachteile wögen jedenfalls schwerer als der höchst unsichere Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie.
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bb) Der Justizgewährungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sei verletzt, weil der Gesetzgeber kein gerichtliches Verfahren zur Verfügung stelle, das eine umfassende Prüfung in angemessener Zeit sichere. Mit Blick auf die Kumulation ungelöster Rechtsfragen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Laufzeit vieler Tarifverträge schon geendet habe, bevor eine rechtskräftige Entscheidung vorliege. Einzelne abhängig Beschäftigte, die tarifliche Ansprüche geltend machten, seien nicht in der Lage, schlüssig zur Anwendbarkeit des jeweiligen Tarifvertrags vorzutragen und Beweis anzubieten.
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4. Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 1043/16 ist die ver. di -- Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft. Ihr satzungsmäßiger Organisationsbereich umfasst zahlreiche Branchen, weshalb sie als Multibranchengewerkschaft bezeichnet wird. Sie ist nach dem Industrieverbandsprinzip gegliedert und geht nach § 5 Nr. 1 Satz 2 ihrer Satzung vom Grundsatz "Ein Betrieb -- eine Gewerkschaft -- ein Tarifvertrag" aus. Satzungsmäßiger Zweck ist unter anderem, die wirtschaftlichen und ökologischen, die sozialen, beruflichen und kulturellen Interessen der Mitglieder zu vertreten und zu fördern. Derzeit gehören ver.di etwa 2 Millionen Mitglieder an. Ver.di hat etwa 20.000 Tarifverträge als Haus- und Flächentarifverträge auf Landes- und Bundesebene abgeschlossen, in die meist sämtliche im Betrieb beschäftigten Berufsgruppen einbezogen werden.
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Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich ver.di unmittelbar gegen § 4a TVG und rügt eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG.
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a) Die Regelung des § 4a TVG greife mehrfach in Art. 9 Abs. 3 GG ein. Das gelte jedenfalls, wenn die in § 4a Abs. 2 TVG normierte Verdrängung von Gesetzes wegen unabhängig von einer Entscheidung im Verfahren nach § 99 ArbGG eintrete. Wenn sich ver.di in der Minderheitsposition befände, werde ein formell und inhaltlich wirksamer Tarifvertrag verdrängt, obwohl keine Tarifkonkurrenz vorliege. Dies gelte selbst dann, wenn der Mehrheitstarifvertrag Gegenstände des Minderheitstarifvertrags gar nicht normiere. Sei ver.di in der Mehrheit, liege ein Eingriff darin, dass sich Minderheitsgewerkschaften des von ver.di erzielten Ergebnisses im Wege der Nachzeichnung bedienen könnten, ohne hierfür finanzielle und organisatorische Mittel aufwenden zu müssen. Weitere Eingriffe seien darin zu sehen, dass die Kollisionsregel tarifpolitische Überlegungen beeinflusse. Zudem habe die vom Arbeitgeber auszuübende Organisationsgewalt über seinen Betrieb unmittelbaren Einfluss auf die Mehr- und Minderheitsverhältnisse und damit die Geltung ausgehandelter Tarifverträge. Als Eingriffe zu werten seien auch die mit der Mehrheitsfeststellung verbundenen negativen Auswirkungen auf den Mitgliederbestand und die Mobilisierung der Mitglieder, die Belastung der Tarifautonomie mit Blick auf die Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 und § 87 Abs. 1 BetrVG für Betriebsvereinbarungen, die auch ein verdrängter Minderheitstarifvertrag entfalte, sowie die Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit von Arbeitskämpfen.
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b) Die Eingriffe seien nicht zu rechtfertigen. Selbst wenn man davon ausginge, § 4a Abs. 1 TVG enthielte legitime Ziele, seien die Regelungen nicht verhältnismäßig. Es fehle schon an der Geeignetheit. Betrieb sowie Mehrheitsverhältnisse und damit auch der anwendbare Tarifvertrag seien "flüchtige Gebilde". Damit könnten die in § 4a Abs. 1 TVG genannten Ziele nicht erreicht werden. Für bestehende Tarifgemeinschaften schaffe das Gesetz Fehlanreize. Zudem bestünden praktische Schwierigkeiten bei der Feststellung der Mehrheit.
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Die Kollisionsregel sei nicht erforderlich, denn der Minderheitstarifvertrag werde vollständig und damit überschießend verdrängt. Milder wäre es, die verdrängende Wirkung auf Überschneidungsbereiche zu begrenzen und den Gemeinschaftsbetrieb auszunehmen. Jedenfalls für den gewerkschaftlichen Unterbietungswettbewerb gebe es mit dem Verfahren zur Feststellung von Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit ein funktionell äquivalentes Verfahren, das die in § 4a Abs. 1 TVG genannten Ziele eher verwirkliche.
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Die gesetzliche Regelung sei unangemessen. Empirisches Material für den vom Gesetzgeber genannten Handlungsbedarf fehle. Unzumutbar sei jedenfalls die Tariflosigkeit der Mitglieder von Minderheitsgewerkschaften. Auch die Mehrheitsverhältnisse könnten nicht oder nur viel zu spät festgestellt werden.
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5. Die Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 1477/16 ist die 1992 als Berufsverband von Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern gegründete und in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins auftretende Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO). Ihr satzungsmäßiger Zweck ist die Förderung und Wahrung der Belange des Flugbegleiterpersonals sowie die Verfolgung berufs- und tarifpolitischer Interessen, insbesondere durch Abschluss von Tarifverträgen bei Fluggesellschaften und Arbeitgebern, die Flugbegleiterpersonal beschäftigen. Im Jahr 2000 nahm UFO Tarifverhandlungen mit einer Fluggesellschaft auf und vollzog damit den Wechsel vom Berufsverband zur Gewerkschaft. Das Bundesarbeitsgericht hat die Tariffähigkeit von UFO im Jahr 2004 festgestellt (BAG, Beschluss vom 14. Dezember 2004 -- 1 ABR 51/03 --, juris, Rn. 30 ff.). Aktuell organisiert UFO rund 13.000 Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter überwiegend bei der Deutschen Lufthansa.
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Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich UFO gegen die Kollisionsnorm des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG und rügt eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG.
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Die zulässige Verfassungsbeschwerde sei begründet, weil die Kollisionsregel ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Koalitionsfreiheit sei. Sie führe zum Entzug der Tarifgeltung und bewirke, dass Arbeitskämpfe für unzulässig erklärt würden. Die Beeinträchtigung werde durch die Vorwirkungen des Gesetzes noch verstärkt.
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Die Eingriffe seien nicht zu rechtfertigen. Das Gesetz verfolge keinen legitimen Zweck. Es fehle bereits an Belegen und empirischen Daten, wonach sich aus Tarif- oder Arbeitskampfpluralität eine korrekturbedürftige Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ergebe. Auch eine Gefährdung der in § 4a Abs. 1 TVG genannten Funktionen eines Tarifvertrags sei nicht belegt. Jedenfalls seien die Eingriffe nicht verhältnismäßig. Das Gesetz sei zur Erreichung legitimer Ziele nicht geeignet. Die Anwendung des Mehrheitsprinzips fördere den Kampf um Mitglieder und setze Fehlanreize für die intergewerkschaftliche Kooperation. Ungeeignet sei auch die Anknüpfung an den Betrieb und an eine relative Mehrheit. Schutzfunktion und Mehrheitsprinzip seien unvereinbar, weil die Mitglieder einer Minderheitsgewerkschaft im Kollisionsfall tarif- und damit schutzlos stünden, was durch das Nachzeichnungsrecht nicht ausgeglichen werden könne. Auch fehle ein Verfahren zur schnellen und rechtssicheren Feststellung der Mehrheit unter Ausschluss sich widersprechender Entscheidungen in Individualstreitigkeiten.
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Die Kollisionsregel sei nicht erforderlich, weil weniger einschneidende und sogar wirksamere Mittel wie eine Regulierung des Arbeitskampfrechts oder eine Teilverdrängung, soweit Überschneidungen vorlägen, zur Verfügung stünden. Sie sei auch nicht angemessen. Es entfalle das wichtigste von Art. 9 Abs. 3 GG gewährte Recht, eigene Tarifverträge für die eigenen Mitglieder zur Anwendung zu bringen. Nur ein Gewerkschaftsverbot sei ein intensiverer Eingriff. Auf der anderen Seite stünden lediglich das arbeitgeberseitige Interesse, möglichst nur mit einer Gewerkschaft verhandeln zu müssen, und der Wunsch der etablierten Gewerkschaften, vor Konkurrenz geschützt zu werden. Anhörungs- und Nachzeichnungsrechte änderten an der fehlenden Angemessenheit nichts. Eingriffsverstärkend wirke vielmehr, dass die Verdrängungswirkung auch dann einsetze, wenn der Mehrheitstarifvertrag nur noch nachwirke oder Gegenstände des Minderheitstarifvertrags gar nicht regle, dass die Kollisionsregel unabdingbar sei und dass sie Vorwirkungen zeitige sowie mittel- und langfristig die Existenz von Berufsgruppengewerkschaften als regelmäßigen Minderheitsgewerkschaften gefährde.
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V. |
Die Verfassungsbeschwerden des Marburger Bundes und von Cockpit waren mit Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden, das Tarifeinheitsgesetz bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache außer Kraft zu setzen. Diese hat der Erste Senat mit Beschluss vom 6. Oktober 2015 abgelehnt (BVerfGE 140, 211).
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VI. |
Zu den Verfassungsbeschwerden Stellung genommen haben die Bundesregierung; aus Sicht der Rechtspraxis die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, der Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit (BRA), die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und die Bundesnotarkammer; von der Beschäftigtenseite der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und der Verband angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA), von der Arbeitgeberseite die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) gemeinsam mit dem Arbeitgeberverband Luftverkehr (AGVL), die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), der Bundesverband Deutscher Privatkliniken (BDPK), der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister (Agv MoVe) für die Deutsche Bahn AG, der Arbeitgeberverband Deutscher Eisenbahnen (AGVDE) sowie aus Sicht der Forschung das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI).
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1. Die Bundesregierung hält die Verfassungsbeschwerden für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.
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a) Das Tarifeinheitsgesetz reagiere auf eine Änderung der rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen in der Tarifpolitik. Dazu gehöre die Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, das sich im Jahr 2010 endgültig von dem -- bereits zuvor in Erosion begriffenen -- Grundsatz der Tarifeinheit verabschiedet habe. In tatsächlicher Hinsicht werde das bisherige Kooperationsmodell gewerkschaftlicher Interessenwahrnehmung zunehmend durch ein Konkurrenzmodell verdrängt, bei dem einzelne Berufsgruppen ihre Interessen verstärkt konfrontativ und auch im Wettbewerb mit anderen Berufsgruppen wahrnähmen. Den daraus resultierenden Risiken begegne das Tarifeinheitsgesetz in der Form indirekter Steuerung.
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Zentrales Steuerungsziel des Gesetzes sei es, Tarifkollisionen zu vermeiden, weil nur so den sich aus der Tarifpluralität ergebenden Nachteilen entgegengewirkt werden könne. Die Kollisionsregel sei nur das Mittel, um das eigentliche Regelungsziel des Gesetzes zu verwirklichen. Von ihr gingen Wirkungen indirekter Art als Vorwirkungen aus, die den Handlungskontext der beteiligten Akteure veränderten. Es werde eine Anreizstruktur geschaffen, Tarifkollisionen durch koordiniertes und kooperatives Vorgehen selbst zu vermeiden. Das Tarifeinheitsgesetz beschränke nicht den Wettbewerb, sondern ändere den rechtlichen Rahmen, in dem dieser künftig stattfinden solle. Grundrechtlich gebe es keinen Schutz vor solchen Veränderungen. Gewerkschaften könnten sich weiter betätigen; ihr Bestand sei nicht gefährdet. Die Koalitionsfreiheit garantiere weder ein Recht auf Erfolg in diesem Wettbewerb noch sei mit ihr ein Anspruch auf Tarifgeltung verbunden. Selbst wenn man in dem Gesetz einen Eingriff sähe, wäre dieser gerechtfertigt, da verhältnismäßig. Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers reiche gerade bei wirtschaftlichen Sachverhalten sehr weit.
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In der mündlichen Verhandlung hat die Bundesregierung betont, die Neuregelung diene dem Erhalt der Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems. Eine verschärfte Gewerkschaftskonkurrenz gefährde diese. Das Gesetz schaffe einen Ordnungsrahmen als Mechanismus zur Sicherung der Verteilungsgerechtigkeit und den Anreiz für die solidarische Wahrnehmung der Interessen der Beschäftigten und solle insbesondere die Gemeinsamkeiten im Arbeitnehmerlager stärken, um Prozessen der Entsolidarisierung entgegenzuwirken.
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b) Gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden bestünden Bedenken. Es sei nicht ersichtlich, dass sich die Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 TVG gegenwärtig auswirke. Allenfalls seien Vorwirkungen erkennbar. Es fehle aber auch an der unmittelbaren Betroffenheit. Zudem sei der Grundsatz der Subsidiarität nicht gewahrt, denn zunächst seien die Arbeitsgerichte anzurufen.
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c) Nach Auffassung der Bundesregierung sind die Verfassungsbeschwerden jedenfalls unbegründet. Das Tarifeinheitsgesetz verletze die Beschwerdeführenden weder in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG noch in anderen Rechten.
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aa) Die Garantie des Art. 9 Abs. 3 GG sei vom Ansatz her ein Freiheitsrecht. Primär betroffen sei die gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit in Form des Rechts, Tarifverträge abzuschließen, zentraler inhaltlicher Prüfungsmaßstab also die Tarifautonomie. Nicht betroffen seien hingegen die Organisations- und Bestandsgarantie sowie das Streikrecht. Die Tarifautonomie sei ein von vornherein normgeprägtes Grundrecht, in dem sich ein subjektiv-freiheitsrechtlicher und ein objektiv-institutioneller Gehalt verschränkten. Die den Gesetzgeber treffende Pflicht, ein funktionsfähiges Tarifvertragssystem zur Verfügung zu stellen, könne unterschiedlich umgesetzt werden; das Grundgesetz garantiere kein bestimmtes System. Daher könne der Gesetzgeber eine Systementscheidung für oder gegen die Tarifeinheit treffen.
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Beherrschender Grundgedanke des Art. 9 Abs. 3 GG sei die solidarische Interessendurchsetzung und nicht das Wettbewerbsprinzip. Mit dieser Zielsetzung sei die Koalitionsfreiheit ein liberales Freiheitsrecht mit einer sozialen Aufgabe. Es sei die im allgemeinen Interesse liegende öffentliche Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen und die Gemeinschaft dadurch sozial zu befrieden.
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(1) Das Gesetz sei kein Eingriff, sondern eine bloße Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit, weil ein interner, im Grundrecht selbst angelegter Zweck verfolgt werde und keine außerhalb des Grundrechts liegenden Gemeinwohlbelange verwirklicht werden sollten. Es sei notwendiger Inhalt des Grundrechts, die Beziehungen zwischen den Trägern widerstreitender Interessen zu koordinieren. Aufgabe des Gesetzgebers sei es, durch Ausgestaltung Rahmenbedingungen zu schaffen, die gewährleisteten, dass die sozialen Funktionen erfüllt würden. Legitime Zwecke seien damit im Grundrecht selbst und im normativen Leitbild angelegt. Da es sich um die Regelung komplexer, schwer überschaubarer Zusammenhänge handle, könne nicht verlangt werden, dass die künftige Entwicklung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit übersehbar sein müsse. Es sei nicht fernliegend, sich auf eine bloße Evidenzkontrolle zu beschränken. Jedenfalls aber beruhe die Einschätzung der Gefährdungslage durch den Gesetzgeber auf einer hinreichend tragfähigen Grundlage und sei vertretbar.
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(2) Das Tarifeinheitsgesetz lasse sich rechtfertigen, weil die Ordnungsfunktion der Tarifautonomie mehrfach beeinträchtigt sei. Der intergewerkschaftliche Wettbewerb veranlasse vermehrte Verhandlungen, die dazu führten, dass in einem Betrieb dann nebeneinander mehrere, sich widersprechende tarifliche Regelungssysteme für dieselben Beschäftigtengruppen gelten würden. In wirtschaftlichen Krisensituationen falle es bei Tarifpluralität tendenziell schwerer, Gesamtkompromisse herzustellen. Gerechtfertigt sei auch, gegen die Gefährdung der Verteilungsfunktion vorzugehen; hier reagiere der Gesetzgeber auf eine Asymmetrie in der Verhandlungssituation, weil eine kleine Gruppe der Belegschaft über ein Blockadepotential verfüge und die Auseinandersetzung über Sachfragen durch strategische und organisationspolitische Erwägungen der konkurrierenden Gewerkschaften überlagert würde. Dies beeinträchtige gleichzeitig die Befriedungsfunktion der Tarifverträge, weil der Betriebsfrieden unter den Verteilungskämpfen der konkurrierenden Gewerkschaften leide und Arbeitgeber einer Vielzahl weiterer Forderungen konkurrierender Gewerkschaften ausgesetzt seien. Das Gesetz stärke auch die Schutzfunktion der Tarifautonomie für die einzelnen Beschäftigten; sie gelte nicht nur vertikal zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten, sondern auch horizontal zwischen Beschäftigtengruppen.
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(3) Der Gesetzgeber habe die Grenzen seines Gestaltungsspielraums eingehalten. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im üblichen Sinn sei nicht vorzunehmen. Der vom Gesetzgeber gewählte Ansatz sei erst dann verfassungswidrig, wenn er von vornherein ungeeignet sei, das angestrebte Ziel zu erreichen, wofür die gesetzgeberische Einschätzung maßgeblich sei. Es müsse deutlich erkennbar sein, dass eine Fehleinschätzung vorgelegen habe. Die Prüfung müsse sich dabei auf den primären Regelungs- und Steuerungsmechanismus des Gesetzes beziehen, und auch die Auflösung möglicher Tarifkollisionen müsse vorrangig im Zusammenhang mit diesem Regelungsansatz gesehen werden.
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Das betriebsbezogene Mehrheitsprinzip sei ein adäquates Mittel, um den Problemen des Tarifvertrags, die aus einem Konkurrenzmodell gewerkschaftlicher Interessenwahrnehmung erwüchsen, entgegenzuwirken. Es erzeuge einen gleichmäßigen Anreiz zur Kooperation, da keine Gewerkschaft annehmen könne, in sämtlichen Betrieben einer Branche oder eines Unternehmens die Mehrheit zu stellen, auch wenn den Beteiligten vor Ort häufig klar sei, welche Gewerkschaft sich in der Mehrheit befinde. Die Anknüpfung an das Unternehmen sei keine Alternative. Sie garantiere nicht, dass die intendierte Steuerungswirkung genauso gut funktioniere. Probleme bei der Handhabung des Betriebsbegriffs in der Praxis seien nicht zu befürchten, weil die Rechtsprechung damit bereits umzugehen wisse. Zudem sei der Betrieb nach wie vor die klassische Solidargemeinschaft der Beschäftigten. Deshalb wäre es auch nicht sachgerecht, im Sinne der dynamischen Repräsentativität auf den bloßen Überschneidungsbereich und damit auf eine kleinere Einheit als den Betrieb abzustellen.
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Im Unterschied zum Spezialitätsprinzip sei das Mehrheitsprinzip besser geeignet, Tarifkollisionen schon im Vorfeld zu vermeiden. Es genüge bereits die (mögliche) Mehrheitsposition einer kleinen Gewerkschaft in nur einem Betrieb, damit sich eine größere Gewerkschaft auf sie zubewegen müsse. Hier entstehe Kooperation durch Nichtwissen. Die Regelungen zum Nachweis der Mehrheitsverhältnisse und das Verfahren ihrer gerichtlichen Feststellung entfalteten ihre Wirkung erst, wenn eine Tarifkollision eingetreten sei. Die Möglichkeit, die eigene Mitgliederzahl durch öffentliche Urkunden nachzuweisen, schütze Grundrechte der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder, da Namen nicht offengelegt werden müssten. Die Position von Gewerkschaften werde durch die Offenlegung nicht beeinträchtigt, weil sich Mehrheitsverhältnisse ständig veränderten und sich auf den konkreten Betrieb bezögen, während Tarifverhandlungen in der Regel betriebsübergreifend geführt würden.
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(4) Die Rechte von Minderheitsgewerkschaften und ihrer Mitglieder würden durch flankierende verfahrensrechtliche Vorkehrungen und das Nachzeichnungsrecht gewahrt. Die Verfahrensregel des § 58 Abs. 3 ArbGG zur Feststellung der Mehrheit im Betrieb stehe in notwendigem Zusammenhang zur Entscheidung für das betriebsbezogene Mehrheitsprinzip. Sie sei ein Annex zu den materiellen Regelungen des Gesetzes und teile deren rechtliches Schicksal. Jedenfalls aber würden die Geheimhaltungsinteressen der beteiligten Gewerkschaften weitest möglich gesichert.
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Die Bundesregierung ist der Auffassung, das Gesetz sei neutral formuliert, wende sich nicht einseitig gegen Berufsgruppen- oder Spartengewerkschaften und berücksichtige in größtmöglichem Umfang die Interessen der Minderheitsgewerkschaften. Die unterschiedliche Behandlung von Mehrheit und Minderheit begegne keinen Bedenken, da damit lediglich an formale Kriterien angeknüpft werde.
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bb) Auch eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips scheide aus, weil das Gesetz genau das regle, was beabsichtigt sei, und dafür einen praktikablen verfahrensrechtlichen Mechanismus bereitstelle. Detailfragen seien von den dazu berufenen Fachgerichten zu klären.
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cc) Die Berücksichtigung von internationalem Recht führe zu keinem anderen Ergebnis. Art. 11 EMRK könne eingeschränkt werden, um die Rechte der an einem Tarifkonflikt beteiligten Gewerkschaften zu berücksichtigen und in Ausgleich zu bringen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte räume den Vertragsstaaten einen weiten Einschätzungs- und Ermessensspielraum bei Maßnahmen ein, die gewerkschaftliche Rechtsbeziehungen und Betätigungen beträfen. Auch die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) Nr. 87 und Nr. 98 gingen nicht über die Grundsätze des Art. 9 Abs. 3 GG hinaus.
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2. Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts stellt die unter § 4a TVG fallenden und die nicht davon erfassten Fallkonstellationen dar und schildert die Entscheidungspraxis des Bundesarbeitsgerichts. Die Arbeitsgerichte hätten auftretende Konflikte nach unterschiedlichen Kriterien gelöst. Rechtsstreitigkeiten über Tarifpluralität bei beiderseitiger Tarifgebundenheit nach § 3 TVG seien in den letzten 25 Jahren jedoch selten gewesen. Die Entscheidungen hätten keine im Arbeitsleben typischen Sachverhalte betroffen. Das Tarifeinheitsgesetz enthalte keine ausdrückliche Bestimmung, was mit den unter dem nicht mehr anwendbaren Tarifvertrag erworbenen Rechten auf laufende Betriebsrente oder erworbenen Anwartschaften auf künftige Betriebsrente geschehen solle. Ob und unter welchen verfassungsrechtlichen Vorgaben das Problem durch die fachgerichtliche Rechtsprechung lösbar sei, habe das Bundesarbeitsgericht noch nicht zu entscheiden gehabt.
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3. Der Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit (BRA) geht davon aus, dass sich das Tarifeinheitsgesetz in der Regel nicht auf die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen auswirke. Das neue Verfahren zur Feststellung der Mehrheitsverhältnisse beeinträchtige aber die Rechtsschutzgarantie. Dies gelte insbesondere für den Individualprozess von Beschäftigten über die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags. Das Tarifeinheitsgesetz gebe den Prozessparteien keine ausreichende Handhabe zur Durchsetzung ihrer Positionen. Ein Feststellungsverfahren nach § 99 ArbGG sei zur Klärung der Mehrheitsverhältnisse grundsätzlich geeignet, könne aber von der Beschäftigtenseite gar nicht und von der Arbeitgeberseite nur als Tarifvertragspartei eingeleitet werden. Zudem sei keine Aussetzungspflicht vorgesehen.
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4. Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) wiederholt ihre bereits im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Die Verdrängung eines kraft beiderseitiger Tarifbindung geltenden Tarifvertrags sei ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit, der nicht zu rechtfertigen sei. Es fehle der Nachweis einer Gefährdung einer funktionierenden Tarifautonomie; zudem sei das Gesetz ungeeignet, innerbetriebliche Verteilungskämpfe zu vermeiden und den Betriebsfrieden zu gewährleisten.
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5. Die Stellungnahme der Bundesnotarkammer beschränkt sich auf die Beweisregel des § 58 Abs. 3 ArbGG. Da für jeden einzelnen Beschäftigten umfangreiche Feststellungen zu treffen seien und es auf die eigene Wahrnehmung der Urkundsperson ankomme, sei das Verfahren in der Praxis nicht handhabbar.
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6. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) führt aus, dass er mit seinen Mitgliedsgewerkschaften das Prinzip der Tarifeinheit favorisiere. Die Regelung sei zwar unter den Mitgliedsgewerkschaften umstritten, in der Sache sei die Kodifizierung der Tarifeinheit aber richtig. Eine solidarische Tarifpolitik mit brancheneinheitlichen Tarifverträgen für alle Beschäftigten werde durch konkurrierende Tarifverträge in Frage gestellt und könne ihre soziale Wirkung nicht mehr entfalten. Würden die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Beschäftigtengruppen vor der Arbeitgeberseite ausgetragen, schwäche das die Gewerkschaften. Auch der Umstand, dass die gleiche Tätigkeit im Betrieb bei Anwendung verschiedener Tarifverträge unterschiedlich entlohnt werde, führe zu einer Spaltung und Schwächung der Beschäftigten insgesamt und einer sinkenden Akzeptanz von Gewerkschaften und Tarifverträgen. Das zeigten Restrukturierungsfälle, da kampfstarke Beschäftigtengruppen mit typischerweise sicheren Arbeitsplätzen nicht mehr in Lösungen eingebunden werden könnten. Um Geschlossenheit der Beschäftigten zu erreichen, sei Konkurrenzminimierung entscheidend.
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Die vom Gesetzgeber im Rahmen seiner Ausgestaltungskompetenz geschaffene Kollisionsnorm lasse Wettbewerb zu, fördere aber, da die Kollisionsregelung nur subsidiär gelte, die autonome Verständigung zwischen den Gewerkschaften. Die mit dem Tarifeinheitsgesetz gefundene Lösung sei die schonendste der diskutierten Varianten. Auf Überschneidungen im persönlichen Geltungsbereich beschränkte Regelungen würden zu immer stärkerer Differenzierung und damit zu Zersplitterung und Zergliederung führen. Die Wiedereinführung des Spezialitätsgrundsatzes würde Gewerkschaften begünstigen, die Haustarifverträge -- und damit oftmals Gefälligkeitstarifverträge -- abschlössen.
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7. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) schließt sich dem DGB an. Sie weist darauf hin, dass eine gesetzliche Regelung des Mehrheitsprinzips dann sinnvoll sei, wenn ein gemeinsames Vorgehen aller Gewerkschaften auf freiwilliger Basis nicht möglich erscheine und Konflikte auf betrieblicher Ebene eskalierten. Der Gesetzgeber sei nicht gehindert, das Tarifvertragssystem einfachrechtlich auszugestalten. Das Tarifeinheitsgesetz dürfe jedoch keinesfalls als Begründung für Eingriffe in das Arbeitskampfrecht herangezogen werden.
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8. Nach Auffassung des Verbandes angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA) verletzt das Tarifeinheitsgesetz die Koalitionsfreiheit, insbesondere weil es kleinen Gewerkschaften unmöglich gemacht werde, Tarifverträge für ihre Mitglieder abzuschließen. Einziger Grund für das Gesetz sei eine aufgrund Tarifauseinandersetzungen bei der Bahn und der Lufthansa gefühlte, aber nicht durch Tatsachen belegbare Zunahme von Streiks. Das Tarifeinheitsgesetz verstoße auch gegen internationale Vorschriften, konkret gegen Art. 11 EMRK und die IAO-Übereinkommen Nr. 87 und 98.
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9. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hält die erhobenen Verfassungsbeschwerden für unbegründet. Das Tarifeinheitsgesetz sei mit der Koalitionsfreiheit, aber auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz sowie dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip vereinbar.
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Ob das Tarifeinheitsgesetz einen Eingriff in die oder eine Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit darstelle, müsse nicht entschieden werden, da in beiden Fällen zu prüfen sei, ob sich die gesetzgeberische Maßnahme bei Anerkennung eines weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums als verhältnismäßig erweise. Die Koalitionsfreiheit als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht könne jedenfalls beschränkt werden, da Funktionseliten sich zum Nachteil anderer Beschäftigtengruppen entsolidarisiert und aufgrund ihrer Schlüsselfunktion höhere Gehälter erzielt hätten. Die Befriedungsfunktion von Tarifverträgen sei beeinträchtigt, weil sich Tarifkonflikte mit zunehmender Anzahl der in einem Betrieb bestehenden Gewerkschaften intensiviert hätten und der Betriebsfrieden durch Statuskonflikte nachhaltig gestört werde. Tarifpluralität stehe zudem einer widerspruchsfreien Ordnung der Arbeitsbeziehungen entgegen. Auch wenn dies in der Begründung des Gesetzentwurfs nicht ausdrücklich festgehalten sei, könne das Gesetz dadurch gerechtfertigt werden, dass es durch Berufsgruppengewerkschaften, die sich insbesondere in der Daseinsvorsorge etabliert hätten, zur Beeinträchtigung von Grundrechten Dritter und gemeinwohlbedingter Verfassungsgüter gekommen sei.
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Die Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit durch das Gesetz erweise sich als verhältnismäßig. Der Gesetzgeber habe bei der Regulierung der Folgen des Koalitionswettbewerbs einen großen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum. Das Tarifeinheitsgesetz sei zur Erreichung seiner legitimen Ziele insbesondere nicht ungeeignet, weil es infolge des intergewerkschaftlichen Wettbewerbs um Mitglieder zu Unfrieden in den Betrieben kommen könne. Die Koalitionsfreiheit schütze auch die Konkurrenz unter den Gewerkschaften. Die Folgen des Koalitionswettbewerbs regle das Gesetz im Sinne einer Vermeidung von Tarifkollisionen. Ebenso wenig stehe der Eignung des Gesetzes die vom Gesetzgeber gewählte Anknüpfung an den Betrieb entgegen. Auch das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren nach § 99 ArbGG werfe keine Probleme auf. Das Tarifeinheitsgesetz sei erforderlich, da sich alternative Vorschläge nicht als mildere, aber genauso effektive Mittel erwiesen. Mit Blick auf die in die Abwägung einzustellenden Grundrechte der Arbeitgeber sowie auf die Grundrechte Dritter und auf weitere verfassungsrechtliche Positionen werde die Koalitionsfreiheit nicht unverhältnismäßig eingeschränkt. Die Tarifeinheit reguliere den Wettbewerb unter den Gewerkschaften, ohne ihn auszuschließen. Die in § 4a Abs. 5 TVG normierten Informations- und Austauschpflichten sicherten dies verfahrensrechtlich ab. Das Gesetz zwinge weder zu Solidarität noch gefährde es die Existenz von Gewerkschaften. Das betriebsbezogene Mehrheitsprinzip sei angemessen, um Tarifkollisionen aufzulösen.
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10. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) hält die Verfassungsbeschwerden mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität bereits für unzulässig, mangels Grundrechtsverletzung aber jedenfalls für unbegründet. Das Tarifeinheitsgesetz sei als Ausgestaltung der Tarifautonomie mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar. Die Probleme im Bereich der Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände, die sich aus dem unabgestimmten Nebeneinander verschiedener Gewerkschaften ergäben, belegten, dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beeinträchtigt sei. Das Tarifeinheitsgesetz greife nur in geringem Umfang in die gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit ein und lasse Arbeitgebern wie Gewerkschaften großen Freiraum, ihre Beziehungen zu gestalten. Gewerkschaften zur Kooperation zu motivieren, sei eine legitime und notwendige Forderung.
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11. Aus Sicht des Bundesverbandes Deutscher Privatkliniken (BDPK) hätten die getrennten Tarifverhandlungen von ver.di und Marburger Bund deutliche Gehaltssteigerungen beim ärztlichen Personal und damit höhere Personalkosten zur Folge gehabt, die teilweise im Vergütungssystem nicht refinanzierbar gewesen seien. Unabhängig davon führe die parallele Geltung von Tarifverträgen mehrerer Gewerkschaften in den Kliniken zu keinen nennenswerten praktischen Schwierigkeiten.
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12. Der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister (Agv MoVe) äußert Bedenken gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden, hält sie der Sache nach aber jedenfalls für unbegründet. Tatsächliches Ziel des Tarifeinheitsgesetzes sei, den Arbeitgeber im Betrieb vor den nachteiligen Folgen der Anwendung unterschiedlicher Rechtsnormen für die einheitliche Belegschaft zu verschonen. § 4a TVG gestalte das Tarifrecht aus; die Kollisionsnorm verbiete weder rechtlich noch faktisch den Abschluss von Tarifverträgen und den darauf gerichteten Arbeitskampf. Es sei kein Gewerkschaftsverbot; der Gesetzgeber gehe weder gezielt noch mittelbar gegen Berufsgruppengewerkschaften vor. Vermeintlich kleinere Gewerkschaften hätten weiterhin die Möglichkeit, die Mehrheitsposition einzunehmen. Zudem könnten sie anderweitig tarifieren, etwa auf der Grundlage von Öffnungsklauseln oder in Form von Tarifverträgen mit schuldrechtlicher Wirkung und mit verschiedenen Geltungsbereichen.
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13. Der Arbeitgeberverband Deutscher Eisenbahnen (AGVDE) schließt sich der BDA an. Er weist ergänzend darauf hin, dass seine Mitgliedsunternehmen aus dem Bereich der Eisenbahn durch die Tarifpluralität mit dem Effekt ständiger und langwieriger Tarifverhandlungen stark betroffen seien. Man befinde sich in einem Teufelskreis des gegenseitigen Überbietungswettbewerbs der konkurrierenden Gewerkschaften, dem die Arbeitgeber nichts entgegenzusetzen hätten.
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14. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) legt Zahlenmaterial zu den Tarifauseinandersetzungen und ihren Ergebnissen seit 2010 vor. Danach sei die Anzahl der tarif- und arbeitskampffähigen Berufs- und Spartengewerkschaften im Zeitraum 2010 bis 2015 konstant geblieben. Zu kurzzeitigen Arbeitsniederlegungen unter Beteiligung der Berufsgruppengewerkschaften sei es in 55 von 1370 Tarifkonflikten gekommen. Im Wesentlichen seien keine Tarifkollisionen bekannt geworden und die langwierigen Auseinandersetzungen im Bereich der Bahn durch getrennte Tarifverträge beigelegt worden.
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VII. |
Das Bundesverfassungsgericht hat am 24. und 25. Januar 2017 eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Geäußert haben sich die Beschwerdeführenden und die Bundesregierung sowie als sachkundige Dritte die BDA, der DGB, der Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit (BRA) sowie der Vorsitzende Richter am Bundesarbeitsgericht im Ruhestand Prof. Klaus Bepler.
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B. |
Die Verfassungsbeschwerden sind überwiegend zulässig.
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I. |
Das Tarifeinheitsgesetz trat nach dessen Art. 3 am Tag nach der Verkündung und damit am 10. Juli 2015 in Kraft. Alle Verfassungsbeschwerden gingen innerhalb der Beschwerdefrist von einem Jahr (§ 93 Abs. 3 BVerfGG) und damit fristgerecht ein.
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II. |
Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerden sind die Kollisionsnorm des § 4a Abs. 2 TVG und die darauf bezogenen Regelungen in § 4a Abs. 3 bis 5 TVG und die begleitenden Regelungen zum Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG als Annex zur Kollisionsnorm.
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III. |
Die Beschwerdeführenden sind beschwerdebefugt. Sie machen substantiiert geltend, durch die angegriffenen Vorschriften selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt zu sein.
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Beschwerdeführende sind nur dann von einer gesetzlichen Regelung unmittelbar betroffen, wenn diese, ohne dass es eines weiteren Vollzugsaktes bedürfte, in ihren Rechtskreis eingreift. Erfordert das Gesetz zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen staatlichen Praxis einen besonderen, vom Willen der vollziehenden Stelle beeinflussten Vollzugsakt, müssen Beschwerdeführende grundsätzlich zunächst diesen Akt angreifen und den gegen ihn eröffneten Rechtsweg erschöpfen, bevor sie die Verfassungsbeschwerde erheben (vgl. BVerfGE 1, 97 [101 ff.]; 109, 279 [306]; 133, 277 [312 Rn. 84]; stRspr).
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Das ist hier nicht der Fall. Zwar ist die von den Beschwerdeführenden angegriffene Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG bislang nicht zur Anwendung gekommen. Die Regelung ist jedoch dazu geeignet und auch bewusst darauf angelegt, ihre Wirkungen schon im Vorfeld zu entfalten; sie bewirkt damit bereits unmittelbar spürbare Rechtsfolgen (vgl. BVerfGE 53, 366 [389]). Dazu bedarf es keines weiteren Vollzugsaktes (vgl. BVerfGE 126, 112 [133]). Da die Regelungen auf eine Verschiebung der Handlungsbedingungen der Gewerkschaften für das Aushandeln anwendbarer Tarifverträge angelegt sind, folgt die unmittelbare Betroffenheit aus der sich im Verhältnis der Beteiligten unmittelbar auswirkenden Notwendigkeit von Dispositionen zur Einstellung auf diese neue Rechtslage (vgl. BVerfGE 88, 384 [399 f.]; 91, 294 [305]; 97, 157 [164]; stRspr). Die Anwendung des § 4a Abs. 2 TVG ist dabei jedenfalls dann zwingend vorgeschrieben, wenn sich die Tarifvertragsparteien nicht anderweitig einigen, und insoweit als Handlungsrahmen in ihren Auswirkungen aus Sicht der Beschwerdeführenden gewiss (vgl. BVerfGE 50, 290 [321]). Sie führt dazu, dass von den beschwerdeführenden Gewerkschaften selbst ausgehandelte tarifvertragliche Normen im Kollisionsfall mit einem Tarifvertrag einer im Betrieb mitgliederstärkeren Gewerkschaft verdrängt werden und ein Gewerkschaftsmitglied damit tariflos werden kann. Hierauf müssen sich die Beschwerdeführenden bereits jetzt einstellen.
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2. Die Beschwerdeführenden sind auch selbst betroffen. Ihre Beschwerdebefugnis setzt voraus, dass sie selbst in eigenen Grundrechten verletzt sein können. Erforderlich ist dafür nicht, dass die Norm formell an sie adressiert ist (vgl. BVerfGE 50, 290 [320 f.]). Doch muss die Norm ihre Rechtspositionen verändern (vgl. BVerfGE 77, 308 [326]) und sie nicht nur faktisch im Sinne einer Reflexwirkung berühren, also eine hinreichend enge Beziehung zwischen den Grundrechtspositionen der Beschwerdeführenden und der Norm bestehen (vgl. BVerfGE 108, 370 [384]; 123, 186 [227]). Das ist hier der Fall.
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Der dbb ist als Zusammenschluss von Gewerkschaften im Sinne des § 2 Abs. 2 TVG in seinen Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG selbst betroffen, denn auch eine Spitzenorganisation und ein Dachverband können sich grundsätzlich auf die Koalitionsfreiheit berufen (vgl. BAG, Urteil vom 11. Dezember 2001 -- 3 AZR 512/00 --, juris, Rn. 63; Beschluss vom 14. Dezember 2010 -- 1 ABR 19/10 --, juris, insbes. Rn. 88 ff.). Zwar sind Spitzenorganisationen weder nach § 2 Abs. 2 noch nach § 2 Abs. 3 TVG originär tariffähig; soweit zu ihren satzungsgemäßen Aufgaben -- wie hier nach § 10 Abs. 1 der Satzung des dbb -- der Abschluss von Tarifverträgen gehört, können sie jedoch im eigenen Namen Tarifverträge abschließen. Das tut der dbb auch.
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Die Nahverkehrsgewerkschaft ist gleichfalls von den angegriffenen Regelungen selbst betroffen. Das gilt selbst dann, wenn ihre Tariffähigkeit fraglich wäre, denn das angegriffene Gesetz kann sich auch auf ihre Chancen, die Tariffähigkeit zu erreichen, sowie auf ihre bislang bestehenden Kooperationsbeziehungen, ihre tarifpolitische Ausrichtung und Strategie auswirken. Wer aus strukturellen Gründen in den Betrieben nur Minderheiten organisiert, wird weniger attraktiv, denn es fehlt der Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt, wenn aufgrund der Verdrängung nach § 4a TVG kaum eigene Tarifziele verwirklicht werden können.
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Das beschwerdeführende Gewerkschaftsmitglied ist selbst von den angegriffenen Regelungen betroffen und daher beschwerdebefugt. Das Tarifeinheitsgesetz richtet sich zwar nicht direkt an die einzelnen Gewerkschaftsmitglieder. Doch besteht nicht nur eine reflexhafte Beziehung der angegriffenen Regelungen zu ihrer Grundrechtsposition. Aus der Nichtanwendung eines abgeschlossenen Tarifvertrags nach § 4a Abs. 2 TVG im Kollisionsfall folgt, dass sie ihre tariflichen Rechte aus dem verdrängten Tarifvertrag verlieren. Sie müssen sich auf dieses Risiko zudem bereits bei der Entscheidung einstellen, ob und wie sie in welcher Gewerkschaft mitwirken. Art. 9 Abs. 3 GG garantiert insoweit das Recht der Mitglieder einer Koalition, an deren Arbeit teilzunehmen; sie können daher Beeinträchtigungen ihrer Tätigkeit zugleich als Verstoß gegen das eigene Grundrecht anfechten (vgl. BVerfGE 38, 281 [303] m.w.N.; stRspr).
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Dass die anderen Beschwerdeführenden selbst betroffen sind, ist offensichtlich, denn es handelt sich um Tarifvertragsparteien.
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3. Die Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Regelungen gegenwärtig betroffen. Dafür genügt es, dass die angegriffene Vorschrift aktuell und nicht nur potentiell wirkt (vgl. BVerfGE 1, 97 [102]), und klar abzusehen ist, dass und wie sich die Regelung auswirkt (vgl. BVerfGE 97, 157 [164]; 102, 197 [207]; 114, 258 [277]; 119, 181 [212]). Das ist hier der Fall. Tarifverträge, die gegenwärtig ausgehandelt werden, unterliegen den angegriffenen Regelungen und werden gegebenenfalls verdrängt. Die Beschwerdeführenden haben zudem konkrete Einzelfälle benannt, in denen Arbeitgeber unter Hinweis auf das zu erwartende oder verabschiedete Tarifeinheitsgesetz Tarifverhandlungen abgelehnt haben. Auch stehen Kündigungstermine laufender Tarifverträge an, die jeweils dazu zwingen, unter Berücksichtigung der gesetzlich angeordneten Tarifeinheit nach der betrieblichen Mehrheit neu zu disponieren. Denn bei der Festlegung der Tarifforderungen muss eine eventuelle Tarifkollision berücksichtigt werden. Der Marburger Bund hat dargelegt, dass er aufgrund des angegriffenen Gesetzes konkrete Veränderungen in der strategischen Ausrichtung im Verbandszweck prüfen muss. Die angegriffenen Regelungen müssen also in der tarifpolitischen Ausrichtung und Tarifpolitik gegenwärtig bereits vielfach berücksichtigt werden.
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IV. |
Die Verfassungsbeschwerden wahren den Grundsatz der Subsidiarität (vgl. BVerfGE 123, 148 [172]; 134, 242 [285 Rn. 150]; stRspr).
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1. Das Gesetz wirft zwar zahlreiche fachrechtliche Fragen auf, die, da ein Kollisionsfall bisher vermieden wurde, fachgerichtlich noch nicht geklärt sind. Hinsichtlich der von den Regelungen unmittelbar ausgehenden Wirkungen im Vorfeld stehen den beschwerdeführenden Gewerkschaften und dem Gewerkschaftsverband fachgerichtliche Klärungsmöglichkeiten jedoch nicht zumutbar zur Verfügung. Nimmt eine angegriffene Regelung -- wie hier -- gezielt im Vorfeld einer Tarifauseinandersetzung auf das Verhalten der Beschwerdeführenden Einfluss, können sie nicht vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde auf fachgerichtlichen Rechtsschutz verwiesen werden (vgl. BVerfGE 92, 365 [392 f.]).
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Das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren zum Kollisionsfall nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG steht erst offen, wenn kollidierende Tarifverträge abgeschlossen worden sind. Doch wurde nachvollziehbar dargelegt, dass aufgrund der angegriffenen Regelung bereits Schwierigkeiten entstanden sind, überhaupt Tarifverhandlungen aufzunehmen und Tarifverträge abzuschließen.
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Weitere zumutbare Rechtsschutzmöglichkeiten kommen nicht in Betracht. Eine Leistungsklage auf Durchführung des Tarifvertrags (grds. BAG, Urteil vom 29. April 1992 -- 4 AZR 469/91 --, juris, Rn. 20 ff.) hängt ebenfalls davon ab, dass ein Tarifvertrag geschlossen wurde. Desgleichen können die Beschwerdeführenden nicht auf eine Klage auf Feststellung der Anwendung eines Tarifvertrags im Betrieb (vgl. BAG, Urteil vom 21. März 1978 -- 1 AZR 11/76 --, juris, Rn. 53; Urteil vom 19. Juni 1984 -- 1 AZR 361/82 --, juris, Rn. 41) oder auf Aufnahme von Tarifverhandlungen (vgl. BAG, Urteil vom 25. September 2013 -- 4 AZR 173/12 --, juris, Rn. 23; stRspr) oder auf die Verbandsklage nach § 9 TVG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG (vgl. BAG, Urteil vom 4. Juli 2007 -- 4 AZR 491/06 --, juris, Rn. 18) verwiesen werden. Da das Gesetz den Arbeitskampf bewusst nicht regelt, kann eine Klärung auch in diesbezüglichen Verfahren nicht erreicht werden.
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2. Dem beschwerdeführenden Gewerkschaftsmitglied steht vorgängiger fachgerichtlicher Rechtsschutz gleichfalls nicht zumutbar zur Verfügung. Es konnte hier nicht verlangt werden, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde auf möglicherweise verdrängte Tarifleistungen zu klagen. Eine Klage auf Feststellung, dass ein künftiger Tarifvertrag in einem Arbeitsverhältnis zur Anwendung kommt (vgl. BAG, Urteil vom 26. August 2015 -- 4 AZR 719/13 --, juris, Rn. 10; stRspr), wäre nicht zulässig, weil sie sich auf nicht absehbare künftige Ansprüche beziehen würde (vgl. BAG, Urteil vom 23. März 2011 -- 4 AZR 268/09 --, juris, Rn. 24 f.).
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V. |
Unzulässig sind die Verfassungsbeschwerden, soweit sie sich ausdrücklich gegen die beweisrechtliche Regelung des § 58 Abs. 3 ArbGG wenden. Es fehlt insoweit an der Beschwerdebefugnis. Die Regelung lässt für sich genommen keine Beeinträchtigung von Grundrechten erkennen. Sie zeigt lediglich eine Möglichkeit auf, den Nachweis über die betrieblichen Mehrheitsverhältnisse zu führen, ist also nur eine Option und schließt andere Wege der Beweisführung nicht aus.
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C. |
Die Verfassungsbeschwerden sind überwiegend unbegründet. Die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes sind in der gebotenen Auslegung und Handhabung weitgehend mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar.
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I. |
Gegen die formelle Verfassungsgemäßheit des Tarifeinheitsgesetzes bestehen keine Bedenken.
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1. Die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, der neben dem Recht der Individualarbeitsverträge auch das Tarifvertragsrecht umfasst, ohne dem Vorbehalt der Erforderlichkeit des Art. 72 Abs. 2 GG zu unterliegen. Die Kompetenz des Bundes für die flankierenden Regelungen des arbeitsgerichtlichen Verfahrens ergibt sich jedenfalls aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.
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2. Soweit die Verfassungsbeschwerden vorbringen, der Gesetzgeber habe die Fakten nicht hinreichend ermittelt, auf die er seine Entscheidungen stütze, vermag dies einen Verfassungsverstoß nicht zu begründen. Eine selbständige, von den Anforderungen an die materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes unabhängige Sachaufklärungspflicht folgt aus dem Grundgesetz nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher nur in bestimmten Sonderkonstellationen eine selbständige Sachaufklärungspflicht des Gesetzgebers angenommen (vgl. etwa BVerfGE 95, 1 [23 f.] im Falle einer Fachplanung durch Gesetz; BVerfGE 86, 90 [108 f.] bei Gemeindeneugliederungen oder BVerfGE 139, 64 [127 Rn. 130] in Fragen der Richterbesoldung). Ansonsten gilt das Prinzip, dass die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens im Rahmen der durch die Verfassung vorgegebenen Regeln Sache der gesetzgebenden Organe ist. Das parlamentarische Verfahren ermöglicht zudem mit der ihm eigenen Öffentlichkeitsfunktion und den folglich grundsätzlich öffentlichen Beratungen gerade durch seine Transparenz, dass Entscheidungen auch in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert und damit die Voraussetzungen für eine Kontrolle auch der Gesetzgebung durch die Bürgerinnen und Bürger geschaffen werden. Schon deshalb geht Entscheidungen von erheblicher Tragweite grundsätzlich ein Verfahren voraus, welches der Öffentlichkeit auch durch die Berichterstattung seitens der Medien hinreichend Gelegenheit bietet, Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und das die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Umfang der zu beschließenden Maßnahmen in öffentlicher Debatte zu klären (BVerfGE 139, 148 [176 f. Rn. 55] m.w.N.). Das Grundgesetz vertraut so darauf, dass auch ohne Statuierung einer eigenständigen Sachaufklärungspflicht die Transparenz und der öffentliche Diskurs im parlamentarischen Verfahren hinreichende Gewähr für eine jeweils ausreichende Tatsachengrundlage der gesetzgeberischen Entscheidung bieten. Denn das Fehlen einer selbständigen Sachaufklärungspflicht im Gesetzgebungsverfahren befreit den Gesetzgeber nicht von der Notwendigkeit, seine Entscheidungen in Einklang mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere den Grundrechten, zu treffen, und sie insoweit -- etwa in Blick auf die Verhältnismäßigkeitsanforderungen -- auf hinreichend fundierte Kenntnisse von Tatsachen und Wirkzusammenhängen zu stützen (BVerfGE 143, 246 [343 ff. Rn. 273 ff.] m.w.N.).
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II. |
Die angegriffenen Regelungen genügen den Anforderungen der Normenklarheit und Bestimmtheit. Auch wenn sie konkretisierungs- und klärungsbedürftige Begriffe enthalten, sind sie einer fachgerichtlichen Klärung ohne Weiteres zugänglich.
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III. |
Die angegriffenen Regelungen sind in der gebotenen Auslegung und Handhabung weitgehend mit dem Grundrecht der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder aus Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar. Durch die Regelungen wird der Schutzgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG (1) beeinträchtigt (2). Dies ist weitgehend gerechtfertigt; soweit sich die angegriffenen Regelungen als unzumutbar erweisen, trifft den Gesetzgeber eine Pflicht zur Nachbesserung (3).
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1. Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ist in erster Linie ein Freiheitsrecht. Es schützt die individuelle Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden und diesen Zweck gemeinsam zu verfolgen (vgl. BVerfGE 92, 352 [393]), ihnen fernzubleiben oder sie zu verlassen (vgl. BVerfGE 116, 202 [218]). Darüber sollen die Beteiligten grundsätzlich frei von staatlicher Einflussnahme, selbst und eigenverantwortlich bestimmen können. Geschützt ist damit auch das Recht der Vereinigungen selbst, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen, wobei die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erreichung dieses Zwecks für geeignet halten, mit Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich ihnen selbst überlassen ist (vgl. BVerfGE 92, 365 [393 f.]; 100, 271 [282]; 116, 202 [219]; stRspr).
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a) Das Grundrecht schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Es umfasst insbesondere die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht. Das Aushandeln von Tarifverträgen ist ein wesentlicher Zweck der Koalitionen (vgl. BVerfGE 116, 202 [219] m.w.N.). Geschützt ist insbesondere der Abschluss von Tarifverträgen (vgl. BVerfGE 92, 365 [395]; 94, 268 [283]; 103, 293 [304 ff.]). Dies schließt den Bestand und die Anwendung abgeschlossener Tarifverträge ein. Vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG erfasst sind auch Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind, jedenfalls soweit sie erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen (vgl. BVerfGE 84, 212 [224 f.]; 88, 103 [114]; 92, 365 [393 f.]). Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf absolute tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen.
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b) Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Koalitionen auch in ihrem Bestand (vgl. BVerfGE 93, 352 [357]; 116, 202 [217]; stRspr). Zu den geschützten Tätigkeiten gehört die Mitgliederwerbung durch die Koalitionen selbst. Dies schafft das Fundament für die Erfüllung ihrer in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Aufgaben. Insbesondere durch die Werbung neuer Mitglieder sichern die Koalitionen ihren Fortbestand (vgl. BVerfGE 93, 352 [357 f.] m.w.N.). Eine Bestandsgarantie für einzelne Koalitionen ist damit nicht verbunden. Allerdings garantiert Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG die Koalitionsfreiheit ausdrücklich für jedermann und alle Berufe. Daher wären staatliche Maßnahmen mit Art. 9 Abs. 3 GG unvereinbar, die gerade darauf zielten, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen heraus zu drängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen, wie etwa Berufsgewerkschaften, generell die Existenzgrundlage zu entziehen.
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c) Geschützt ist die Koalition auch in ihrer Ausrichtung und Organisation; die Selbstbestimmung über ihre innere Ordnung ist ein wesentlicher Teil der Koalitionsfreiheit (vgl. BVerfGE 92, 365 [403]; 93, 352 [357]; 100, 214 [223]). Das umfasst die Entscheidung über die Abgrenzung nach Branchen oder Fachbereichen (vgl. BVerfGE 92, 365 [408]) oder nach Berufsgruppen, denn es gilt auch hier das Prinzip freier sozialer Gruppenbildung (vgl. BVerfGE 100, 214 [223] m.w.N.). Die Vorgabe eines bestimmten Profils wäre unzulässig. Das Grundgesetz schützt vielmehr die "Koalitionen in ihrer Mannigfaltigkeit" (BVerfGE 18, 18 [32 f.]). Damit geht die Möglichkeit einher, dass es zum Wettbewerb unter den Koalitionen kommt.
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2. Die angegriffenen Regelungen beeinträchtigen das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG.
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a) Mit der Anordnung einer Verdrängung eines Tarifvertrags im Kollisionsfall nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG geht eine Beeinträchtigung mit der Wirkung eines Eingriffs in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit einher, die den erreichten Tarifabschluss schützt. Die Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt das Ergebnis tarifautonomer Betätigung der Gewerkschaft und verhindert, dass die in diesem Tarifvertrag vereinbarten Rechtsnormen auf deren Mitglieder Anwendung finden und sie auf die vereinbarten Leistungen Anspruch haben.
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Die Verdrängungsregelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG kann zudem grundrechtsbeeinträchtigende Vorwirkungen entfalten, denn die drohende Verdrängung des eigenen Tarifvertrags kann das Verhalten der Gewerkschaften vor Eintritt einer Tarifkollision beeinflussen. Das Gesetz zielt gerade auf einen solchen vorwirkenden Effekt. Zwar gibt das Tarifeinheitsgesetz den Gewerkschaften kein bestimmtes Verhalten vor. Es setzt mit der Verdrängung eines Tarifvertrags jedoch einen Anreiz, Kollisionen zu vermeiden. Das wirkt sich für die Gewerkschaften im Vorfeld von Tarifabschlüssen und damit auch auf Entscheidungen zum Umgang mit der Kündigung von Tarifverträgen und zu neuen Verhandlungen nach deren Auslaufen aus. Die Möglichkeit, dass der eigene Tarifvertrag verdrängt werden könnte, und die gerichtliche Feststellung, in einem Betrieb in der Minderheit zu sein, können eine Gewerkschaft bei der Mitgliederwerbung und bei der Mobilisierung der Mitglieder auch für Arbeitskampfmaßnahmen schwächen und Entscheidungen zur tarifpolitischen Ausrichtung und Strategie beeinflussen. Beeinflusst wird auch die grundrechtlich geschützte Entscheidung, ob und inwieweit mit anderen Gewerkschaften kooperiert wird und welches Profil sich eine Gewerkschaft gibt, indem sie etwa bestimmt, welche Berufsgruppen von der eigenen satzungsmäßigen Zuständigkeit erfasst sein sollen. Auch diese Beeinflussung im Vorfeld beeinträchtigt die freie Grundrechtswahrnehmung.
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b) Hingegen hat der Gesetzgeber mit den angegriffenen Regelungen weder unmittelbar wirkende Anforderungen an die Gründung und den Bestand von Gewerkschaften noch an deren Profil normiert. Das Grundgesetz stünde dem Versuch, die Möglichkeit wirksamer Tarifabschlüsse großen Multibranchengewerkschaften vorzubehalten oder bestimmte Berufsgruppengewerkschaften gezielt aus der Tarifpolitik zu verdrängen, schon wegen des Wortlauts des Art. 9 Abs. 3 GG von vornherein entgegen, denn garantiert ist die Koalitionsfreiheit ausdrücklich allen Berufsgruppen.
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c) Auch das in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Recht, mit den Mitteln des Arbeitskampfes auf den jeweiligen Gegenspieler Druck und Gegendruck ausüben zu können, um zu einem Tarifabschluss zu gelangen, wird durch die angegriffenen Regelungen nicht beeinträchtigt. Insbesondere wird weder das Streikrecht eingeschränkt noch das mit dem Streik verbundene Haftungsrisiko erhöht.
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Zwar mag der Schutz von Unternehmen und Öffentlichkeit vor zunehmendem Streikgeschehen ein Motiv des Gesetzgebers gewesen sein. Doch hat sich dieser bewusst gegen Vorschläge entschieden, Vorgaben für den Arbeitskampf zur Vermeidung untragbarer Auswirkungen auf Dritte zu regeln (oben A II 3 b und A III 4 Rn. 10 und 25). Zwar nimmt die Begründung zum Gesetzentwurf auf den Arbeitskampf Bezug (BTDrucks 18/4062, S. 12). Doch wirkt sich die Kollisionsregel des § 4a TVG nicht auf die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen aus.
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Auch das Streikrecht einer Gewerkschaft, die in allen Betrieben nur die kleinere Zahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern organisieren kann, bleibt unangetastet; das gilt selbst dann, wenn die Mehrheitsverhältnisse bereits bekannt sind. Das ergibt sich schon daraus, dass die Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ebenso wie der Anspruch auf Nachzeichnung in § 4a Abs. 4 TVG den Abschluss eines weiteren Tarifvertrags voraussetzt; dieser muss also erkämpft werden können. Jedenfalls ist ein Arbeitskampf, der sich auf einen Tarifvertrag richtet, der sich mit einem anderen Tarifvertrag überschneiden wird, nicht schon deshalb rechtswidrig und insbesondere nicht unverhältnismäßig. Auch darf die vom Gesetzgeber bewusst erzeugte Unsicherheit über das Risiko einer Verdrängung im Vorfeld eines Tarifabschlusses weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen für sich genommen ein Haftungsrisiko einer Gewerkschaft für Arbeitskampfmaßnahmen begründen; dies haben die Arbeitsgerichte gegebenenfalls in verfassungskonformer Anwendung der Haftungsregelungen sicherzustellen.
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3. Die Beeinträchtigungen sind bei der verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung und Handhabung der angegriffenen Regelungen weitgehend zu rechtfertigen. Die Koalitionsfreiheit ist wie jedes vorbehaltlos gewährte Grundrecht zugunsten anderer Ziele mit Verfassungsrang beschränkbar. Gestaltet der Gesetzgeber das Verhältnis konkurrierender Gewerkschaften untereinander aus, um strukturelle Voraussetzungen dafür herzustellen oder zu sichern, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich ermöglichen, kann dies eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit grundsätzlich rechtfertigen (a). Die angegriffenen Regelungen verfolgen vor allem diesen legitimen Zweck und genügen auch ansonsten weitgehend, aber nicht in jeder Hinsicht, den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit(b).
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a) Die vorbehaltlos gewährleistete Koalitionsfreiheit ist durch gesetzliche Bestimmungen beschränkbar, die das Verhältnis konkurrierender Tarifvertragsparteien derselben Seite regeln, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich in der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ermöglichen.
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aa) Die Koalitionsfreiheit ist zwar vorbehaltlos gewährleistet. Sie ist kein Spezialfall der allgemeinen Vereinigungsfreiheit und unterliegt daher nicht den Schranken des Art. 9 Abs. 2 GG. Das bedeutet aber nicht, dass dem Gesetzgeber jede Regelung im Schutzbereich dieses Grundrechts verwehrt wäre. Gesetzliche Regelungen, die eine Beeinträchtigung des Art. 9 Abs. 3 GG bewirken, können zugunsten der Grundrechte Dritter sowie sonstiger mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechte und Gemeinwohlbelange gerechtfertigt werden (vgl. BVerfGE 84, 212 [228]; 92, 365 [403]; 100, 271 [283]; 103, 293 [306]; stRspr).
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bb) Gesetzliche Regelungen, die in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fallen, und die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie herstellen und sichern sollen, verfolgen einen legitimen Zweck (vgl. BVerfGE 84, 212 [225, 228]; 88, 103 [114 f.]; 92, 365 [394 f., 397]; 94, 268 [284]; 116, 202 [224]). Der Gesetzgeber hat eine entsprechende Ausgestaltungsbefugnis (vgl. BVerfGE 92, 26 [41]). Insbesondere wenn das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander berührt wird, die beide den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG genießen, bedarf die Koalitionsfreiheit der gesetzlichen Ausgestaltung (vgl. BVerfGE 94, 268 [284]; stRspr). Der Gesetzgeber hat die Rechtsinstitute und Normenkomplexe zu setzen, die dem Handeln der Koalitionen und insbesondere der Tarifautonomie Geltung verschaffen (vgl. BVerfGE 50, 290 [368]; 92, 26 [41]).
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cc) Art. 9 Abs. 3 GG berechtigt den Gesetzgeber insbesondere, Regelungen zum Verhältnis der sich gegenüber stehenden Tarifvertragsparteien zu treffen, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich ermöglichen und damit -- im Sinne der Tarifverträgen zukommenden Richtigkeitsvermutung -- angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können.
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Grundsätzlich enthält sich der Staat einer Einflussnahme und überlässt die autonome Vereinbarung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zum großen Teil den Koalitionen; dazu gehören insbesondere das Arbeitsentgelt und andere materielle Arbeitsbedingungen (vgl. BVerfGE 94, 268 [283]; 100, 271 [282]; 103, 293 [304]; 116, 202 [219]). Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können. Diese Freiheit findet ihren Grund in der historischen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht werden, als bei einer staatlichen Schlichtung (BVerfGE 88, 103 [114 f.]). Dem Tarifvertrag kommt daher eine Richtigkeitsvermutung zu. Es darf grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das von den Tarifvertragsparteien erzielte Verhandlungsergebnis richtig ist und die Interessen beider Seiten sachgerecht zum Ausgleich bringt; ein objektiver Maßstab, nach dem sich die Richtigkeit besser beurteilen ließe, existiert nicht. Im Zentrum der Richtigkeitsvermutung steht, dass mit dem kollektiven Vertragssystem die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überwunden werden kann. Das Tarifvertragssystem ist darauf angelegt, deren strukturelle Unterlegenheit beim Abschluss von individuellen Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Funktionsfähig ist die Tarifautonomie folglich nur, solange zwischen den Tarifvertragsparteien ein ungefähres Kräftegleichgewicht -- Parität -- besteht (vgl. BVerfGE 92, 365 [395]; stRspr). Die Vermutung der Richtigkeit des zwischen den Tarifvertragsparteien Ausgehandelten greift also nur unter diesen Voraussetzungen.
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Da Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG den sozialen Schutz der abhängig Beschäftigten im Wege der kollektivierten Privatautonomie garantiert (vgl. BAG, Urteil vom 14. Oktober 1997 -- 7 AZR 811/96 --, juris, Rn. 16; Urteil vom 23. März 2011 -- 4 AZR 366/09 --, juris, Rn. 21; stRspr) und mit Blick auf das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG kommt es dem Gesetzgeber zu, strukturelle Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich auch tatsächlich ermöglichen (vgl. schon BVerfGE 44, 322 [341 f.]; 92, 26 [41]). Der Gesetzgeber ist insofern nicht gehindert, Rahmenbedingungen für das Handeln der Koalitionen zu ändern (vgl. BVerfGE 84, 212 [228 f.]; 92, 365 [394]); er ist sogar verpflichtet einzugreifen, wenn nachhaltige Störungen der Funktionsfähigkeit des Systems vorliegen (vgl. BVerfGE 92, 365 [397]).
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dd) Der Gesetzgeber kann zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie jedoch nicht nur Regelungen in Kraft setzen, die zwischen den Tarifvertragsparteien Parität herstellen. Art. 9 Abs. 3 GG berechtigt den Gesetzgeber auch, Regelungen zum Verhältnis der Tarifvertragsparteien auf einer der beiden Seiten zu treffen, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen auch insofern einen fairen Ausgleich ermöglichen und in Tarifverträgen mit der ihnen innewohnenden Richtigkeitsvermutung angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können. Wurden strukturell ausgeglichene Verhandlungsbedingungen bislang vor allem durch Vorgaben zu sichern gesucht, die das Verhältnis sich gegenüber stehender Tarifvertragsparteien betrafen, schließt dies nicht aus, dass der Gesetzgeber auch das Verhältnis konkurrierender Tarifvertragsparteien ausgestaltet, die derselben Seite angehören. Zur Funktionsfähigkeit der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie gehört insoweit nicht nur die strukturelle Parität zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Zu ihr gehören, wo Gewerkschaften oder Arbeitgeber untereinander konkurrieren, auch Bedingungen der Aushandlung von Tarifverträgen, welche die Entfaltung der Koalitionsfreiheit selbst sichern, indem sie die Voraussetzungen für einen fairen Ausgleich der berührten Interessen schaffen.
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ee) Bei der Regelung der Strukturbedingungen der Tarifautonomie verfügt der Gesetzgeber über eine Einschätzungsprärogative und einen weiten Handlungsspielraum (vgl. BVerfGE 92, 365 [394]). Das Grundgesetz schreibt ihm nicht vor, wie Grundrechtspositionen im Einzelnen abzugrenzen sind. Es verlangt auch keine Optimierung der Kampfbedingungen. Grundsätzlich ist es den Tarifvertragsparteien selbst überlassen, ihr Handeln den sich wandelnden Umständen anzupassen, um ausgewogene Tarifabschlüsse zu erzielen. Doch ist der Gesetzgeber auch nicht gehindert, die Rahmenbedingungen der Tarifautonomie zu ändern, sei es aus Gründen des Gemeinwohls, sei es, um gestörte Paritäten wieder herzustellen (vgl. BVerfGE 84, 212 [228 f.]; 92, 365 [394]), sei es zur Sicherung eines fairen Ausgleichs auf nur einer Seite der sich gegenüberstehenden Koalitionen.
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Nur tatsächliche Schwierigkeiten und erst recht nur Schwierigkeiten auf Seiten der Arbeitgeber, die sich daraus ergeben, dass mehrere Gewerkschaften auftreten, rechtfertigen eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit dagegen grundsätzlich nicht. Denn ob eine Koalition sich im Arbeitsleben bilden und behaupten kann, wird vielmehr gerade auch durch den Wettbewerb unter den verschiedenen Gruppen bestimmt (vgl. BVerfGE 55, 7 [24]). Der Organisationsgrad einer Koalition, ihre Fähigkeit zur Anwerbung und Mobilisierung von Mitgliedern und ähnliche Faktoren liegen außerhalb der Verantwortung des Gesetzgebers. Er ist nicht gehalten, schwachen Verbänden Durchsetzungsfähigkeit bei Tarifverhandlungen zu verschaffen, denn Art. 9 Abs. 3 GG verlangt keine Optimierung der Kampfbedingungen, sondern verpflichtet den Staat auch insoweit zur Neutralität (vgl. BVerfGE 92, 365 [396]). Desgleichen darf der Gesetzgeber starke Verbände nicht gezielt schwächen, wenn das im Verhältnis zur Gegenseite den Grundsatz der Parität (oben C III 3 a cc Rn. 145 f.) verletzt. Er darf auch nicht gezielt gegen bestimmte Vereinigungen bestimmter Berufe vorgehen (oben C III 1 b und c Rn. 132 und 133).
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b) Die angegriffenen Regelungen genügen bei verfassungsrechtlich gebotener Auslegung und Handhabung weitgehend, aber nicht in jeder Hinsicht, den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Der Gesetzgeber verfolgt ein legitimes Ziel (aa) und die Verdrängung konkurrierender Tarifverträge ist nicht von vornherein ungeeignet (bb) oder ein gleich wirksames, milderes Mittel zur Erreichung dieses Ziels erkennbar (cc). Zur Sicherung der Zumutbarkeit ist allerdings bei der Anwendung der angegriffenen Regelungen den grundrechtlich geschützten Interessen hinreichend Rechnung zu tragen, soweit nicht der Gesetzgeber zur Nachbesserung verpflichtet ist (dd).
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aa) Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel (1) ist verfassungsrechtlich legitim (2).
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(1) Zweck der angegriffenen Regelungen ist es, Anreize für ein koordiniertes und kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungenzu setzen und so Tarifkollisionen zu vermeiden (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 9). Damit will der Gesetzgeber die Ausgangsbedingungen für im Tarifvertragssystem funktionierende Tarifverhandlungen sichern, welche er spezifisch gefährdet sieht, wenn es aufgrund der Ausnutzung betrieblicher Schlüsselpositionen auf Arbeitnehmerseite zur Tarifkollision im Betrieb kommt. Die Bundesregierung hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme dargelegt, es gehe um die Sicherung der Vernünftigkeit der Ausgangsbedingungen der Tarifverhandlungen, wie sie für die generelle Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags essentiell sei. Nach ihrer Einschätzung ist in einem System erhöhter Gewerkschaftskonkurrenz bei gleichzeitiger Ermöglichung von Tarifpluralität die Verhandlungssymmetrie in verschiedener Hinsicht gestört. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung soll die Verhandlungsstärke einschließlich der Arbeitskampfkraft der Arbeitnehmerseite als Ganze gesichert werden: Nähmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit besonderen Schlüsselpositionen in den Betrieben ihre Interessen gesondert wahr, führe dies tendenziell zu einer Beeinträchtigung einer wirksamen kollektiven Interessenvertretung durch die übrigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ohne besondere Schlüsselposition im Betriebsablauf seien diese dann selbst kollektiv nur noch eingeschränkt in der Lage, auf Augenhöhe mit der Arbeitgeberseite zu verhandeln (a.a.O., S. 9). Zudem werde die Verteilungsfunktion des Tarifvertrags gestört, wenn die konkurrierenden Tarifabschlüsse nicht den Wert verschiedener Arbeitsleistungen innerhalb einer betrieblichen Gemeinschaft zueinander widerspiegelten, sondern vor allem Ausdruck der jeweiligen Schlüsselpositionen der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen im Betriebsablauf seien (a.a.O., S. 11 f.). Bei erfolgreichen Tarifverhandlungen einer Gewerkschaft verringere sich der Verteilungsspielraum für die anders- und nichtorganisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (a.a.O., S. 8). Schließlich könne die Konkurrenz unterschiedlicher Tarifwerke die Herstellung von Gesamtkompromissen gefährden, die vor allem in wirtschaftlichen Krisensituationen oftmals zur Beschäftigungssicherung erforderlich seien (a.a.O.).
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(2) Der Gesetzgeber verfolgt damit ein legitimes Ziel.
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(a) Der Gesetzgeber ist berechtigt, Regelungen zum Verhältnis der Tarifvertragsparteien zu treffen, um strukturelle Voraussetzungen dafür herzustellen, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich ermöglichen (oben C III 3 a dd Rn. 148). Das gilt gerade, weil sich der Staat hier einer materiellen Regelung der Löhne und sonstiger Arbeitsbedingungen weitgehend enthält und deren Aushandlung den Tarifpartnern überlässt. Dies folgt sowohl aus Art. 9 Abs. 3 GG als auch aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) (oben C III 3 a cc Rn. 147). Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers findet seine Grenzen jedoch am objektiven Gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG. Die Tarifautonomie muss als ein Bereich gewahrt bleiben, in dem die Tarifvertragsparteien ihre Angelegenheiten grundsätzlich selbstverantwortlich und ohne staatliche Einflussnahme regeln können (BVerfGE 92, 365 [393 f.]). Diese Grenze ist hier nicht überschritten. § 4a TVG enthält keine materiellen Lohn- oder Verteilungsregelungen, sondern zielt auf die Struktur des von den Tarifpartnern eigenständig auszufüllenden Verhandlungsrahmens. So hat die Bundesregierung im Verfahren dargelegt, dass das Tarifeinheitsgesetz keine bestimmte Vorstellung einer materialen Gerechtigkeit zugrunde lege oder durchzusetzen versuche, sondern Prozesse des Verhandelns, der Abstimmung und der Koordination zwischen den Beteiligten anstoßen wolle.
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(b) Der Gesetzgeber verfolgt hier das legitime Ziel, zur Sicherung der strukturellen Voraussetzungen von Tarifverhandlungen das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander zu regeln, um zu verhindern, dass sich durch die isolierte Ausnutzung einer Schlüsselposition die strukturellen Bedingungen von Tarifverhandlungen in einer Weise entwickeln, dass eine faire Aushandlung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr gewährleistet ist.
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Bei der Regelung von Strukturbedingungen von Koalitionsfreiheit im Allgemeinen und Tarifautonomie im Besonderen verfügt der Gesetzgeber für die konkrete Zielsetzung über eine Einschätzungsprärogative und Gestaltungsspielraum beim Ausgleich der sich gegenüber stehenden Rechte (vgl. BVerfGE 92, 365 [394]). Diesen Spielraum überschreitet er hier nicht. Weil das Auftreten konkurrierender Gewerkschaften die Verhandlungsstrukturen im Tarifvertragssystem grundlegend beeinflussen kann, ist der Gesetzgeber befugt, auch diesen Aspekt der Tarifpolitik gesetzlich auszugestalten. Insbesondere darf der Gesetzgeber darauf zielen, dass der intergewerkschaftliche Wettbewerb nicht zur tarifpolitischen Schwächung und zum materiellen Nachteil solcher Arbeitnehmergruppen führt, die nicht über sogenannte Schlüsselpositionen und eine darauf beruhende Blockademacht im Betrieb verfügen. Er ist dabei grundsätzlich nicht darauf beschränkt, gegen bereits eingetretene Funktionsstörungen vorzugehen. Auch im Hinblick auf drohende Funktionsstörungen verfügt er über einen Einschätzungsspielraum bei der Frage, wann aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte ein legislatives Eingreifen geboten ist.
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bb) Die angegriffenen Regelungen sind im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geeignet, das Ziel zu erreichen, auf der Arbeitnehmerseite ein koordiniertes und kooperatives Vorgehen in Tarifverhandlungen zu bewirken, auch wenn nicht gewiss ist, dass dieser Effekt tatsächlich erzielt wird.
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(1) Es genügt, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes nicht offensichtlich ungeeignet sind, der Ausnutzung von Blockadepositionen einzelner Arbeitnehmergruppen in der Gestaltung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Betrieb entgegenzuwirken. Verfassungsrechtlich bedarf es nur der Möglichkeit, dass der erstrebte Erfolg so gefördert werden kann, also die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht (vgl. BVerfGE 90, 145 [172]; 126, 112 [144]; stRspr). Die Regelungen dürfen nur nicht von vornherein untauglich sein (vgl. BVerfGE 100, 313 [373]), was nicht schon der Fall ist, wenn ihre Umsetzung schwierig ist, sofern sie möglich erscheint (vgl. BVerfGE 110, 141 [164]). Der Gesetzgeber hat auch hier einen Einschätzungsspielraum für die Beurteilung der tatsächlichen Grundlagen einer Regelung (vgl. BVerfGE 104, 337 [347 f.]). Die Grenze liegt dort, wo sich deutlich erkennbar abzeichnet, dass eine Fehleinschätzung vorgelegen hat (vgl. BVerfGE 92, 365 [395 f.]).
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(2) Hier will der Gesetzgeber mit der Kollisionsnorm des § 4a Abs. 2 TVG sicherstellen, dass auch bei einem Wettbewerb der Gewerkschaften untereinander faire Bedingungen für das Aushandeln von Tarifverträgen bestehen und insbesondere Beschäftigte in Schlüsselpositionen im Betrieb ihre Forderungen nicht völlig losgelöst von den Interessen der anderen Beschäftigten geltend machen können. Der Gesetzgeber hat die scharfe Sanktion der Verdrängung eines Tarifvertrags bei Überschneidungen normiert, um die Gewerkschaften zur Kooperation zu bewegen und es so gar nicht erst zur Tarifkollision im Betrieb kommen zu lassen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass die Regelungen den bezweckten Koordinierungsanreiz tatsächlich entfalten. Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass eine völlige Fehleinschätzung seitens des Gesetzgebers vorgelegen hätte.
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Die mit den Verfassungsbeschwerden vorgebrachten Einwände greifen insoweit nicht durch. Insbesondere der Einwand, das Gesetz knüpfe an den Betrieb an und damit nicht an das für die Tarifpolitik zentrale Unternehmen, stellt die verfassungsrechtliche Eignung nicht in Frage. Eine Lösung von Tarifkollisionen im Betrieb kann einen Beitrag dazu leisten, in Teilbereichen eine destruktive Entwicklung im Tarifvertragssystem zu verhindern und dessen Funktionsfähigkeit zu stärken. Auch der Einwand, eine Tarifeinheitsregelung nur für den Betrieb schwäche den Flächentarifvertrag, stellt die Eignung der angegriffenen Regelungen, einen Anreiz für die Selbstkoordination der konkurrierenden Gewerkschaften zu setzen, nicht in Frage.
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cc) Gegen die Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen bestehen keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken. Der Gesetzgeber verfügt auch insoweit über einen Beurteilungs- und Prognosespielraum. Daher können Maßnahmen, die der Gesetzgeber zum Schutz eines wichtigen Zieles für erforderlich hält, verfassungsrechtlich nur beanstandet werden, wenn nach den ihm bekannten Tatsachen und im Hinblick auf die bisherigen Erfahrungen feststellbar ist, dass Regelungen, die als Alternativen in Betracht kommen, die gleiche Wirksamkeit versprechen, die Betroffenen indessen weniger belasten (vgl. BVerfGE 116, 202 [225]; stRspr). Hier steht jedenfalls kein eindeutig sachlich gleichwertiges, also zweifelsfrei gleich wirksames, die Grundrechtsberechtigten aber weniger beeinträchtigendes Mittel zur Verfügung, um den mit dem Gesetz verfolgten Zweck zu erreichen. Das Bundesverfassungsgericht prüft hier nicht, ob es bessere Lösungen für die hinter einem Gesetz stehenden Probleme gibt. Der Gesetzgeber hat seinen Beurteilungs- und Prognosespielraum nicht verletzt.
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(1) Der Gesetzgeber hat sich bewusst gegen alternative Regelungen (oben A II 3 b Rn. 10) zum Umgang mit Problemen entschieden, die aus der Konkurrenz unterschiedlicher Gewerkschaften und dem Abschluss mehrerer Tarifverträge mit Geltung in einem Betrieb erwachsen können. Er hält das in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung verwendete Spezialitätsprinzip wie auch ein Modell sogenannter "dynamischer Repräsentativität" nicht für gleich wirksam und auch nicht für milder als das Mehrheitsprinzip; auch eine auf bestimmte Bereiche wie namentlich die Daseinsvorsorge beschränkte Regelung wird nicht als gleich wirksam angesehen. Nicht aufgegriffen hat der Gesetzgeber auch die weiteren Vorschläge zur Einbeziehung der Minderheitsgewerkschaft in die Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Mehrheitsgewerkschaft, zu einer Synchronisierung der Laufzeiten von Tarifverträgen, zu der Vorgabe einer Streikführerschaft der Mehrheitsgewerkschaft oder zur Etablierung einer besonderen Schlichtung oder zur Einschränkung des Arbeitskampfrechtes in Bereichen der Daseinsvorsorge. Dass es sich dabei um gleich wirksame und eindeutig weniger belastende Regelungen handelte, ist nicht feststellbar.
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Auch steht mit der Anforderung der Tariffähigkeit ein von der Rechtsprechung entwickeltes tarifvertragsrechtliches Instrument zur Verfügung, gewisse destruktive Entwicklungen in der Tarifpolitik zu verhindern. So sichert die Rechtsprechung zur Tariffähigkeit, dass nicht jede Splittervereinigung Tarifverträge erkämpfen und abschließen kann, denn tariffähig ist nur diejenige Vereinigung, die ein Mindestmaß an Verhandlungsgewicht und also eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler aufweist (vgl. BVerfGE 58, 233 [248 f.]; 100, 214 [223]; näher BAG, Beschluss vom 6. Juni 2000 -- 1 ABR 10/99 --, juris, Rn. 34; Beschluss vom 14. Dezember 2010 -- 1 ABR 19/10 --, juris, Rn. 81). Die Regeln des Tarifeinheitsgesetzes vermag dies aber offenkundig nicht zu ersetzen. Eine solche, durchsetzungsschwache Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen verdrängende Anforderung ist kein geeignetes Mittel gegen die Ausnutzung betrieblicher Schlüsselpositionen durch einzelne insoweit durchsetzungsstarke Gewerkschaften.
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(2) Der Einwand, tatsächlich sei die Tarifautonomie durch Tarifkollisionen nicht gefährdet und eine Regelung daher nicht erforderlich, greift verfassungsrechtlich nicht durch. Der Gesetzgeber ist nicht darauf beschränkt, gegen bereits eingetretene Funktionsstörungen vorzugehen, sondern verfügt auch mit Blick auf drohende Funktionsstörungen über einen Einschätzungsspielraum (oben C III 3 b aa (2) (b) Rn. 157). Den Gesetzgeber trifft die politische Verantwortung für eine zutreffende Erfassung und Bewertung der maßgebenden Faktoren. Verfassungsrechtlich ist diese solange zu akzeptieren, wie sich nicht deutlich erkennbar abzeichnet, dass eine Fehleinschätzung vorgelegen hat oder die angegriffene Maßnahme von vornherein darauf hinausläuft, ein vorhandenes Gleichgewicht der Kräfte zu stören oder ein Ungleichgewicht zu verstärken (vgl. BVerfGE 92, 365 [396]) oder sonst gegen verfassungsrechtliche Vorgaben zu verstoßen. Das ist hier nicht der Fall.
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dd) Die mit den angegriffenen Regelungen verbundenen Belastungen sind im Ergebnis weitgehend zumutbar. Die Beeinträchtigungen der Koalitionsfreiheit der Betroffenen wiegen schwer (1). Doch verfolgt der Gesetzgeber mit dem Tarifeinheitsgesetz gewichtige Ziele gerade auch im Interesse der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und mit dem Ziel des sozialen Ausgleichs (2). In der Abwägung erweisen sich die Beeinträchtigungen des Art. 9 Abs. 3 GG bei teils verfassungsrechtlich gebotener restriktiver Auslegung der Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes als im Wesentlichen zumutbar, weil sich die Belastungswirkungen so hinreichend beschränken lassen (3). Mit Blick auf den Schutz der Gewerkschaftsmitglieder aus den Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, genügt die Regelung allerdings insofern nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, als sie keine Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen dieser Berufsgruppen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft vorsehen (4).
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(1) Die mit den angegriffenen Regelungen einhergehenden Beeinträchtigungen der Koalitionsfreiheit wiegen schwer. Das gilt sowohl für die in § 4a Abs. 2 TVG angeordnete Verdrängungswirkung selbst (a) als auch für die damit einhergehenden, vom Gesetzgeber beabsichtigten Vorwirkungen dieser Regelung (b).
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(a) § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG führt im Fall einer Tarifkollision zur Verdrängung der Rechtsnormen eines abgeschlossenen Tarifvertrags. Der betroffenen Gewerkschaft wird damit das von ihr Erreichte genommen und ihr Mitglied hinsichtlich dieses Tarifvertrags tariflos gestellt. Dennoch ist die Gewerkschaft weiter an die Friedenspflicht und die Abreden zur Laufzeit ihres eigenen Tarifvertrags gebunden. Die damit verbundenen Verluste können auch durch Betriebsvereinbarungen nicht kompensiert werden, da die Sperrwirkung der § 77 Abs. 3, § 87 Abs. 1 BetrVG greift, die sich entweder aus dem anwendbaren Tarifvertrag oder der durch den verdrängten Tarifvertrag belegten Tarifüblichkeit ergibt. Damit trifft § 4a Abs. 2 TVG die Tarifautonomie als die zentrale Betätigungsform und den Zweck von Koalitionen schwer (oben C III 1 a Rn. 131); die Verdrängung bewirkt eine Entwertung erreichter Tarifabschlüsse und beeinträchtigt so den verfassungsrechtlich gewährleisteten Tarifvertragsschutz.
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(b) Von erheblichem Gewicht sind zudem die mit den beabsichtigten Vorwirkungen der Regelung verbundenen Beeinträchtigungen der Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG im Vorfeld einer Tarifkollision. Die angegriffene Norm beeinträchtigt so bereits vor einer Tarifkollision die tarifpolitische Freiheit der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder, die in einem Betrieb strukturell oder sogar offenkundig lediglich eine Minderheit der Beschäftigten organisieren. Für sie besteht die Gefahr, dass sie vom sozialen Gegenspieler von vornherein nicht mehr als Tarifpartner ernstgenommen werden, weil klar oder jedenfalls wahrscheinlich ist, dass die von ihnen abgeschlossenen Tarifverträge nicht zur Anwendung kommen. Diese Gewerkschaften verlieren an Attraktivität und Mobilisierungskraft für den Arbeitskampf. Mit dem potentiellen Bedeutungsverlust und der nachlassenden Gestaltungskraft erhöht sich der Druck, die tarifpolitische Ausrichtung zu ändern. Ausweislich der Stellungnahmen und des Vorbringens in der mündlichen Verhandlung ist in Betrieben derzeit häufig keine Kenntnis darüber vorhanden, welche Gewerkschaft im Verhältnis zu anderen nach ihrer Satzung überschneidend zuständigen Gewerkschaften eine Mehrheit der Beschäftigten organisiert. Aus dieser Unkenntnis über die eigene relative Stärke resultiert eine Unsicherheit über die Durchsetzbarkeit eigener Tarifverträge und eine tarifpolitische Schwächung. Dies ist gewollt, weil sie die Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft im Sinne eines koordinierten und kooperativen Vorgehens der Gewerkschaften fördern soll. Sie beeinträchtigt die grundrechtlich geschützte Freiheit der inneren Organisation und Ausrichtung. Sind die Mehrheitsverhältnisse hingegen bekannt, ist die Gewerkschaft, die sich in einem Betrieb in der Minderheit befindet, aufgrund der angegriffenen Regelungen erst recht geschwächt, denn dann ist offenkundig, dass sie sich in diesem Betrieb nicht wird durchsetzen können.
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(c) Eine zusätzliche Beeinträchtigung der koalitionsspezifischen Betätigungsfreiheit durch die angegriffenen Regelungen liegt schließlich darin, dass mit dem Beschlussverfahren zum Kollisionsfall nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG das Risiko einhergeht, offenbaren zu müssen, wie hoch die Zahl der Mitglieder ist, und damit die Kampfstärke in dem Betrieb offen zu legen.
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(2) Das Tarifeinheitsgesetz soll die strukturellen Voraussetzungen dafür schaffen und erhalten, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich ermöglichen. Weil sich der Staat einer materiellen Regelung der Löhne und sonstiger Arbeitsbedingungen grundsätzlich enthält und deren Aushandlung den Tarifpartnern überlässt, kann er die strukturellen Voraussetzungen dieser Aushandlung regeln; aus Art. 9 Abs. 3 GG folgen eine entsprechende Ausgestaltungsbefugnis und gegebenenfalls ein Ausgestaltungsauftrag (oben C III 3 a bb Rn. 144). Die Sicherung der Bedingungen eines funktionsfähigen Tarifvertragssystems auch nur auf der Seite der Gewerkschaften ist von erheblicher Bedeutung dafür, die mit der Koalitionsfreiheit verbundenen Zwecke auch tatsächlich zu erreichen. Wie real und wie weitgehend diese Gefährdungen ohne entsprechende Reaktionen des Gesetzgebers sind, hat der Gesetzgeber im Rahmen seines Einschätzungs- und Prognosespielraums (oben C III 3 a ee Rn. 149) zu bewerten. Dass der Gesetzgeber diesen Spielraum überschritten hätte, haben die Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht ergeben.
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(3) Die angegriffenen Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes beeinträchtigen mit ihren Vorwirkungen auf die Organisation, tarifpolitische Ausrichtung und Verhandlungsfähigkeit der Gewerkschaften und im Fall der Verdrängung eines Tarifvertrags mit der Entwertung des Verhandlungsergebnisses der Minderheitsgewerkschaft die Tarifautonomie erheblich. Auch unter Berücksichtigung des hohen Gewichts der mit dem Tarifeinheitsgesetz verfolgten Ziele erweisen sich diese Belastungen in der Gesamtabwägung nur dann als zumutbar, wenn ihnen durch eine restriktive Auslegung der Verdrängungsregelung und ihrer verfahrensrechtlichen Einbindung Schärfen genommen werden. Teils ist die einschränkende Auslegung und Handhabung für sich genommen verfassungsrechtlich geboten. Im Übrigen hat der Senat für die Beurteilung der Zumutbarkeit eine restriktive Auslegung der angegriffenen Regelungen zugrunde gelegt, die als solche nicht von Verfassungs wegen geboten ist. Soweit die Fachgerichte hier zu anderen Ergebnissen kommen, haben diese die Zumutbarkeit der Regelungen auch in ihrer Gesamtbelastung im Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG zu berücksichtigen. Soweit Regelungen zum Berufsgruppenschutz fehlen, bedarf es der gesetzlichen Nachbesserung.
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Dafür ist von Bedeutung, dass die Vorgabe der Verdrängung eines Tarifvertrags nach § 4a Abs. 2 TVG, sofern sie schon kraft Gesetzes eintritt, doch unter bestimmten Bedingungen von den Tarifvertragsparteien abbedungen werden kann (a). Der kollidierende Minderheitstarifvertrag wird grundsätzlich vollständig verdrängt, doch ist die Verdrängungsregelung restriktiv auszulegen und die Verdrängungswirkung mehrfach beschränkt (b). Tarifvertraglich garantierte Leistungen besonderer Qualität müssen gegenüber der Verdrängungswirkung Bestand haben, um unzumutbare Härten zu vermeiden (c). Kommt es zur Verdrängung der Anwendbarkeit eines Tarifvertrags, lebt er grundsätzlich wieder auf, wenn der verdrängende Tarifvertrag endet (d). Die Regelung des § 4a Abs. 4 TVG zum Anspruch auf Nachzeichnung, der den durch die Verdrängung erlittenen Rechtsverlust teilweise ausgleichen soll, ist entsprechend dem Umfang der Verdrängung weit auszulegen (e). Werden die Vorgaben einer Bekanntgabe von Tarifverhandlungen im Betrieb nach § 4a Abs. 5 Satz 1 TVG und einer Anhörung konkurrierender Gewerkschaften nach § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG verletzt, liegen die Voraussetzungen der Verdrängung nicht vor (f). Das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren nach § 99 ArbGG ist so zu führen, dass die Mitgliederstärke der Gewerkschaften nach Möglichkeit nicht offen gelegt wird (g).
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(a) Das Gewicht der Beeinträchtigung ist dadurch relativiert, dass es die Betroffenen in gewissem Maße selbst in der Hand haben, ob es zur Verdrängungswirkung kommt oder nicht.
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(aa) Zwar tritt die Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nach derzeit wohl überwiegender Auffassung kraft Gesetzes ein, sobald es zur Tarifkollision kommt (vgl. u.a. Franzen, in: ErfK, 17. Aufl. 2017, § 4a TVG Rn. 17; Giesen, in: BeckOK ArbR, 43. Ed., § 4a TVG Rn. 21; Bepler, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Aufl. 2016, § 4a TVG Rn. 55; a.A. Löwisch, NZA 2015, S. 1369 f.; Greiner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, 2. Aufl. 2016, Teil 9 Rn. 112a). Die Verdrängung ist danach nicht von einer Feststellung des Arbeitsgerichts nach § 99 ArbGG abhängig. Die Tarifvertragsparteien haben es demnach nicht in der Hand, die Verdrängungswirkung dadurch zu vermeiden, dass sie keinen Antrag nach § 99 ArbGG stellen. Eine gerichtliche Entscheidung dazu, welcher Tarifvertrag in einem Betrieb als von der Mehrheitsgewerkschaft geschlossen zur Anwendung kommt, kann vielmehr ohne Zutun der Tarifvertragsparteien im arbeitsrechtlichen Individualrechtsstreit erfolgen.
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Dass der Gesetzgeber als maßgeblichen Zeitpunkt der Kollision in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG auf den Abschluss des kollidierenden Tarifvertrags abstellt, spricht auch dafür, die Verdrängungswirkung auf diesen Zeitpunkt zu beziehen; ab dann besteht kein Anspruch mehr auf von der Minderheit im Betrieb tariflich vereinbarte Leistungen. Zwingend geboten ist diese Auslegung indessen von Verfassungs wegen nicht.
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(bb) Einflussmöglichkeiten der Tarifvertragsparteien bestehen jedoch insofern, als die Regelung des § 4a TVG tarifdispositiv ist.
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Für die Annahme, dass die Kollisionsnorm des § 4a TVG zur Disposition der Tarifvertragsparteien steht (so auch Bepler, in: Däubler/Bepler, Das neue Tarifeinheitsrecht, 1. Aufl. 2016, Rn. 291 ff.; Berg, in: Berg/Kocher/Schumann, TVG und Arbeitskampfrecht, 5. Aufl. 2015, § 4a Rn. 38; a.A. Greiner, NZA 2015, S. 769 [774 f.]; Schliemann, NZA 2015, S. 1298), spricht, dass der Gesetzgeber mit dem Tarifeinheitsgesetz in erster Linie auf eine Selbststeuerung der Gewerkschaften zielt, um über die Vorwirkung dieser Regelung eine Kollision mit der Folge des Tarifverlusts zu vermeiden. Auch eine Auslegung des § 4a TVG im Lichte der grundrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit spricht für dessen Verständnis als dispositive Regelung, weil dies die Spielräume der Tarifvertragsparteien erhöht.
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Allerdings müssen alle von der Kollisionsnorm positiv oder negativ betroffenen Tarifvertragsparteien vereinbaren, die Regelung des § 4a TVG auszuschließen. Insoweit müssen also alle in einem Betrieb kollidierend tarifierenden Gewerkschaften und der Arbeitgeber übereinkommen. Dies entspricht im Ergebnis der in § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG getroffenen Entscheidung des Gesetzgebers, Tarifpluralität grundsätzlich zu akzeptieren. Diese Dispositivität steht im Einklang mit dem Ziel des Art. 9 Abs. 3 GG, die Ausgestaltung tarifvertraglicher Regelungen so weit wie möglich den Tarifvertragsparteien ohne staatliche Ingerenz zu überlassen.
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(b) Die Zumutbarkeit der angegriffenen Regelung hängt auch davon ab, wie weit die Verdrängungswirkung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG reicht. Im Ergebnis ist die Verdrängungswirkung nach ihrer gesetzlichen Ausgestaltung mehrfach beschränkt.
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(aa) § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG regelt die Verdrängung des kollidierenden Tarifvertrags der Minderheitsgewerkschaft, soweit eine Überschneidung mit dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft in räumlicher, zeitlicher, betrieblich-fachlicher und persönlicher Hinsicht vorliegt. Soweit der Mehrheitstarifvertrag in demselben Betrieb für die gleiche Berufsgruppe Regelungen des Arbeitsverhältnisses enthält, die mit nicht inhaltsgleichen Regelungen des Minderheitstarifvertrags kollidieren, wird der Minderheitstarifvertrag grundsätzlich insgesamt, also nicht beschränkt auf den Kollisionsbereich, verdrängt. Denn die Anwendung der Kollisionsregel setzt nicht voraus, dass sich die Regelungsgegenstände der sich persönlich überschneidenden Tarifverträge völlig decken (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 13; BTDrucks 18/4156, S. 10). Das zeigt schon der Vergleich mit § 4a Abs. 3 TVG, der eine inhaltliche Überschneidung fordert, und mit § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG, der eine Überschneidung von Geltungsbereichen und Rechtsnormen voraussetzt, wohingegen in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nur von der Überschneidung im "Geltungsbereich" die Rede ist. Die in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG geregelte Verdrängung erfasst dann nur die Rechtsnormen des Minderheitstarifvertrags, also Inhalts-, Betriebs- und betriebsverfassungsrechtliche Normen vorbehaltlich der Sonderregelung in § 4a Abs. 3 TVG, nicht aber schuldrechtliche Vereinbarungen. An die Friedenspflicht des verdrängten Tarifvertrags sind die Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft also weiterhin gebunden.
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Soweit hingegen keine Überschneidung im persönlichen Geltungsbereich zweier Tarifverträge vorliegt, besteht keine Tarifkollision; es gelten dann beide Tarifverträge jeweils für die Personen, für die nur sie Regelungen getroffen haben. Damit bleiben insbesondere berufsgruppenspezifische Tarifleistungen erhalten, wenn eine Branchengewerkschaft im Betrieb für andere und eventuell auch größere Teile der Belegschaft tarifiert, aber eben nicht für diejenigen, die in der in diesem Betrieb weniger stark vertretenen, aber nicht überschneidend tarifierenden Gewerkschaft organisiert sind.
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Nach § 4a Abs. 3 TVG gilt die Verdrängung für bestimmte betriebsverfassungsrechtliche Normen auch nur, soweit eine inhaltliche Überschneidung vorliegt; damit will der Gesetzgeber die Kontinuität tarifvertraglich geschaffener betriebsverfassungsrechtlicher Vertretungsstrukturen sichern (BTDrucks 18/4062, S. 14).
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An einer Tarifkollision fehlt es zudem von vornherein, wenn auf einen anderen Tarifvertrag lediglich arbeitsvertraglich Bezug genommen wird, denn dann ergibt sich die Bindung aus dem Vertrag und nicht aus § 3 TVG; es kommt nicht zur Verdrängung.
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In anderen Betrieben bleibt nach dem betriebsbezogenen Konzept des Gesetzgebers ein in einem Betrieb verdrängter Tarifvertrag anwendbar.
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(bb) Darüber hinaus sind die Arbeitsgerichte, um die Zumutbarkeit der mit dem Tarifeinheitsgesetz einhergehenden Beeinträchtigungen der Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG zu wahren, gehalten, die sich im Geltungsbereich in einem Betrieb überschneidenden Tarifverträge im Kollisionsfall mit dem Ziel der größtmöglichen Schonung der durch eine Verdrängung beeinträchtigten Grundrechtspositionen auszulegen. Regelungen werden insbesondere dann nicht verdrängt, wenn und soweit es dem Willen der Tarifvertragsparteien des Mehrheitstarifvertrags entspricht, eine entsprechende Ergänzung ihrer Regelungen durch Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften zuzulassen (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 13). Dieser Wille kann ausdrücklich dokumentiert sein, aber auch implizit zum Ausdruck kommen. Besteht also Grund zu der Annahme, dass Regelungen kollidierender Tarifverträge nebeneinander bestehen sollen oder bei objektivierender Sicht nicht in den Gesamtkompromiss der ausgehandelten Leistungen eingestellt wurden, findet die Verdrängung dort aus verfassungsrechtlichen Gründen zum Schutz eines geschlossenen Tarifvertrags nicht statt. So muss die Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG aus verfassungsrechtlichen Gründen auf das beschränkt werden, was auch objektiv als anders vereinbart anzusehen ist. Eine Verdrängung findet also ihre Grenze, soweit subjektiv aus Sicht der Mehrheitsgewerkschaft oder aus einer objektivierten Perspektive neben dem anwendbaren Tarifvertrag weitere inhaltliche Regelungen anwendbar bleiben sollen. Das ist der Fall, wenn Tarifleistungen nicht erkennbar untereinander verknüpft sind, weil sie zu ganz verschiedenen Regelungskomplexen gehören (vgl. zu geschlossenen Regelungssystemen für bestimmte Personenkreise BAG, Urteil vom 6. Mai 2009 -- 10 AZR 390/08 --, juris, Rn. 29 ff.).
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(c) Mit dem durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Bestandsschutz für tarifvertraglich garantierte Leistungen unvereinbar wäre -- auch unbeschadet eines unter Umständen aus Art. 14 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG resultierenden Schutzes -- der Verlust langfristig angelegter, die Lebensplanung der Beschäftigten berührender Ansprüche aus dem Minderheitstarifvertrag durch dessen Verdrängung, ohne die Möglichkeit vergleichbare Leistungen im nachzeichnungsfähigen Mehrheitstarifvertrag zu erhalten. Das betrifft längerfristig bedeutsame Leistungen, auf die sich Beschäftigte in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen und auf deren Bestand sie berechtigterweise vertrauen. Der ersatzlose Verlust oder die substantielle Entwertung insoweit bereits erworbener Ansprüche oder Anwartschaften infolge einer Verdrängung des zugrunde liegenden Tarifvertrags würde unverhältnismäßig jedenfalls in die grundrechtlich geschützte Teilhabe am Tarifergebnis eingreifen. So läge eine unzumutbare Härte zum Beispiel vor, wenn eine tarifvertraglich vereinbarte, langfristig angelegte Leistung zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit, soweit sie bereits erworben ist, durch einen verdrängenden Tarifvertrag verloren ginge oder substantiell entwertet würde, der dafür überhaupt keine Regelung trifft. Desgleichen wäre es etwa unzumutbar, wenn aufgrund einer Kollision nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG Beschäftigte dazu gezwungen wären, eine unmittelbar bevorstehende oder bereits begonnene berufliche Bildungsmaßnahme nicht wahrnehmen zu können oder abbrechen zu müssen.
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Der Gesetzgeber hat in § 4a TVG keine Vorkehrungen getroffen, die sicherstellen, dass solche unzumutbaren Härten vermieden werden. Die Gerichte müssen von Verfassungs wegen bei der Anwendung des für die weitere Gewährung solcher längerfristig angelegter Leistungen maßgeblichen Rechts sicherstellen, dass es zu diesen Härten nicht kommt. Sollte dies nach geltendem Recht nicht möglich sein, wären die entgegenstehenden Regelungen dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Kontrolle ihrer Verfassungsmäßigkeit vorzulegen. Nötigenfalls ist der Gesetzgeber gehalten, die Zumutbarkeit der Verdrängung solcher Leistungen zu sichern.
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(d) Die beeinträchtigende Wirkung der angegriffenen Regelungen wird weiter dadurch beschränkt, dass § 4a Abs. 2 TVG in der Weise auszulegen ist, dass eine Verdrängung nur solange andauert, wie der verdrängende Tarifvertrag läuft und kein weiterer Tarifvertrag ebenfalls eine Verdrängung bewirkt. Der verdrängte Tarifvertrag lebt folglich für die Zukunft wieder auf, wenn die Laufzeit des verdrängenden Tarifvertrags endet (so auch Treber, in: Schaub, ArbRHdb, 16. Aufl. 2015, § 203 Rn. 58; Berg, in: Berg/ Kocher/Schumann, TVG und Arbeitskampfrecht, 5. Aufl. 2015, § 4a Rn. 46; Franzen, in: ErfK, 17. Aufl. 2017, § 4a Rn. 7 f.). Ob und wieweit -- wie in der mündlichen Verhandlung vorgetragen -- ein Wiederaufleben zur Vermeidung eines absehbar kurzfristigen Springens zwischen verschiedenen Tarifwerken für eine begrenzte Zeit auch im Rahmen der Nachwirkung des Mehrheitstarifvertrags auszuschließen ist, obliegt der Beurteilung der Fachgerichte.
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(e) Die Nachzeichnungsoption in Bezug auf den Mehrheitstarifvertrag aus § 4a Abs. 4 TVG mildert die Belastungswirkungen der Verdrängungsregelung für die Betroffenen. Die Regelung bedarf, um die Zumutbarkeit der Verdrängungswirkung zu sichern, von Verfassungs wegen einer weiten Auslegung.
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Der Nachzeichnungsanspruch kann nach Maßgabe des § 4a Abs. 4 TVG nur geltend gemacht werden, wenn zwei kollidierende Tarifverträge tatsächlich abgeschlossen worden sind. Er ist jedoch nicht davon abhängig, dass der Tarifvertrag der nachzeichnenden Gewerkschaft tatsächlich verdrängt wird, sie also im Betrieb tatsächlich eine Minderheit der Beschäftigten organisiert. Aus Gründen der Praktikabilität genügt vielmehr, dass eine Gewerkschaft potentiell einen Nachteil erleiden könnte (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 14), ohne dass im Zeitpunkt der Nachzeichnung die Mehrheitsverhältnisse im Betrieb bereits abschließend geklärt sein müssten (vgl. Giesen, in: BeckOK ArbR, 43. Ed., § 4a TVG Rn. 23).
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Inhalt und Umfang des Nachzeichnungsanspruchs ergeben sich aus § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG. Die Regelung sieht eine Nachzeichnung des angestrebten Tarifvertrags vor, soweit sich die Geltungsbereiche und Rechtsnormen der Tarifverträge überschneiden. Dies darf nicht dahin verstanden werden, dass eine Nachzeichnung sich nur auf solche Gegenstände erstrecken kann, für die in dem verdrängten Tarifvertrag ausdrücklich Regelungen getroffen wurden. Bei diesem Verständnis wäre das Nachzeichnungsrecht einer Gewerkschaft nur auf den tatsächlichen Überschneidungsbereich der Tarifverträge beschränkt, während die Verdrängung im Kollisionsfall nach § 4a Abs. 2 TVG grundsätzlich umfassend auch jenseits des sachlichen Überschneidungsbereichs gelten würde.
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Eine solche Auslegung ist mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar. Der Anspruch auf eine derart asymmetrische Teilnachzeichnung kann den Verlust der verfassungsrechtlich gesicherten Rechtspositionen derjenigen Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wird, nicht kompensieren. Die Einengung des Nachzeichnungsrechts auf den tatsächlichen Überschneidungsbereich hätte zur Folge, dass die von der Verdrängung bedrohte oder betroffene Gewerkschaft und ihre Mitglieder jenseits des Überschneidungsbereichs ersatzlos verlöre, was sie selbst in ihrem Tarifvertrag erreicht haben, die andere Gewerkschaft jedoch -- beabsichtigt oder unbeabsichtigt -- nicht in ihren Tarifvertrag einbezogen hat. Es bestünde kein Anspruch auf Leistungen, die im Gesamtpaket der tariflichen Vereinbarung der anderen Gewerkschaft enthalten, im Vertrag der nachzeichnenden Gewerkschaft aber nicht geregelt sind.
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Tragfähige Gründe für die Einschränkung der Nachzeichnung auf den tatsächlichen Überschneidungsbereich sind weder im Gesetzgebungsverfahren noch im Rahmen der Verfassungsbeschwerden vorgebracht worden und auch sonst nicht erkennbar. Vielmehr ist § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG zum Schutz der Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG verfassungskonform dahin auszulegen, dass die Gewerkschaft, deren Tarifvertrag im Betrieb aufgrund einer Kollision nicht anwendbar ist oder sein wird, einen Anspruch auf Nachzeichnung des verdrängenden Tarifvertrags in seiner Gesamtheit hat. So korrespondiert das Nachzeichnungsrecht zumindest mit der Reichweite der Verdrängung, kann aber auch über die Inhalte des eigenen Tarifvertrags hinausgehen. Der Verlust des selbst ausgehandelten Gesamtpaketes wird gerade durch die Option in Grenzen gehalten, sich in der Sache dem gesamten anderen Tarifvertrag anzuschließen (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 9; zum Anschlusstarifvertrag BAG, Beschluss vom 28. März 2006 -- 1 ABR 58/04 --, juris, Rn. 72 f.).
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(f) Die Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG durch die Verdrängung abgeschlossener Tarifverträge wird durch Verfahrens- und Beteiligungsrechte gemindert, die der betroffenen Gewerkschaft in § 4a Abs. 5 TVG eingeräumt sind. So ist der Arbeitgeber nach § 4a Abs. 5 Satz 1 TVG verpflichtet, die Aufnahme von Tarifverhandlungen rechtzeitig und in geeigneter Weise im Betrieb bekannt zu geben; zudem hat die nicht selbst verhandelnde, aber nach ihrer Satzung auch tarifzuständige Gewerkschaft nach § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG einen Anspruch darauf, dem Arbeitgeber ihre Vorstellungen mündlich vorzutragen. Dieses Vortragsrecht ist selbständig einklagbar (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 15).
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Die Bekanntgabepflicht und das der betroffenen Gewerkschaft eingeräumte Vortragsrecht bei den Tarifverhandlungen mit einer anderen Gewerkschaft dienen ihrer Beteiligung und sichern so verfahrensrechtlich ihre Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG, die durch die mögliche Verdrängung nach § 4a Abs. 2 TVG bedroht sind. Zudem geben sie im Vorfeld von Tarifverhandlungen Gelegenheit, Tarifforderungen aufeinander abzustimmen und damit Tarifkollisionen autonom zu vermeiden (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 15). Diese Verfahrenspositionen dürfen nicht lediglich als bloße Formalitäten oder schlichte Obliegenheiten behandelt werden. Beide sind vielmehr als echte Rechtspflichten zu verstehen. Weil diese Verfahren hier zum Schutz der Grundrechte beitragen und weil die vom Gesetzgeber angestrebte Koordination und Kollisionsvermeidung durch die Gewerkschaften nur dann sinnvoll erfolgen kann, wenn andere tarifzuständige Gewerkschaften tatsächlich im Vorfeld beteiligt werden, darf eine Verletzung der Verfahrensrechte, die in diesem Zusammenhang verfassungsrechtliche Bedeutung erlangen, nicht sanktionslos bleiben. Nur so lässt sich ihre hier verfassungsrechtlich gebotene Wirksamkeit sichern. Die angegriffenen Bestimmungen des § 4a Abs. 5 TVG sind deshalb so auszulegen und anzuwenden, dass der Tatbestand einer nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängenden Tarifkollision nur erfüllt ist, wenn die Pflichten zur Bekanntgabe von Tarifverhandlungen und zur Anhörung nicht verletzt worden sind. Soweit es in der Begründung des Gesetzentwurfs heißt, die Anwendung des Grundsatzes der Tarifeinheit stehe nicht unter dem Vorbehalt der Anhörung (BTDrucks 18/4062, S. 15), darf daraus kein gegenteiliger Schluss gezogen werden. Welche Anforderungen an eine wirksame Anhörung und Bekanntgabe nach § 4a Abs. 5 TVG zu stellen sind, ist von den Fachgerichten zu konkretisieren.
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(g) Die Belastungen, die mit dem Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG durch eine etwaige Offenlegung der Mitgliederstärke für die Gewerkschaften einhergehen können, sind im Ergebnis zumutbar.
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Die gerichtliche Feststellung der Mehrheitsverhältnisse im Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG birgt die Gefahr, dass die Mitgliederstärke der Gewerkschaften im Betrieb gegenüber dem Arbeitgeber offen gelegt wird. Dies ist mit Rücksicht auf die in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Parität zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber (oben C III 1 a und C III 3 a cc Rn. 131 und 146 f.) nach Möglichkeit zu vermeiden. Denn die Ungewissheit über die für die tatsächliche Durchsetzungskraft der Gewerkschaft wesentliche Mitgliederstärke (vgl. BVerfGE 93, 352 [358]) in einer konkreten Verhandlungssituation ist von besonderer Bedeutung dafür, dessen Verhandlungsbereitschaft zu fördern und zu einem angemessenen Interessenausgleich zu gelangen (vgl. BAG, Urteil vom 18. November 2014 -- 1 AZR 257/13 --, juris, Rn. 30).
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Die Fachgerichte haben dem Rechnung zu tragen. Sie müssen unter Nutzung der prozessrechtlichen Möglichkeiten eine Offenlegung der Mitgliederzahlen soweit möglich vermeiden. Mit dem in das Arbeitsgerichtsgesetz eingefügten § 58 Abs. 3 ArbGG eröffnet der Gesetzgeber jedenfalls die Möglichkeit, die namentliche Nennung der Gewerkschaftsmitglieder im Beschlussverfahren zu verhindern (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 16). Notariell kann auch bescheinigt werden, wer die Mehrheit im Betrieb organisiert, um so die Offenlegung der konkreten Kampfstärke einer Gewerkschaft zu verhindern. Hierauf ist im Beschlussverfahren hinzuwirken. Wenn dies nicht in allen Fällen gelingt, ist das mit Blick auf das hier vom Gesetzgeber verfolgte Ziel insgesamt zumutbar.
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(4) Die mit der Verdrängungswirkung des kollidierenden Mehrheitstarifvertrags nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verbundenen Beeinträchtigungen sind trotz des hohen Gewichts der mit dem Tarifeinheitsgesetz verfolgten Ziele und auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlich geforderten Auslegungs- und Handhabungsmaßgaben insoweit unverhältnismäßig, als die angegriffenen Regelungen keine Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft vorsehen.
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(a) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in kleinen Berufsgruppengewerkschaften organisiert sind, tragen aufgrund des Gesetzes -- wenn auch nicht als einzige -- das Risiko, dass der von ihrer Gewerkschaft verhandelte Tarifvertrag nicht zur Anwendung kommt. Diese Belastung wird im Grundsatz dadurch gemildert, dass die Gewerkschaft den Mehrheitstarifvertrag nachzeichnen kann, aus dem sich dann auch für die in der Minderheitsgewerkschaft organisierten Beschäftigten tarifliche Arbeitsbedingungen ergeben. Es fehlen jedoch strukturelle Vorkehrungen, die sichern, dass die Interessen dieser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinreichend Berücksichtigung finden. Ohne solche Sicherungen ist nicht auszuschließen, dass der im Betrieb anwendbare Mehrheitstarifvertrag auch im Fall der Nachzeichnung die Arbeitsbedingungen und Interessen der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, mangels wirksamer Vertretung dieser Gruppe in der Mehrheitsgewerkschaft in unzumutbarer Weise übergeht.
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(aa) Der grundrechtlich in Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie liegt die Annahme zugrunde, dass gerechte Arbeitsbedingungen und Löhne grundsätzlich nicht vom Staat vorgegeben werden können, sondern der Aushandlung durch die Tarifvertragsparteien obliegen. Dieses System geht von einer Richtigkeitsvermutung frei ausgehandelter Tarifverträge aus, sofern im Grundsatz die Parität der Tarifvertragsparteien gewährleistet ist (oben C III 3 a cc und dd Rn. 145 f. und 148).
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Die vorliegend angegriffenen Regelungen dienen dem Funktionieren dieses Systems, denn sie zielen auf die Sicherung der strukturellen Voraussetzungen von Tarifverhandlungen im Verhältnis der Gewerkschaften untereinander. Sie sollen verhindern, dass durch die isolierte Ausnutzung einer Schlüsselposition eine faire Aushandlung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr gewährleistet ist. Die Richtigkeitsvermutung frei ausgehandelter oder erkämpfter Tarifverträge setzt auch voraus, dass auf Seiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer grundsätzlich alle Berufsgruppen die Chance haben, ihre Interessen wirksam zu vertreten. Die Verdrängung eines Tarifvertrags nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG führt jedoch dazu, dass in einem Betrieb für eine Berufsgruppe nur der von der Mehrheitsgewerkschaft ausgehandelte Tarifvertrag Geltung behält. Daher bedarf es Vorkehrungen, die strukturell darauf hinwirken, dass die Interessen der von der Verdrängung betroffenen Berufsgruppe im Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft wirksam berücksichtigt werden. Nur dann kann hier die diesem Tarifvertrag innewohnende Richtigkeitsvermutung im Rahmen des Nachzeichnungsrechts zur Geltung kommen.
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(bb) An solchen Regelungen fehlt es. Der Gesetzgeber hat keine Vorkehrungen getroffen, die kleinere Berufsgruppen in einem Betrieb davor schützen, der Anwendung eines Tarifvertrags ausgesetzt zu werden, der unter Bedingungen ausgehandelt wurde, in denen ihre Interessen strukturell nicht zur Geltung kommen konnten. So kann sich nach § 4a Abs. 2 TVG etwa auch der Tarifvertrag einer Branchengewerkschaft durchsetzen, in der die Berufsgruppe, deren Tarifvertrag im Betrieb verdrängt wird, nur marginal oder überhaupt nicht vertreten ist. Dass auch für diese Arbeitnehmergruppe ein im Sinne der tarifvertraglichen Richtigkeitsvermutung angemessenes Gesamtergebnis ausgehandelt wäre, kann dann nicht mehr ohne Weiteres angenommen werden. Das Ziel des Gesetzgebers, einen fairen Ausgleich zu fördern, wird nicht erreicht, wenn einzelne Berufsgruppen übergangen würden. Eine Verdrängung des Tarifvertrags, den diese abgeschlossen haben, wäre dann mangels hinreichender Ausgleichsmöglichkeit bei der Nachzeichnung mit dem Schutz der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar.
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(b) Der Gesetzgeber ist gehalten, hier Abhilfe zu schaffen. Er hat hierbei einen weiten Gestaltungsspielraum für unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten.
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4. Aus den in der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigenden völkerrechtlichen Normen (vgl. BVerfGE 74, 358 [370]; 82, 106 [120]; 111, 307 [316 f.]; 120, 180 [200 f.]; 128, 326 [366 ff.]; 137, 273 [320 ff. Rn. 127 ff.]; 138, 296 [355 ff. Rn. 148 ff.]; stRspr) ergeben sich entgegen des Vorbringens der Verfassungsbeschwerden keine weitergehenden Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen. Das gilt mit Blick auf die Garantie der Koalitionsfreiheit in den für Deutschland verbindlichen Art. 22 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und Art. 8 Abs. 1a des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR; wie Art. 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte -- AEMR) und für die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), wie auch für die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle und die Europäische Sozialcharta. Der daraus erwachsende Schutz reicht über das nach Art. 9 Abs. 3 GG Garantierte nicht hinaus.
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a) Insbesondere garantiert Art. 11 Abs. 1 Halbsatz 2 EMRK wie Art. 9 Abs. 3 GG das Recht, zum Schutz der Interessen Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten. Das umfasst die individuelle und die kollektive Koalitionsfreiheit auch einer Gewerkschaft und verbietet die Vorgabe gewerkschaftlicher Monopole (vgl. EGMR [GK], Sörensen and Rasmussen v. Denmark, Entscheidung vom 11. Januar 2006, Nr. 52562/99 und 52620/99, §§ 64 ff.). Die Konventionsstaaten haben die Pflicht, Gewerkschaften das Eintreten für die Interessen ihrer Mitglieder zu ermöglichen (vgl. EGMR, Matelly v. France, Entscheidung vom 2. Oktober 2014, Nr. 10609/10, § 55); grundlegendes Element der Koalitionsfreiheit ist auch nach der EMRK das Recht, Tarifverhandlungen zu führen (vgl. EGMR [GK], Demir and Baykara v. Turkey, Entscheidung vom 12. November 2008, Nr. 34503/97, §§ 147 ff., 154) und das Recht, dass ein geschlossener Kollektivvertrag auch zur Anwendung kommt (a.a.O., § 157).
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Werden diese Rechte wie hier beeinträchtigt, muss das gesetzlich vorgesehen sein, einen in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK genannten Zweck verfolgen und als in einer demokratischen Ordnung notwendig erscheinen. Die Koalitionsfreiheit der EMRK gilt als soziales Recht, weshalb dem Gesetzgeber ein Beurteilungsspielraum zuerkannt wird (vgl. EGMR, Stankov and the United Macedonian Organisation Ilinden v. Bulgaria, Entscheidung vom 2. Oktober 2001, Nr. 29221/95 und 29225/95, § 87; [GK], Demir and Baykara v. Turkey, Entscheidung vom 12. November 2008, Nr. 34503/97, § 119). Es besteht kein Anspruch einer Gewerkschaft auf spezielle Maßnahmen (vgl. EGMR [GK], Sindicatul "Pγstorul cel Bun" v. Romania, Entscheidung vom 9. Juli 2013, Nr. 2330/09, § 134). Vielmehr hat der EGMR eine schwedische Regelung akzeptiert, wonach der Arbeitgeber Tarifverhandlungen nur mit der repräsentativsten Gewerkschaft führen muss (vgl. EGMR, Swedish Engine Drivers Union v. Sweden, Entscheidung vom 6. Februar 1976, Nr. 5614/72, §§ 46 f.). Desgleichen hat er eine kroatische Regelung unbeanstandet gelassen, die dem Arbeitgeber zur Herstellung von Parität die Möglichkeit gab, Verhandlungen nur mit einem Gremium zu führen, in dem alle Gewerkschaften vertreten sind (vgl. EGMR, Hrvatski lijeènièki sindikat v. Croatia, Entscheidung vom 27. November 2014, Nr. 36701/09, §§ 32, 57, 59). Diese Rechtsprechung geht nicht über die grundrechtlichen Anforderungen hinaus.
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b) Das gilt auch für die in Deutschland geltenden einschlägigen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Das Übereinkommen Nr. 87 vom 9. Juli 1948 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts (Gesetz vom 20. Dezember 1956, BGBl. II S. 2072; vgl. auch EGMR, Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen [ASLEF] v. the United Kingdom, Entscheidung vom 27. Februar 2007, Nr. 11002/05, § 38; [GK], Demir and Baykara v. Turkey, Entscheidung vom 12. November 2008, Nr. 34503/97, § 70; Enerji Yapi-Yol Sen v. Turkey, Entscheidung vom 21. April 2009, Nr. 68959/01, § 24) und das Übereinkommen Nr. 98 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen vom 1. Juli 1949 (ratifiziert mit Gesetz vom 23. Dezember 1955, BGBl. II S. 1122; zur Beachtung durch die Arbeitsgerichte BVerfGE 96, 152 [170]; ferner BVerfGE 98, 169 [206]; 109, 64 [89]; siehe auch BAG, Urteil vom 20. November 2012 -- 1 AZR 179/11 --, juris, Rn. 133; Urteil vom 20. November 2012 -- 1 AZR 611/11 --, juris, Rn. 76) gehen hier über die grundrechtliche Gewährleistung nicht hinaus. Nach der Spruchpraxis der Überwachungsgremien der IAO dürfen die Staaten bestimmte Gewerkschaften oder deren Mitglieder nicht besonders unterstützen oder fördern, um nicht mittelbar die Entscheidungsfreiheit der Beschäftigten zu beeinflussen, welcher Gewerkschaft sie beitreten (CFA, Case No 981 [Belgium], Report No 208, Juni 1981, Normlex, Rn. 102; Case No 2139 [Japan], Report No 328, Juni 2002, Normlex, Rn. 445). Unvereinbar mit dem Abkommen sind auch Regelungen, wonach in einzelnen Branchen oder Berufen nur eine Gewerkschaft existieren darf (CFA, Case No 956 [New Zealand], Report No 204, November 1980, Normlex, Rn. 177; Case No 266 [Portugal], Report No 65, 1962, Normlex, Rn. 61). Als Verstoß gegen die IAO-Normen wäre es auch anzusehen, wenn Gewerkschaftsgründungen unter Verweis auf das Bestehen einer anderen Gewerkschaft abgelehnt würden (CFA, Case No 103 [United Kingdom], Report No 15, 1955, Normlex, Rn. 212). Über Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehende Anforderungen ergeben sich daraus nicht.
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IV. |
Soweit mit der Verfassungsbeschwerde zu 1 BvR 2883/15 die Vereinbarkeit des Tarifeinheitsgesetzes mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gerügt wird, weil mit den Regelungen zum Beschlussverfahren in § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG kein für die Problembewältigung adäquates Gerichtsverfahren geschaffen wurde und eine Klärung der Mehrheitsverhältnisse im Individualverfahren nicht realistisch sei, ergeben sich daraus hier keine über die Sicherung der Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG hinausreichenden Anforderungen.
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1. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf immer der Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung, die auch Regelungen enthalten kann, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstellen und sich dadurch für die Rechtsuchenden einschränkend auswirken (vgl. BVerfGE 10, 264 [267 f.]; 60, 253 [268 f.]; 77, 275 [284]). Die angegriffenen Regelungen müssen mit den Belangen einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung vereinbar sein, dürfen die einzelnen Rechtsuchenden nicht unverhältnismäßig belasten (vgl. BVerfGE 10, 264 [267 f.]; 77, 275 [284]; 88, 118 [123 f.]) und müssen Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit ermöglichen (vgl. BVerfGE 55, 349 [369]; 60, 253 [269]; 93, 1 [13]).
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2. Hier dient das Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG der Klärung des Umgangs mit einer Tarifkollision im Betrieb. Das Arbeitsgericht wird tätig, wenn es von den Parteien eines Tarifvertrags angerufen wird. Dass die Dauer dieses Beschlussverfahrens über die Laufzeit des in Streit stehenden Tarifvertrags hinausgehen kann, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch begründet es keine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG, dass die Feststellung der Mehrheitsverhältnisse prozessrechtlichen Maßgaben unterliegt und deshalb nicht in jedem Fall die tatsächlichen Verhältnisse ermittelt werden können. Die Arbeitsgerichte haben insoweit nach den prozessualen Grundsätzen der Darlegungs- und Feststellungslast zu entscheiden.
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a) Der Gesetzgeber hat -- abgesehen von dem allgemein für arbeitsgerichtliche Verfahren nach § 9 Abs. 1 ArbGG geltenden Beschleunigungsgrundsatz -- keine spezifisch verfahrensbeschleunigenden Vorschriften normiert, wie etwa bei der Besetzung der Einigungsstelle nach § 100 ArbGG. Im regulären Instanzenzug ist damit nicht gesichert, dass bei überschaubaren Laufzeiten die Anwendbarkeit kollidierender Tarifverträge noch während der Laufzeit eines Tarifvertrags festgestellt wird. Doch verstößt es nicht gegen Verfassungsrecht, wenn die rechtskräftige Feststellung nach § 99 ArbGG erst nach Durchführung des Verfahrens erfolgt. Der Gesetzgeber zielt darauf, im Vorfeld zu einer Kooperation zu motivieren, die solche Kollisionen vermeidet. Gelingt das oder einigen sich alle Beteiligten auf ein Nebeneinander kollidierender Tarifverträge, entfällt auch das Verdrängungsrisiko. Finden sich keine einvernehmlichen Lösungen, können die betreffenden Gewerkschaften oder Arbeitgeber das Beschlussverfahren einleiten. Eventuell zu Unrecht erbrachte Leistungen müssen gegebenenfalls rückabgewickelt werden. Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeber haben zudem selbst Einfluss auf die Laufzeiten der Tarifverträge und auch auf ein Antragsrecht im Beschlussverfahren, können also den Rechtsschutz beeinflussen.
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b) Auch für den Individualprozess ergeben sich aus der Beschränkung der Antragsbefugnis im Beschlussverfahren zur Klärung einer Tarifkollision keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar können weder die Beschäftigten selbst noch einzelne Arbeitgeber, soweit diese nicht selbst Partei des Tarifvertrags sind, das Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG zur Klärung der Tarifkollision einleiten. Ist kein solches Beschlussverfahren anhängig, scheidet auch eine Aussetzung des Individualverfahrens aus, denn der Gesetzgeber hat sich bewusst gegen eine solche Regelung entschieden (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 16; BT Ausschussdrucksache 18 [11] 357 [neu], S. 46, 63). Das hindert die Betroffenen aber nicht, sich auf die Wirkung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG zu berufen, die ihnen bekannten, für die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags relevanten Umstände zu substantiieren und entsprechende Beweisanträge zu stellen. Dass das Ergebnis einer gerichtlichen Auseinandersetzung im Übrigen von den fachgerichtlich näher auszutarierenden Darlegungs- und Beweislasten abhängt, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
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D. |
Die teilweise Verfassungswidrigkeit des § 4a TVG führt nicht zu dessen Nichtigerklärung, sondern nur zur Feststellung seiner Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Bis zu einer Neuregelung darf die Vorschrift mit der Maßgabe angewendet werden, dass eine Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nur in Betracht kommt, wenn plausibel dargelegt werden kann, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Davon ist für die Dauer der Fortgeltung der Regelung in der Übergangszeit bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber insbesondere auszugehen, wenn diese Berufsgruppen in einem bestimmten Mindestmaß in der Gewerkschaft organisiert sind, deren Tarifvertrag dann Anwendung findet, oder wenn diesen Berufsgruppen in der Satzung der Gewerkschaft ein hinreichender Einfluss auf die für sie relevanten tarifpolitischen Verbandsentscheidungen eingeräumt ist. Dies näher zu beurteilen, obliegt den Fachgerichten.
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I. |
Die Feststellung einer Verfassungswidrigkeit gesetzlicher Vorschriften führt grundsätzlich zu deren Nichtigkeit. Allerdings kann sich das Bundesverfassungsgericht, wie sich aus § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG sowie § 79 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ergibt, auch darauf beschränken, eine verfassungswidrige Norm nur für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären (BVerfGE 109, 190 [235]). Die Unvereinbarkeitserklärung kann es mit der Anordnung einer Fortgeltung der verfassungswidrigen Regelung verbinden.
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II. |
Insoweit es an Vorkehrungen fehlt, die eine hinreichende Berücksichtigung der Berufsgruppen strukturell sicherstellen, deren Tarifvertrag durch die Regelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt wird, ist § 4a TVG danach für mit der Verfassung für unvereinbar zu erklären, die Unvereinbarkeitserklärung jedoch mit der Anordnung ihrer Fortgeltung bis zu einer vom Gesetzgeber zu schaffenden Nachbesserung oder Neuregelung zu verbinden. Die Gründe für die teilweise Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschriften betreffen nicht den Kern der Regelung. Angesichts der großen Bedeutung struktureller Rahmenbedingungen für die Aushandlung der Tarifverträge, zu deren Gewährleistung der Gesetzgeber die Regelung zur Tarifeinheit als erforderlich ansehen durfte, und weil die verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken durch die hier getroffene Anordnung bis zu einer Neuregelung aufgefangen werden können, ist mit Respekt gegenüber dem Gesetzgeber die -- um den von Verfassungs wegen erforderlichen Berufsgruppenschutz ergänzte -- vorübergehende Fortgeltung eher hinzunehmen als deren Nichtigerklärung.
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III. |
Der Gesetzgeber hat eine Neuregelung, die die verfassungsrechtliche Beanstandung beseitigt, bis spätestens zum 31. Dezember 2018 zu schaffen.
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E. |
Mit Blick auf die erhebliche subjektive und objektive Bedeutung der Verfassungsbeschwerdeverfahren (BVerfGE 79, 365 [366 ff.]) wird unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 RVG genannten Umstände nach billigem Ermessen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 RVG) ein Gegenstandswert von 500.000 Euro festgesetzt. Die Frage der Wettbewerbsregulierung im Gewerkschaftslager ist für die gesamte Tarifpolitik und einen Großteil der Arbeitswelt von erheblicher Bedeutung und wirft einfach- wie auch verfassungsrechtlich neue Fragen auf. Der durchaus unterschiedliche Gehalt der Beschwerdeschriften führt nicht zu Absenkungen, da der Wert für die Beschwerdeführenden und die Allgemeinheit ausschlaggebend ist (vgl. BVerfGE 79, 365 [370]).
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Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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F. |
Die Entscheidung ist im Ergebnis und zu C III 3 b und D mit 6 : 2 Stimmen und hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Übergangsregelung mit einer weiteren Gegenstimme ergangen.
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Kirchhof Eichberger Schluckebier Masing Paulus Baer Britz Ott |
Abweichende Meinung des Richters Paulus und der Richterin Baer zum Urteil des Ersten Senats vom 11. Juli 2017 -- 1 BvR 1571, 1588, 2883/15, 1043, 1477/16 -- |
Wir können dem Urteil bedauerlicherweise nur teilweise zustimmen. Es unterschätzt die tatsächlichen Belastungen und Gefahren, die das Tarifeinheitsgesetz für die grundrechtlich garantierte Freiheit der Gewerkschaften mit sich bringt, sich selbstbestimmt tarifpolitisch zu engagieren; es überschätzt zugleich die Einschätzungsspielräume, die dem Gesetzgeber hier wie sonst auch zustehen, und vermindert dadurch die Kontroll- und Überwachungsfunktion des Bundesverfassungsgerichts. In dem anzuerkennenden Bemühen, einem legitimen Ziel des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, der negative Auswirkungen gewerkschaftlichen Wettbewerbs durchaus regeln darf, verkennt das Urteil in den Wertungen zur Zumutbarkeit und in der Entscheidung über die Rechtsfolgen unseres Erachtens, dass das Gesetz deutlich über das Ziel hinausschießt.
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Der Senat ist sich hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergeben, einig. Nicht folgen können wir dem Urteil jedoch in der verfassungsrechtlichen Bewertung des Mittels, mit dem der Gesetzgeber die Tarifautonomie stärken möchte. Er hat sich im Tarifeinheitsgesetz dafür entschieden, mit der Verdrängung eines Tarifvertrags einen Anreiz für gewerkschaftliche Kooperation im Vorfeld von Tarifverhandlungen zu setzen. Dieser Eingriff in die Tarifautonomie, die im Mittelpunkt des Art. 9 Abs. 3 GG steht, und die damit einhergehende vielfache Beeinträchtigung der tarifpolitischen Freiheit der Gewerkschaften im Vorfeld ist grundrechtlich von erheblichem Gewicht. Vorkehrungen des Gesetzgebers, um dies dennoch als zumutbar zu rechtfertigen, sind trotz ihrer grundrechtlichen Bedeutung unklar, unzureichend oder fehlen ganz. Zwar verfolgt das Gesetz ein legitimes Ziel, soweit es die strukturellen Bedingungen für faire Tarifvertragsverhandlungen sichern will, doch ist die Sanktion, mit der das erreicht werden soll, zu scharf.
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Der Senat ist sich auch darin einig, dass grundrechtlich geschützte Rechtspositionen vom Gesetzgeber nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Nicht folgen können wir jedoch der weiteren Entscheidung, dass dennoch eine Fortgeltung der defizitären Regelungen gerechtfertigt werden kann. Erst recht fehlen Gründe für die Anordnung einer Übergangsregelung. Wie das durchaus komplexe Problem zu lösen ist, spezifische Schutzrechte in einem Tarifvertragssystem zu wahren, das mehrfach unter erheblichem Druck steht, hat nicht der Senat zu entscheiden, sondern ist vom Gesetzgeber zu gestalten und zu verantworten. Desgleichen können die weiteren grundrechtlichen Probleme des Tarifeinheitsgesetzes, die das Urteil aufzeigt, nicht einfach den Fachgerichten überlassen werden; im kollektiven Arbeitsrecht und Arbeitskampfrecht sind diese ohnehin schon mit dem Vorwurf allzu weitreichender richterlicher Rechtsfortbildung konfrontiert, weil der Gesetzgeber die politischen Kosten kontroverser Regelungen seit langem scheut. In dem grundrechtlich sensiblen Bereich, den Art. 9 Abs. 3 GG markiert, muss der Gesetzgeber aber selbst -- in dem eben wieder von den Grundrechten gesteckten Rahmen -- für Klarheit sorgen. Folglich wären auch die weiteren im Urteil identifizierten verfassungsrechtlichen Defizite des Tarifeinheitsgesetzes entweder durch zwingende verfassungskonforme Auslegung oder eben durch Neuregelung und damit vom Gesetzgeber zu lösen.
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A. |
Gemeinsamer Ausgangspunkt des Urteils und -- mit dem Abschied von einer Beschränkung des Art. 9 Abs. 3 GG auf einen Kernbereichsschutz (deutlich BVerfGE 93, 352 [357]; seitdem stRspr) -- primärer Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung tarifvertragsrechtlicher Regelungen ist das Freiheitsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG. Das Urteil betont zu Recht die Schutzgehalte insbesondere der Tarifautonomie und der Wahl der tarifpolitischen Mittel einschließlich des Arbeitskampfes sowie der freien Entscheidung jeder Tarifvertragspartei über das eigene Profil. Das Urteil markiert auch erneut die gesetzgeberische Aufgabe, die Wahrnehmung des Freiheitsrechts durch Tarifvertragsrecht zu ermöglichen. Dabei handelt es sich gerade nicht um eine letztlich unbegrenzte Ausgestaltungsbefugnis. Nicht nur ist der Gesetzgeber zu Regelungen wie auch sonst nur in besonders gelagerten Fällen verpflichtet (namentlich BVerfGE 94, 268 [284]). Zudem darf sich der Gesetzgeber bei seiner Entscheidung, die Koalitionsfreiheit einzuschränken, nicht auf schlichte Befürchtungen stützen; eine Einschränkung von Art. 9 Abs. 3 GG ist -- wie auch sonst -- nur auf der Grundlage tatsächlicher Anhaltspunkte zu rechtfertigen (Rn. 157). Für eine Sorge um das System muss es "reale Gründe" geben (vgl. BVerfGE 94, 268 [295] -- abw. Meinung Kühling).
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Der Gesetzgeber darf auf Erosionen der Tarifbindung reagieren. Die Herstellung und Sicherung eines funktionsfähigen Systems der Tarifautonomie ist ein legitimer Regelungszweck, der auch Beeinträchtigungen der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Rechte rechtfertigen kann. Die Vorstellung einer "widerspruchsfreien Ordnung der Arbeitsbeziehungen" (so die Begründung zum Gesetzentwurf BTDrucks 18/4062, S. 1, 8) gehört einer durchaus problematischen Vergangenheit an; Art. 9 Abs. 3 GG ist heute als Freiheitsrecht mit einer spezifischen sozialen Dimension zu verstehen. Art. 9 Abs. 3 GG erteilt auch Hoffnungen auf ordentliche Verhältnisse, die letztlich auf die Einheitsgewerkschaft zielen, eine deutliche Absage. Dasselbe gilt für die vom Gesetzgeber hingenommene Einschränkung der Arbeitskampfrechte durch die Hintertür (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 8). Der Gesetzgeber darf sich auch nicht dazu hergeben, Arbeitgeber vor einer Vielzahl der Forderungen konkurrierender Gewerkschaften zu schützen (so aber die Begründung BTDrucks 18/4062, S. 8; dagegen im Urteil Rn. 150). In § 4a Abs. 1 TVG und der Begründung des Gesetzentwurfs angeführte Regelungszwecke können Beeinträchtigungen des Art. 9 Abs. 3 GG also nur bei sachgerechtem, dem Freiheitsrecht und den damit einhergehenden Mühen eines Koalitionspluralismus Rechnung tragenden Verständnis rechtfertigen. Das Urteil stützt sich auf die Behauptung der Bundesregierung im Verfahren, das angegriffene Gesetz fördere die Kooperation zwischen Gewerkschaften durch einen Anreiz, der zwar als Sanktion scharf gefasst, aber doch gut vermeidbar sei. Wir halten diese Einschätzung jedenfalls dann für unrealistisch, wenn die Kollisionsregelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG von Gesetzes wegen ohne ein dazwischen geschaltetes und von den Tarifvertragsparteien gestaltbares Beschlussverfahren (vgl. § 99 ArbGG) automatisch (also ipso jure) Tarifverträge verdrängen könnte und dies auch dann, wenn keine Tarifvertragspartei eines kollidierenden Tarifvertrags dies will.
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Am gemeinsamen Ausgangspunkt des Urteils in Art. 9 Abs. 3 GG als Freiheitsrecht, wonach gesetzgeberische Vorgaben zur Tarifpolitik, die legitimen Zwecken dienen, den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen müssen, ändert das nichts: Im Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG darf der Gesetzgeber nur solche Regelungen in Kraft setzen, die die Freiheit zu tarifpolitischem Handeln in verhältnismäßiger Weise beschränken. Gelingt dies nicht, muss er neu und anders regeln.
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B. |
Das Urteil beruht jedoch auf Einschätzungen der sozialen Wirklichkeit, an denen durchaus Zweifel bestehen.
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Schon die zur Begründung des Gesetzes vorgebrachte These, derzeit würden in Fällen der Tarifkollision ausgehandelte Löhne als ungerecht empfunden, was den Betriebsfrieden störe (BTDrucks 18/4062, S. 8, 11 f.), ist weder substantiiert noch mit Blick auf die Gegenargumente in den Stellungnahmen und die nachgewiesen langfristig eher moderaten Lohnsteigerungen auch bei starken Berufsgruppen (vgl. Schmidt, in: Lehmann, Deutsche und europäische Tariflandschaft im Wandel, 2013, S. 68 [83 f.]: "Rückstau in der Lohnentwicklung"; Lesch, ZPol 2016, S. 155 [159]; Schroeder/Greef, in: Industrielle Beziehungen 4/2008, S. 329 [344 f.]; Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung [RWI], Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen, 2011, S. 27, 43: "weder dramatische Veränderungen zu beobachten noch zu erwarten") belegt worden. Desgleichen können Tarifverträge aufgrund ihrer beschränkten Bindungskraft von vornherein nur relativ wirken, nicht aber absolut befrieden oder übergreifend ordnen.
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Auch ist nicht zu übersehen, dass die Gewerkschaften, die sich jetzt gegen eine gesetzlich mittelbar erzwungene Kooperation wehren, eine solche nicht etwa nie gewollt haben, sondern aus ganz bestimmten Gründen beendeten: Die Interessen der jeweiligen Berufsgruppe gingen in Branchengewerkschaften unter, Kompromisse gingen über längere Zeiträume auf Kosten einer numerischen Minderheit oder die berufliche Identität wurde nicht ausreichend gewahrt (vgl. u.a. Schroeder/Kallas/Greef, Kleine Berufsgewerkschaften und Berufsverbände im Wandel, 2008; Monopolkommission, Hauptgutachten 2010, BTDrucks 17/2600, u.a. S. 323 Rn. 892; RWI, Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen, 2011, S. 13 f., 24 ff.). Das Urteil misst dem in der Bewertung der angegriffenen Regelungen und auch mit der Übergangsregelung für die Zeit bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber zu wenig Bedeutung bei.
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Auch andere zur Verteidigung des Gesetzes vorgebrachte Behauptungen stehen auf tönernen Füßen. Tarifpluralität ist schon im Ausgangspunkt regelmäßig keine Folge destruktiver Gewerkschaftskonkurrenz, sondern Ausfluss grundrechtlicher Freiheit und insbesondere von Arbeitgebern sehr häufig gewollt (vgl. Jacobs, NZA 2008, S. 325 [328]). Kollisionen sind selten. Die öffentlich bekannteren Konflikte zwischen mehreren Gewerkschaften und Arbeitgebern sind im Zusammenhang mit ganz spezifischen Entwicklungen zu sehen; dazu gehören die Folgen der Privatisierung von Staatsunternehmen, tradierte berufspolitische, in Branchengewerkschaften nicht hinreichend aufgefangene Identitäten oder auch durch Kompromisse in den Krisenjahren gewachsene Diskrepanzen der Arbeitsbedingungen bestimmter Berufe im Vergleich mit dem Ausland (vgl. Schmidt, in: Lehmann, Deutsche und Europäische Tariflandschaft im Wandel, 2013, S. 68 [83 f.]). Zudem gibt es für die Lösung von Kollisionsproblemen seit langem klärende Verfahren der Verbände (wie nach der Satzung des DGB) oder aber Lösungen in Tarifverträgen selbst (wie nach der Schlichtung im Grundsatzfragentarifvertrag bei der Bahn). Auch hier greift die Entscheidung des Grundgesetzes, Tarifpolitik mit Art. 9 Abs. 3 GG in erster Linie den Tarifvertragsparteien selbst zu überlassen. Das ist in der Bewertung der Rechtfertigung gesetzgeberischer Einschränkungen einer grundrechtlich geschützten Freiheit stärker zu berücksichtigen.
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Soweit hinter dem Urteil die Annahme steht, die Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werde durch den nur als mittelbar bewerteten Zwang zur Kooperation gestärkt, weil nun die starken Berufsgruppen in Schlüsselpositionen zur Kooperation mit anderen Beschäftigten gezwungen würden, kann dies nur oberflächlich beruhigen. Es ist nicht zu übersehen, dass die angegriffenen Regelungen auf einen einseitigen politischen Kompromiss zwischen den Dachorganisationen Deutscher Gewerkschaftsbund und Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zurückgehen (im Urteil Rn. 9); daran waren all die Gewerkschaften, die nun Verfassungsbeschwerde erhoben haben, gerade nicht beteiligt. Dass nun sowohl Branchen- als auch Berufsgruppengewerkschaften im Verfahren weithin übereinstimmende Bedenken gegen das Tarifeinheitsgesetz geäußert haben, belegt eindrucksvoll, dass von Seiten der Betroffenen kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf gesehen wird.
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Nicht zu übersehen ist nach dem Vortrag in den Verfassungsbeschwerden und der mündlichen Verhandlung auch, dass jedenfalls bei einer Geltung der Kollisionsregel ohne klärenden arbeitsgerichtlichen Beschluss im Vorfeld der Tarifverhandlungen und Vertragsschlüsse nicht etwa friedliche Kooperation, sondern vielmehr "Häuserkämpfe" um die betriebliche Mehrheit zu befürchten sind (zu wahrscheinlichen Folgen Deinert, NZA 2009, S. 1176 [1181]; Greiner, RdA 2015, S. 36 [43]: "Brandbeschleuniger"; Preis, FA 2014, S. 354 [356] und jM 2015, S. 369 [373]; Bepler, RdA 2015, S. 194 [195]; Franzen, in: ErfK, 17. Aufl. 2017, § 4a TVG Rn. 15). Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass der Gesetzgeber nicht nur scharf sanktioniert, wenn Kooperation im Vorfeld nicht gelingt, sondern mit dem betrieblichen Mehrheitsprinzip und der Nachzeichnungsoption auch strukturell ganz einseitig vorgeht: Verdrängt wird, wer eine typischerweise kleine Berufsgruppe organisiert; eine Nachzeichnung läuft auf eine "Unterwerfung" unter fremde Verträge ohne jedes eigene tarifpolitische Profil hinaus und hebt so die tarifpolitische Freiheit auf, die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ist. Hier sind die Erfahrungen des Scheiterns einstiger tarifpolitischer Kooperation und die Gefährdung noch funktionierender Kooperation in jüngerer Zeit unter Verweis auf das Tarifeinheitsgesetz zu berücksichtigen. Die im Verfahren geschilderten Fälle, in denen Arbeitgeber schon jetzt verweigert haben, überhaupt Tarifverhandlungen aufzunehmen, sowie die offensichtliche Stillhaltepolitik bis zu einer Entscheidung des Senats (vgl. Preis, jM 2015, S. 369 [372]), haben unseres Erachtens im Urteil zu wenig Beachtung gefunden. Treten die im Verfahren aufgezeigten Folgen allerdings in Zukunft ein, die aktuell die Bewertung der Zumutbarkeit im Urteil nicht entscheidend prägen, wäre das Gesetz verfassungsrechtlich neu zu bewerten (vgl. BVerfGE 92, 365 [396]).
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C. |
Der eingeschränkte Blick auf die tarifpolitische Realität wirkt sich auf die verfassungsrechtliche Bewertung aus. Wir stimmen dem Urteil zwar in der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG und den dabei im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben insoweit zu, als die angegriffenen Regelungen als unvereinbar mit den grundrechtlichen Anforderungen zu bewerten sind, weil mit ihnen unzumutbare Beeinträchtigungen der in Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Rechte der betroffenen Gewerkschaften und ihrer Mitglieder einhergehen. Unseres Erachtens betrifft dies aber nicht nur den fehlenden Berufsgruppenschutz in einem verdrängenden Tarifvertrag, der nachgezeichnet werden kann (Rn. 217). Die Zweifel daran, dass das Tarifeinheitsgesetz verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, gehen deutlich darüber hinaus. Denn die auch von der Entscheidung vorgesehenen Möglichkeiten, die mit den Regelungen einhergehende Belastung zu relativieren (Rn. 174) und zu beschränken (Rn. 189), gleichen die grundrechtlichen Beeinträchtigungen nicht wirksam aus, so sehr das Bemühen des Senats anzuerkennen ist, für eine gewisse Entlastung zu sorgen.
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Es ist schon fraglich, ob die angegriffenen Regelungen überhaupt geeignet sind, das Ziel der Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems zu erreichen. Die im Verfahren mehrfach anschaulich dargelegte Wahrscheinlichkeit, dass der Gesetzgeber mit dem Kriterium der numerischen Mehrheit von Mitgliedern einer Gewerkschaft im Betrieb ganz im Gegenteil heftigere Konkurrenzen und Statuskämpfe in einzelnen Betrieben provoziert, erscheint uns hoch. Die Bindung an eine Mehrheit im Betrieb ist auch eine hohe Hürde für neue Branchengewerkschaften, überhaupt die Tariffähigkeit zu erlangen. Wenn "eine Seite alle Trümpfe in der Hand hat", fehlt schließlich jeder Anreiz zur Kooperation (vgl. Greiner, RdA 2015, S. 36 f.).
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Auch hinsichtlich der Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen zur Erreichung des Ziels strukturell fairer Tarifvertragsverhandlungen bestehen erhebliche Zweifel. So hat die Änderung in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (im Urteil Rn. 7) nicht dazu geführt, dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie seitdem beeinträchtigt wurde. Tatsächlich wurde schon vor 2010 keineswegs durchgängig eine Tarifeinheit im Betrieb durchgesetzt. Die vorhandenen Daten zu den Folgen der Rechtsprechungsänderung greift das Urteil bedauerlicherweise nicht auf. Insoweit haben auch Befürworter des Tarifeinheitsgesetzes konstatiert, das "ganz große Chaos" sei ausgeblieben (Krönke, DÖV 2015, S. 788 [791]). Entgegen der auch in der Begründung des Gesetzentwurfs aufgegriffenen Behauptung spezifischer Lohnungerechtigkeiten und entsprechender Neideffekte, die sogar den Betriebsfrieden gefährdeten (BTDrucks 18/4062, S. 8), gibt es tatsächlich zwar punktuell hohe Gehaltsforderungen, aber durchaus dann abnehmende und oft eher moderate Abschlüsse und keine extrem ansteigende Gehaltsentwicklung einzelner Berufsgruppen (vgl. Lesch, ZPol 2016, S. 155 ff.; auch RWI, Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität, 2011, S. 26 f.; Schroeder, ifo Schnelldienst 10/2012, S. 3; Keller, Kooperation oder Konflikt?, 2015, S. 23; Lesch/Hellmich, IW policy paper 1/2015, S. 7 ff.). Schließlich hätte mit einer Verdrängung nur nach einem Beschlussverfahren (dann aber mit Rückwirkung, also ex tunc) ein milderes, als Anreiz zur Kooperation der Tarifvertragsparteien aber mindestens ebenso wirksames Mittel zur Verfügung gestanden.
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Tatsächlich ist seit der Änderung der Rechtsprechung 2010 kein nennenswerter Anstieg der Berufsgruppengewerkschaftsgründungen zu erkennen (vgl. RWI, Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität, 2011, S. 24 ff.; Bispinck, Zur Rolle der Berufs- und Spartengewerkschaften in der Tarifpolitik, Vortrag 2015). Die vom Gesetzgeber ohnehin nicht direkt adressierte Streikhäufigkeit und -intensität hat insgesamt nicht zugenommen (differenziert Lesch/Hellmich, IW policy paper 1/2015, S. 10 ff.). Fehlt es danach nicht schon an der Erforderlichkeit der gesetzgeberischen Beschränkung grundrechtlich geschützter Freiheit, spricht dies jedenfalls dafür, dass auf die Kollisionsregelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG bis zu einer Neuregelung der beanstandeten Teile durchaus verzichtet werden kann. Daher ist eine Fortgeltungsanordnung nach den bisher geltenden Maßstäben nicht zu rechtfertigen.
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Die angegriffenen Regelungen sind auch nicht nur in dem einen Aspekt des Berufsgruppenschutzes im anwendbaren Tarifvertrag, sondern insbesondere in der durch das Urteil noch ermöglichten Auslegung einer Verdrängung eines Tarifvertrags ohne arbeitsgerichtlichen Beschluss grundrechtlich unzumutbar. Der Eingriff in die mit der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie, der in der Verdrängung eines geschlossenen Tarifvertrags und dem Verlust entsprechender Leistungen liegt, und die massiven einschränkenden Wirkungen einer solchen Verdrängung im gesamten Spektrum grundrechtlich geschützten tarifpolitischen Handelns gehen auch mit Blick auf die legitimen Ziele des Gesetzgebers zu weit, jedenfalls wenn er von Gesetzes wegen und nicht aufgrund des Antrags einer Tarifvertragspartei eintritt. Zu Recht geht das Urteil davon aus, dass auch die Möglichkeit besteht, § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nicht so auszulegen, dass die Verdrängung eines kollidierenden Tarifvertrags ipso jure eintritt, sondern diesen Verlust an den ex tunc wirkenden Beschluss des Arbeitsgerichts im Verfahren nach § 99 ArbGG zu binden (Rn. 175 f.; vgl. BVerfGE 140, 211 [213 f. Rn. 4]; auch Preis, in: FA 2014, S. 354 [357]). Das Urteil überlässt die Auslegung des Gesetzes insoweit den Arbeitsgerichten. Unseres Erachtens ist eine Auslegung, wonach dem Beschlussverfahren klärende Gestaltungswirkung zukommt, verfassungsrechtlich zwingend. Die Bindung der Verdrängung eines Tarifvertrags an ein Beschlussverfahren schafft Rechtssicherheit und vermeidet unkalkulierbare und das Tarifvertragssystem zusätzlich belastende Unsicherheiten. Diese treffen sonst einzelne Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Bei einer Geltung ipso jure sind auch divergierende Entscheidungen in individualrechtlichen Streitigkeiten möglich. Ohne klares Beschlussverfahren besteht zudem ein erhöhter Anreiz für "Häuserkämpfe" zur Werbung von Mehrheiten in einzelnen Betrieben im Vorfeld von Tarifabschlüssen. Demgegenüber entspricht die Bindung einer Auflösung von Tarifkollisionen an ein Beschlussverfahren dem mehrfach erklärten Ziel des Gesetzgebers, die in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Dispositionsfreiheit der Tarifvertragsparteien möglichst zu erhalten (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 1, 12). Im Verfahren hat auch die Bundesregierung betont, das Tarifeinheitsgesetz sei nur Anreizsteuerung, wolle im Vorfeld wirken und die tarifpolitische Freiheit der Gewerkschaften weitgehend schützen. Dementsprechend wird eine Tarifpluralität in § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG ausdrücklich akzeptiert.
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Weiter geht das Urteil völlig zu Recht davon aus, dass es mit Art. 9 Abs. 3 GG unvereinbar wäre, wenn die Kollisionsregelung auch zum Verlust langfristig angelegter, die Lebensplanung der Beschäftigten berührender Ansprüche aus einem Tarifvertrag führen würde (Rn. 187 f.). Der Gesetzgeber hat das nicht berücksichtigt. Unseres Erachtens ist die Regelung daher auch insofern nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Den Gerichten zu überantworten, ob und wie dies zu retten ist, und ihnen nahezulegen, sonst das Bundesverfassungsgericht letztlich nochmals mit der Frage zu befassen, ob der Gesetzgeber hier nicht handeln muss, ist zwar dem Unwissen darüber geschuldet, wie das Tarifeinheitsgesetz in der Praxis wirken wird. Ist aber erkennbar, dass hier grundrechtlich klar geschützte Belange einfach ignoriert worden sind, liegt es in der Verantwortung des Gesetzgebers, sich für eine von vielen denkbaren Lösungen noch dazu in sehr unterschiedlichen Regelungskontexten -- von der betrieblichen Alterssicherung über die Insolvenzsicherung bis zur Arbeitsplatzgarantie, den Altersteilzeiten oder Arbeitszeitkonten -- zu entscheiden. Ob und inwieweit er dabei wegen der Unübersichtlichkeit und Vielfalt der Materien zu einer Generalklausel Zuflucht nehmen müsste, muss in einem alle Argumente und Betroffene berücksichtigenden Gesetzgebungsverfahren entschieden werden.
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Schließlich können wir dem Urteil auch nicht folgen, soweit es auf der von der Bundesregierung vertretenen Annahme beruht, die Nachzeichnung eines Tarifvertrags einer anderen Gewerkschaft halte den Verlust des eigenen Tarifvertrags in Grenzen (Rn. 194). Dahinter steht eine gefährliche Tendenz zu einer vereinheitlichenden Vorstellung von Arbeitnehmerinteressen; die Ausübung des grundlegenden Freiheitsrechts des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG wird hier zugunsten von Vorstellungen objektiver Richtigkeit zurückgestellt. Das erscheint angesichts der heutigen Strukturen von Erwerbsarbeit nicht nur völlig unrealistisch und gibt die Tarifbindung preis. In der Sache privilegiert die Vorstellung, es komme nur auf die Bindung an, nicht aber auf den konkret ausgehandelten Vertrag, die großen Branchengewerkschaften. Dies widerspricht dem Grundgedanken des Art. 9 Abs. 3 GG, der auf das selbstbestimmte tarifpolitische Engagement von Angehörigen jedweden Berufes setzt. Das Freiheitsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG schützt auch die Unterschiedlichkeit der Interessen im Koalitionspluralismus und rechtfertigt keinen "Akt der Unterwerfung" im Zuge "kollektiven Bettelns" (vgl. Gaul, ArbRB 2015, S. 15 [17]; Bepler, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Aufl. 2016, § 4a TVG Rn. 97). Das Urteil unterschätzt insoweit die gesetzgeberische Entscheidung, die Anwendung eines Tarifvertrags an schlicht quantitativen Mehrheitsverhältnissen im Betrieb zu orientieren. Das fördert nicht nur den für das Tarifvertragssystem und auch für faire Wettbewerbsbedingungen durchaus problematischen Betriebsbezug. Ein quantitativer Repräsentationsmodus widerspricht vor allem dem Charakter der tarifpolitischen Organisations- und Handlungsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG. Vielmehr ist Pluralität notwendige Folge und geradezu Kennzeichen dieses freiheitlichen Systems (vgl. Dieterich, in: GS für Ulrich Zachert, 2010, S. 532 [541]).
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Schließlich eröffnet das Urteil die Möglichkeit, dass im Beschlussverfahren nach § 99 ArbGG die Mehrheitsverhältnisse der Gewerkschaften in einem Betrieb offengelegt werden. Das Urteil betont die Pflicht der Fachgerichte, dies nach Möglichkeit zu vermeiden, akzeptiert aber auch, wenn das nicht möglich sein sollte (Rn. 199). Solange der Gesetzgeber hier keine Vorkehrungen trifft, die mit der Offenlegung einhergehende Verschiebung der Kampfparität (vgl. Bayreuther, NZA 2013, S. 1395 f.; Ebertz, RiA 2015, S. 152 [159]; dazu auch Linsenmaier, in: ErfK, 17. Aufl. 2017, Art. 9 GG Rn. 41) zu verhindern, ist diese jedoch nicht zumutbar. Die Tarifpluralität, die der Gesetzgeber in § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG grundsätzlich akzeptiert, ist dann hinzunehmen (vgl. Treber, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 7. Aufl. 2016, § 99 ArbGG Rn. 4, 6).
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D. |
Der Senat ist sich zwar einig, dass der Gesetzgeber destruktiven Wettbewerb regeln kann. Er ist sich auch einig, dass eine Regelung, die keinerlei Rücksicht auf die spezifischen Interessen und Bedürfnisse derjenigen nimmt, deren Tarifverträge in einem Betrieb verdrängt werden, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Nicht folgen können wir dem Urteil aber in der Entscheidung über die Folgen dieser verfassungsrechtlichen Wertung.
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Ist ein nach unserer Überzeugung wesentlicher Aspekt der Ausgestaltung angegriffener Normen verfassungswidrig, hat der Gesetzgeber die Nichtigkeit als Regelfolge vorgesehen; § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG. Das ist gerade in dem von uns geteilten Bemühen, die Spielräume des Gesetzgebers zu achten, zwar hart, aber eindeutig; es gilt unseres Erachtens auch hier. "Fürsorglichkeit gegenüber dem Gesetzgeber sollte sich das Verfassungsgericht versagen" (vgl. BVerfGE 93, 121 [152] -- abw. Meinung Böckenförde). Die hier angeordnete Fortgeltung verfassungswidriger Normen ist weder bis zum Ausgleich einer Ungleichheit zwingend (vgl. BVerfGE 133, 59 [99]; stRspr) noch zum Schutz überragender Güter des Gemeinwohls nach Abwägung geboten (vgl. BVerfGE 136, 9 [59]; 141, 220 [351 Rn. 355] m.w.N.), noch ist der dann eintretende Zustand von der verfassungsmäßigen Ordnung weiter entfernt (vgl. BVerfGE 132, 372 [394] m.w.N.; 137, 108 [171 f.]; stRspr) als die Situation seit 2010. Die Reparatur eines Gesetzes, das sich als teilweise verfassungswidrig erweist, weil Grundrechte unzumutbar beeinträchtigt werden, gehört nicht zu den Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts. Wie eine Regelung ausgestaltet werden muss, um die damit einhergehenden Einschränkungen der Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG zumutbar werden zu lassen, hat der Gesetzgeber zu entscheiden. Genau dafür steht ihm ein Einschätzungsspielraum zu. Die dem Bundesverfassungsgericht aufgegebene Kontrolle der Einhaltung grundrechtlicher Anforderungen an Gesetze, die die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit auf diese Weise einschränken, hätte daher zu der auch für die Praxis klaren Entscheidung führen müssen, das Tarifeinheitsgesetz jedenfalls insoweit für verfassungswidrig und nichtig zu erklären, als Einigkeit besteht, dass die Verdrängung unzumutbar ist. Bis zu einer Nachbesserung durch den Gesetzgeber hätte § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG insoweit nicht zur Anwendung kommen dürfen. Gründe, um davon abzuweichen, sind nicht erkennbar.
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Das Urteil anerkennt zu Recht die Möglichkeit, das Tarifeinheitsgesetz grundrechtsschonend restriktiv auszulegen. Um den Betroffenen die grundrechtlich gebotenen weitgehenden Handlungsspielräume zu erhalten, erscheint insbesondere die Bindung der Verdrängung eines Tarifvertrags an ein von den Tarifvertragsparteien und nicht nur einzelnen ihrer Mitglieder herbeigeführtes arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren verfassungsrechtlich zwingend. Wo der Gesetzgeber die Weichen für eine zumutbare Einschränkung der Koalitionsfreiheit nicht gestellt hat, ist er zudem selbst gefragt. Das Urteil hätte nicht mühevoll fachrechtliche Auslegungsoptionen aufzeigen müssen, um den Wünschen des Gesetzgebers möglichst weitgehend folgen zu können. Es hätte zugunsten des Grundrechtsschutzes gerade kleiner Gewerkschaften stattdessen die Kontrollaufgabe des Bundesverfassungsgerichts auch gegen starke politische Mehrheiten wahrnehmen und entscheiden müssen, dass der Gesetzgeber mit dem Tarifeinheitsgesetz ein zu scharfes Schwert gezückt hat.
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Die individuelle und kollektive Wahrnehmung von Freiheitsrechten ist zuweilen anstrengend, gerade auch für nicht unmittelbar in die Auseinandersetzung verstrickte Dritte. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, ihre Wahrnehmung in einen rechtlichen Rahmen zu stellen, und Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Freiheitsausübung vor privatem (Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG) wie unverhältnismäßigem gesetzgeberischem Zugriff zu schützen. Im Bemühen, selbst einen interessengerechten Ausgleich herzustellen, verlangt der Senat von den Fachgerichten die Überprüfung der sachlichen Angemessenheit der erzielten Ergebnisse für einzelne Berufsgruppen. Art. 9 Abs. 3 GG hingegen vertraut der eigenverantwortlich wahrgenommenen Freiheit.
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Paulus Baer |