BGE 67 I 65 - Armenrechtsanspruch
 
11. Auszug aus dem Urteil
vom 9. Mai 1941 i.S. K. gegen Thurgau.
 
Regeste:
Aus Art. 4 BV folgt unmittelbar nur ein Anspruch auf Befreiung von jeder Vorschusspflicht. Der Anspruch auf Befreiung von Prozesskostenauflagen überhaupt kann sich nur auf das kantonale Recht stützen.
Der unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Armenrechtsanspruch wird dadurch gegenstandslos, dass die arme Partei das Verfahren tatsächlich hat durchführen können. (Erw. 1.)
Bei der Erteilung des Armenrechts an einen Minderjährigen darf für die Bedürftigkeit auf die Verhältnisse der Eltern abgestellt werden, da sich die elterliche Beistands- und Unterhaltungspflicht wie die eheliche (im Gegensatz zur Unterstützungspflicht nach Art. 328 f. ZGB) auch auf den Rechtsschutz erstreckt. (Erw. 2 und 3.)
 
Sachverhalt:
 
A.
Der Rekurrent Ernst K., geboren 1923, wurde im Juni 1940 wegen Diebstahls zweier Flobertgewehre zu einem Tag Gefängnis, bedingt erlassen, verurteilt. In der vorangehenden Untersuchung hatte das Bezirksamt Arbon Pfarrer R. und Lehrer B. aufgefordert, über Vorleben, Charakter, Bildungsgang, Fleiss und Betragen des Genannten ausführlich Bericht zu erstatten. R. und B. gaben die verlangten Berichte 26. und 27. Mai 1940. Sie äusserten sich dabei in einer Weise über den Rekurrenten, die dessen Vater Emil K. als den Tatsachen widersprechend und für seinen Sohn beleidigend erachtete.
Vater K. erhob deshalb als "gesetzlicher Vertreter seines Sohnes im Sinne von Art. 279 ZGB" gegen R. und B. Klage mit dem Begehren, die Beklagten seien der Ehrverletzung schuldig zu erklären, angemessen zu bestrafen und solidarisch zur Bezahlung einer Genugtuungssumme von Fr. 500.- zu verpflichten. Gleichzeitig kam er beim Gemeinderat um die Ausstellung eines Armutszeugnisses nach § 103 ZPO ein für die Durchführung des Prozesses. Der Gemeinderat verweigerte dies wegen fehlender Bedürftigkeit. Vater K. beschwerte sich hierüber beim Bezirksrat Arbon. Dessen Erhebungen ergaben folgendes: Der Kläger Ernst K. lebt im gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern und drei Geschwistern Anna (geb. 1917), Sophie (geb. 1921) und Margrit (geb. 1927). An die Kosten des Haushalts tragen neben dem Vater, dessen Einkommen Fr. 200.- beträgt, monatlich bei: der Kläger seinen vollen Verdienst von Fr. 150.-, Sophie von ihrem Verdienst Fr. 80.- und die Mutter ihren Verdienst aus Heimarbeit von Fr. 50.-. Anna ist seit September 1940 wegen Krankheit erwerbsunfähig und wird es jedenfalls noch einige Zeit bleiben, während Margrit noch schulpflichtig ist und nichts verdient.
Auf Grund dieser Erhebungen wies der Bezirksrat Arbon die Beschwerde ab. Der Regierungsrat des Kantons Thurgau bestätigte diesen Entscheid durch Beschluss vom 30. Januar 1941 in der Annahme, ein Familieneinkommen von Fr. 480.- reiche in ländlichen Verhältnissen aus, um neben dem Lebensunterhalt der Familie die Kosten des vorliegenden Prozesses zu bestreiten.
 
B.
Mit rechtzeitig erhobener staatsrechtlichen Beschwerde beantragt Emil K. namens seines minderjährigen Sohnes Ernst die Aufhebung dieses Beschlusses des Regierungsrates wegen Verletzung von Art. 4 BV.
 
C.
Die Bezirksgerichtskommission Arbon hat den Ehrverletzungsprozess ohne Rücksicht auf den Verwaltungsstreit über die Ausstellung des Armutszeugnisses erstinstanzlich durchgeführt und durch Urteil vom 22. Oktober 1940 die Klage abgewiesen sowie dem Kläger Ernst K. die Gerichtskosten von Fr. 42.- und eine Prozessentschädigung von Fr. 30.- auferlegt. Vater K. hat dagegen appelliert. Der nach § 283 ZPO mit der Berufungserklärung zu erlegende Betrag (Fr. 64.-) wurde von einem Dritten einbezahlt.
Durch Verfügung vom 1. April 1941, nach Erhebung der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde, hat der Präsident der obergerichtlichen Rekurskommission gestützt auf § 97 Ziff. 2 und 3 ZPO dem Kläger Ernst K. aufgegeben, zur Sicherstellung der Parteikosten der Beklagten eine Kaution von Fr. 100.- zu leisten, ansonst die Berufung als verwirkt erklärt würde.
Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen.
 
Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
1. Aus Art. 4 BV, der Gewährleistung der Rechtsgleichheit, folgt unmittelbar nur, dass der Richter gegenüber der armen Partei, die einen nicht aussichtslosen Prozess führt, sein Tätigwerden nicht vor der vorhergehenden Erlegung oder Sicherstellung von Kosten (Gerichtskosten oder Kosten der Gegenpartei) abhängig machen darf. Ein Anspruch darauf, dass die arme Partei überhaupt nicht mit Kosten belastet werde, auch nicht durch das Endurteil, wodurch in einer Instanz über ihren Anspruch erkannt wird, lässt sich unmittelbar aus Art. 4 BV nicht herleiten, sondern kann sich nur auf kantonales Recht stützen (BGE 62 I 216, 64 I 3 f. und dort angeführte nicht veröffentlichte Urteile). Für den Kanton Thurgau bestimmt in der Tat § 104 ZPO, dass die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung nicht nur die Befreiung von jeder Vorschusspflicht umfasse, sondern auch von gerichtlichen Gebühren aller Art und von der Entschädigung an Zeugen und Sachverständige.
Die Anwendung des kantonalen Gesetzesrechts kann das Bundesgericht als Staatsgerichtshof nur auf Willkür hin nachprüfen. Dagegen steht ihm bei Anständen über die bundesrechtliche Befreiung von der Vorschusspflicht grundsätzlich die freie rechtliche Überprüfungsbefugnis zu, also auch die freie Bestimmung des Rechtsbegriffs der Armut (Bedürftigkeit), durch die der Anspruch bedingt ist. Wo innert des an sich richtig umschriebenen Begriffes die Entscheidung über die Bedürftigkeit nur noch von der Würdigung tatsächlicher Verhältnisse abhängt, könnte es auch bei solchen Anständen nur einschreiten, wenn die kantonale Behörde bei jener Würdigung sich der Willkür schuldig gemacht, sich auf offensichtlich falsche, aktenwidrige Annahmen gestützt hätte.
Im vorliegenden Falle ist der unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Armenrechtsanspruch für das erstinstanzliche Verfahren vor der bezirksgerichtlichen Kommission dadurch gegenstandslos geworden, dass der Rekurrent dieses tatsächlich hat durchführen können. Dagegen ist er trotz der Hinterlegung des durch § 283 ZPO geforderten Vorschusses noch von Bedeutung für das Berufungsverfahren infolge der Verfügung des Präsidenten der obergerichtlichen Rekurskommission vom 1. April 1941 inbezug auf die Kosten der Gegenpartei, ferner für den Fall, dass das Obergericht die Abnahme der vom Rekurrrenten beantragten Beweise anordnen sollte, weil dann die Durchführung des Beweisverfahrens zur Auflage eines Kostenvorschusses nach § 96 ZPO führen könnte.
 
Erwägung 2
2. Daraus, dass als Partei im Ehrverletzungsprozess der Sohn Ernst K. auftritt, folgt noch nicht, dass für die Frage der Bedürftigkeit ausschliesslich sein Verdienst (oder Vermögen) massgebend wäre. Die Beschwerde übersieht in diesem Punkte die den Eltern gegenüber minderjährigen Kindern obliegende Beistands- und Unterhaltspflicht (Art. 271, 272 ZGB). Es ist anerkannt, dass diese Pflicht im Verhältnis des Ehemannes zur Ehefrau (Art. 159, 160 ZGB) nicht nur den eigentlichen Lebensunterhalt umfasst, sondern auch darüber hinausgehende ideelle Bedürfnisse, insbesondere den Rechtsschutz (BGE 66 II 71, EGGER zu Art. 147 Nr. 17, 160 Nr. 11). Die Beistands- und Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber minderjährigen Kindern ist aber, wie schon der Wortlaut des Gesetzes zeigt, grundsätzlich nicht anders geordnet und jedenfalls in der zuletzt erwähnten Beziehung keine engere. Den Eltern liegt es demnach ob, dafür zu sorgen, dass Prozesse, die im Interesse des Kindes liegen, durchgeführt werden, und, wo das Kind auf Grund von Art. 19 Abs. 2 ZGB selbständig handeln kann, ihm dies zu ermöglichen. Kann das Kind sein Recht selbst verfolgen, so wird es sich freilich fragen, ob nicht die Eltern den Beistand ablehnen dürfen, wenn der Prozess sachlich ungerechtfertigt erscheint. Hier stellt sich die Frage auch dann nicht, wenn anzunehmen wäre, dass der Rekurrent die Ehrverletzungs- und Genugtuungsklage selbständig hätte erheben können. Denn die Klage ist angestrengt worden vom Vater K. und zwar nicht auf Grund einer Vollmacht des Sohnes, sondern der Vertretungsmacht, die ihm als Inhaber der elterlichen Gewalt nach Art. 279 ZGB ohne Mitwirkung oder Zustimmung des Gewaltunterworfenen zusteht (was jedenfalls für eine Klage wie die vorliegende als zulässig erscheint, auch wenn sonst die Verfolgung höchstpersönlicher Rechte bei Urteilsfähigkeit des Berechtigten ausschliesslich diesem zusteht; EGGER zu Art. 19 ZGB Nr. 12). Nachdem der Vater dadurch zu erkennen gegeben hat, dass er die Führung des Prozesses als Teil des dem minderjährigen Sohne geschuldeten Beistandes betrachtet, hat er auch für die dazu erforderlichen Mittel aufzukommen und könnte das Armenrecht nur beanspruchen, wenn nicht nur der Sohn, sondern er selber bedürftig wäre. Dies umso mehr, als der ganze Lohn des mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Sohnes ihm zukommt (Art. 295 Abs. 1 ZGB; BGE 62 III 117). Auf diesem Boden steht denn auch die kantonale Rechtsprechung zur bernischen und zürcherischen ZPO (LEUCH, Berner ZPO § 77 Nr. 2, STRÄULI, Zürcher ZPO § 81 Nr. 5). Sie entspricht einzig dem Rechtsempfinden, das gröblich verletzt würde, wenn ein Vater mit bedeutendem Vermögen als Inhaber der elterlichen Gewalt einen ähnlichen Prozess im Armenrecht führen könnte, wie es die Folge einer andern Lösung wäre.
 
Erwägung 3
3. Der Partei oder der Person, auf deren Verhältnisse es ausnahmsweise, wie hier, statt der Partei selbst für die Frage der Bedürftigkeit ankommt, dürfen immerhin nur solche Mittel angerechnet werden, über die sie wirklich verfügen kann. Es kann ihr nicht entgegengehalten werden, dass wenn sie selbst die Prozesskosten nicht bestreiten könne, doch unterstützungspflichtige Verwandte (mehrjährige Kinder oder Geschwister) in der Lage wären, ihr die nötigen Beträge zur Verfügung zu stellen. Denn die Unterstützungspflicht der Verwandten (Art. 328/9 ZGB) erstreckt sich nur auf die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlichen Leistungen, nicht auch auf die Kosten von ihm angehobener Prozesse (BGE 64 I 5; nicht veröffentlichtes Urteil vom 4. April 1935 i.S. Kuhn). Im vorliegenden Falle haben indessen die kantonalen Behörden die Bedürftigkeit des Vaters K. auch nicht aus jenem Grunde verneint. Es sind ihm vielmehr nur solche Mittel angerechnet worden, über die er wirklich verfügt, sein eigener Verdienst, der in die Haushaltungskasse fliessende Verdienst der Ehefrau und der ihm nach Art. 295 Abs. 1 ZGB zufallende Arbeitserwerb des Sohnes Ernst und der Tochter Sophie.