36. Auszug aus dem Urteil vom 7. Juli 1954 i.S. Häni und Konsorten gegen Kanal- und Entwässerungskorporation Bichelsee und Regierungsrat des Kantons Thurgau.
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Regeste
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1. Art. 85 lit. a OG: Die Umfrage bei den beteiligten Grundeigentümern darüber, ob sie dem Plane einer gemeinschaftlichen Bodenverbesserung durch eine zu bildende Korporation des kantonalen öffentlichen Rechts zustimmen, ist keine Abstimmung im Sinne dieser Vorschrift.
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Sachverhalt
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A.- Im Gebiet der thurgauischen Gemeinden Balterswil und Bichelsee ist eine Bodenverbesserung geplant. Vorgesehen sind eine Korrektion des Itaslerkanals, Entwässerungen und Güterzusammenlegungen. In der Zeit vom 19. Dezember 1953 bis zum 4. Januar 1954 wurden die Statuten der zu bildenden "Kanal- und Entwässerungskorporation Bichelsee" sowie Pläne und Kostenvoranschläge mit Kostenverteiler öffentlich zur Einsicht aufgelegt, was den beteiligten Grundeigentümern durch Rundschreiben der Ortsverwaltung Bichelsee vom 19. Dezember 1953 angezeigt wurde. Die Mitteilung erwähnte, dass Einsprachen gegen die Projekte, den Voranschlag oder den Kostenverteiler bis am 4. Januar 1954 einzureichen seien, und fügte bei: "Wir legen einen grünen Stimmzettel bei, auf welchem Sie Ihre Stellungnahme zu den aufgelegten Projekten bekanntgeben wollen. Er wird nach Ablauf der Einsprachefrist von einem Mitglied der Ortsverwaltung abgeholt." Nach Einsammlung der Stimmzettel stellte die Ortsverwaltung Bichelsee fest, dass sich eine ablehnende Mehrheit gebildet hatte. Der Ortsvorsteher begab sich daher in der zweiten Hälfte des Januar 1954 nochmals auf die Werbung und vermochte einige Neinsager zu bewegen, auf neu abgegebenem Stimmzettel die Zustimmung zu erklären. Mit Rundschreiben vom 5. Februar 1954 lud die Ortsverwaltung die beteiligten Grundeigentümer zur konstituierenden Versammlung der Korporation ein. Es wurde darin mitgeteilt, "dass gemäss Feststellungen des kantonalen Meliorationsamtes mehr als die Hälfte der beteiligten Grundeigentümer, denen zugleich mehr als die Hälfte des beteiligten Bodens gehört, gemäss Art. 97 EG/ZGB den in der Zeit vom 19. Dezember 1953 bis 4. Januar 1954 zur Auflage gebrachten Projekten zugestimmt haben".
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Mehrere Beteiligte, Viktor Häni und Konsorten, beschwerten sich beim Regierungsrat des Kantons Thurgau mit dem Begehren, die infolge der nachträglichen Werbung neu abgegebenen Stimmzettel seien als ungültig und das Unternehmen als nicht zustandegekommen zu erklären. Die Beschwerde wurde abgewiesen (Entscheid vom 6. April 1954).
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B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragen Viktor Häni und Mitunterzeichner die Aufhebung dieses Entscheides.
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Sie berufen sich in erster Linie auf Art. 85 lit. a OG und machen geltend, unter diese Bestimmung falle auch die Abstimmung über die Bildung der in Frage stehenden öffentlich-rechtlichen Korporation. Das Ergebnis der Abstimmung, die nach dem Rundschreiben der Ortsverwaltung vom 19. Dezember 1953 am 4. Januar 1954 habe abgeschlossen werden müssen, habe nicht nachträglich geändert werden dürfen. Es sei unstatthaft gewesen, hinterher mehrere Grundeigentümer zum Zurückkommen auf ihre ablehnende Stellungnahme zu bewegen und die so gewonnenen Jastimmen zu berücksichtigen. Die abweichende Auffassung des Regierungsrates verstosse gegen klare, wenn auch ungeschriebene Grundsätze des Verfassungsrechtes.
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Jedenfalls verletze der angefochtene Entscheid Art. 4 BV, indem er diese Grundsätze willkürlich missachte.
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C.- Die Ortsverwaltung und die Kanal- und Entwässerungskorporation Bichelsee beantragen Abweisung der Beschwerde, ebenso der Regierungsrat. - Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.
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Aus den Erwägungen:
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Nach § 34 Abs. 1 Ziff. 4 und § 98 Abs. 1 des thurgauischen EG/ZGB bildet die Gesamtheit der an einer Bodenverbesserung beteiligten Grundeigentümer eine Korporation des kantonalen öffentlichen Rechts, also in gewissem Sinne eine Unterabteilung (Selbstverwaltungskörper) des Kantons. Im vorliegenden Fall steht indessen nicht eine Abstimmung der Mitglieder einer (schon bestehenden) Bodenverbesserungskorporation in Frage, sondern das Verfahren, in dem solche Korporationen erst gebildet werden, Verfahren, in dem abzuklären ist, ob die in § 34 Abs. 2 und § 97 EG/ZGB geforderte Voraussetzung des Zustandekommens des Unternehmens - die Zustimmung mindestens der Hälfte der beteiligten Grundeigentümer, denen zugleich mehr als die Hälfte des beteiligten Bodens gehört - erfüllt sei. Daher kann offen gelassen werden, ob, wie im nicht veröffentlichten Urteil vom 28. September 1949 i.S. Auf der Maur gegen Oberallmeindkorporation Schwyz und Regierungsrat Schwyz gesagt wurde, allgemein die in Körperschaften des kantonalen Rechts abgehaltenen Wahlen und Abstimmungen, auf die öffentliches Recht anwendbar ist, unter Art. 85 lit. a OG fallen. Man wird freilich annehmen können, dass das Verfahren, in dem im Kanton Thurgau Bodenverbesserungskorporationen gebildet werden, ebenfalls dem öffentlichen Rechte untersteht; wird es doch nach § 98 Abs. 2 EG/ZGB von der Gemeindebehörde geleitet, wenn die Beteiligten sich nicht anders verständigen. Aber die Durchführung der Umfrage bei den Beteiligten ist jedenfalls nicht eine Abstimmung im Sinne von Art. 85 lit. a OG; denn Voraussetzung des Rechts zur Teilnahme am Zustimmungsverfahren ist einzig der Besitz von Grundstücken im Perimeter des geplanten Unternehmens, nicht auch die politische Stimmberechtigung für das betreffende Gebiet, so dass unter Umständen auch Frauen, Ausländer und, im Falle der Handlungsunfähigkeit eines Eigentümers, dessen gesetzlicher Vertreter zu befragen sind. Die Beschwerdeführer rufen das Bundesgericht denn auch in ihrer Eigenschaft als Eigentümer solcher Grundstücke an. Sie mögen stimmberechtigte Bürger sein, doch werden sie, auch wenn dies zutrifft, durch den angefochtenen Entscheid nicht in ihrer durch die politische Stimmberechtigung begründeten Stellung berührt, sondern eben in jener anderen Eigenschaft. Daraus folgt, dass sie sich zu Unrecht auf Art. 85 lit. a OG berufen.
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Die Ordnung des bei der "Abstimmung" über die Durchführung einer Bodenverbesserung einzuschlagenden Verfahrens ist den Kantonen überlassen (Art. 703 Abs. 2 ZGB). Die thurgauische Gesetzgebung enthält hierüber keine Bestimmungen; insbesondere schreibt sie nicht vor, dass die Erklärungen über Zustimmung oder Ablehnung innerhalb bestimmter Frist abgegeben werden müssen. Eine solche Befristung wurde im Kanton Thurgau auch nicht im Wege der Praxis eingeführt. Im vorliegenden Fall wurde im Rundschreiben der Ortsverwaltung vom 19. Dezember 1953 allerdings eine - von diesem Tage bis zum 4. Januar 1954 laufende - Frist festgesetzt, aber nur für die Einsicht in das Projekt und für Einsprachen dagegen. Was die Abgabe der Stimmzettel anbelangt, wurde dort lediglich vorgesehen, dass die Zettel "nach Ablauf der Einsprachefrist" von einem Mitglied der Ortsverwaltung abgeholt würden. Es liegt auf der Hand, dass diese Anordnung dem beanstandeten Standpunkte des Regierungsrates nicht entgegensteht.
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Die Beschwerdeführer machen geltend, es verstosse gegen einen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz, eine im Rahmen einer behördlich organisierten Abstimmung über einen öffentlichrechtlichen Gegenstand abgegebene Stimme nach Abschluss des Verfahrens durch eine andere, die gegenteilige Stellungnahme bekundende Stimme zu ersetzen. Richtig ist, dass bei einer politischen Abstimmung im Sinne von Art. 85 lit. a OG ein einmal abgegebener Stimmzettel nicht zurückgenommen werden darf; das ist normalerweise, wenn das Abstimmungsgeheimnis gewahrt wird, auch gar nicht möglich. Eine Abstimmung, wie sie im vorliegenden Fall vorzunehmen war, unterscheidet sich aber wesentlich von einer solchen Verhandlung, nicht nur in den Voraussetzungen der Berechtigung zur Teilnahme, sondern auch in anderer Beziehung. Die beteiligten Grundeigentümer waren zu befragen, ob sie der geplanten Bodenverbesserung "zustimmen"; es galt, die für das Zustandekommen des Unternehmens erforderliche Zahl von Zustimmungserklärungen beizubringen (Art. 703 ZGB; § 34 Abs. 2, § 97 EG/ZGB). Dass für die Abgabe der Erklärungen die Form des Stimmzettels gewählt wurde, ist unerheblich. Eine Geheimhaltung der abgegebenen "Stimmen" (besser gesagt: Erklärungen) kam nicht in Frage; denn die Identität der Zustimmenden musste bekannt sein, da es nicht nur auf deren Zahl ankam, sondern auch auf die Grösse der ihnen gehörenden Bodenfläche. Sodann ist zu beachten, dass es erfahrungsgemäss oft schwer hält, die an einer Bodenverbesserung beteiligten Grundeigentümer zur Zustimmung zu bewegen. Daraus erklärt sich, dass Art. 703 ZGB - nach dessen Abs. 1 bei Zustimmung von zwei Dritteilen der beteiligten Grundeigentümer, denen zugleich mehr als die Hälfte des beteiligten Bodens gehört, die übrigen Eigentümer zum Beitritt verpflichtet sind - in Abs. 3 den kantonalen Gesetzgeber ermächtigt, die Durchführung von Bodenverbesserungen noch weiter zu erleichtern, von welcher Befugnis der Kanton Thurgau durch Herabsetzung des Quorums Gebrauch gemacht hat. Es entspricht dem Grundgedanken dieser Regelung, wenn solange wie möglich versucht wird, die notwendige Zahl von Zustimmungserklärungen zu vereinigen, wozu gegebenenfalls auch gehört, dass gewisse Grundeigentümer, die bereits die Ablehnung erklärt haben, zum Zurückkommen auf ihre Stellungnahme bewogen werden. Es verhält sich ähnlich wie im Verfahren nach Art. 302 ff. SchKG, in dem die für das Zustandekommen eines Nachlassvertrages erforderliche Mindestzahl von "Zustimmungserklärungen" der Gläubiger beizubringen ist; das Bundesgericht hat denn auch entschieden, dass dann, wenn binnen der ordentlichen Frist (Art. 302 Abs. 4 SchKG) diese Zahl nicht erreicht wird, die fehlenden Erklärungen noch vor den Nachlassbehörden eingelegt werden können (BGE 35 I 268Erw. 3). Im vorliegenden Fall, wo für die Abgabe der "Stimmzettel" nicht einmal eine Frist vorgesehen war, kann daher zum mindesten ohne Willkür angenommen werden, dass Zustimmungserklärungen jedenfalls solange eingeholt werden durften, als das Ergebnis der "Abstimmung" noch nicht endgültig amtlich festgestellt war. Als solche Feststellung fällt nur diejenige des kantonalen Meliorationsamtes in Betracht, auf die in der Einladung vom 5. Februar 1954 zur konstituierenden Versammlung der Korporation Bezug genommen wird. Das Meliorationsamt konnte aber zu dem dort festgehaltenen Befund nur gelangen, wenn es die "nachträglichen" Zustimmungserklärungen von Beteiligten, die zunächst Nein "gestimmt" hatten, mitberücksichtigte; es kann also jene Feststellung nicht schon vor der Einholung dieser Erklärungen, sondern muss sie nachher getroffen haben. Mithin kann keine Rede davon sein, dass der Regierungsrat willkürlich klare, wenn auch ungeschriebene allgemeine Grundsätze betreffend die Durchführung von Abstimmungen über öffentlichrechtliche Gegenstände missachtet habe.
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