BGE 87 I 337
 
55. Auszug aus dem Urteil vom 8. November 1961 i.S. C. und Konsorten gegen Schulrat von Gurtnellen und Erziehungsrat des Kantons Uri.
 
Regeste
Disziplinarische Entlassung von Schülern aus der öffentlichen Sekundarschule.
Anspruch der Eltern auf rechtliches Gehör im Entlassungsverfahren.
Darf die Entlassung ohne vorherige Verwarnung verfügt werden?
 
Sachverhalt
Aus dem Tatbestand:
Die drei in Gurtnellen wohnhaften Beschwerdeführer wurden im Frühjahr 1960 in die Sekundarschule der Gemeinde Gurtnellen aufgenommen. Am 24. Juni 1961 teilte der Schulrat Gurtnellen ihren Vätern mit, er habe sie gestützt auf § 62 Abs. 2 der vom Landrat des Kantons Uri erlassenen Schulordnung vom 4. April 1960 (Scho) mit sofortiger Wirkung aus der Sekundarschule ausgeschlossen, da sie "sich schon seit längerer Zeit unwürdig und disziplinarwidrig benommen" und "die Lehrschwester X. auf jegliche Art zu ärgern" gesucht hätten.
Gegen diesen Entscheid rekurrierten die Väter der betroffenen Schüler an den Erziehungsrat des Kantons Uri. Sie beanstandeten insbesondere, dass die Eltern nie auf das angeblich undisziplinierte Verhalten ihrer Kinder aufmerksam gemacht und weder Kinder noch Eltern vor Erlass des Entlassungsbeschlusses angehört worden seien; ferner machten sie geltend, dass die Entlassung als schärfste Massnahme erst ergriffen werden dürfe, wenn sich andere Massnahmen als erfolglos erwiesen hätten.
Der Erziehungsrat wies den Rekurs am 20. Juli 1961 ab und bestätigte den Beschluss des Schulrates Gurtnellen indem er zur Begründung ausführte: Die Entlassung von Sekundarschülern aus disziplinarischen Gründen stehe nach § 62 Abs. 2 Scho im Ermessen der örtlichen Schulräte und könne vom Erziehungsrat nur auf Willkür überprüft werden. Willkür werde aber gar nicht geltend gemacht und liege übrigens auch nicht vor. Die formellen Einwendungen der Rekurrenten seien unbegründet. Von der vorherigen Androhung der Entlassung könne Umgang genommen werden, wenn die Eltern und Schüler wiederholt gewarnt und gemahnt worden seien, und das sei hier der Fall (wird näher ausgeführt). Da der Schulrat die Entlassung im Rahmen seiner gesetzlichen Kompetenz verfügt habe, habe der Erziehungsrat nicht abzuwägen, ob mildere Massnahmen zweckmässiger gewesen wären.
C.- Gegen diesen Entscheid des Erziehungsrates führen die drei entlassenen Schüler, vertreten durch ihre Väter, staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, ihn wegen Verletzung des Art. 4 BV aufzuheben.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut im Sinne folgender
 
Erwägungen:
4. Die Beschwerdeführer erblicken darin eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs, dass der Schulrat die Entlassung verfügt habe, ohne dass er die Eltern vorher angehört habe und ohne dass der Entlassung eine hinreichende Warnung vorausgegangen sei.
a) Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst grundsätzlich durch die kantonalen Normen über das Verfahren und die Zuständigkeit der Gerichte und Verwaltungsbehörden umschrieben. Wo dieser kantonale Rechtsschutz sich als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden, also bundesrechtlichen Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger in allen Streitsachen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten gewährleisten (BGE 85 I 207 Erw. 1, BGE 87 I 106 Erw. 4).
Die Beschwerdeführer nennen keine kantonale Bestimmung, die dem Schulrat vorschreiben würde, vor der disziplinarischen Entlassung eines Sekundarschülers dessen Eltern anzuhören. Doch ergibt sich dies unmittelbar aus Art. 4 BV. Der Anspruch auf rechtliches Gehör folgt zwar aus Art. 4 BV für das Verwaltungsverfahren nicht allgemein und in gleichem Umfange wie für den Zivil- und Strafprozess. Er besteht aber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts jedenfalls dann, wenn das Verfahren eine Strafe oder einen besonders schweren Eingriff in die höchstpersönliche Rechtssphäre zum Gegenstand hat (BGE 74 I 247 /8 und dort angeführte frühere Urteile, BGE 83 I 241). So ist dem Beamten, dessen disziplinarische Entlassung in Aussicht genommen wird, wegen des Strafcharakters und der Wirkungen dieser Massnahme das rechtliche Gehör grundsätzlich in gleichem Umfange zu gewähren wie dem Angeschuldigten im Strafprozess (BGE 76 I 180). Die disziplinarische Entlassung eines Schülers aus einer öffentlichen Schule hat ebenfalls Strafcharakter und auch sonst weittragende und einschneidende Wirkungen, zumal wenn, wie hier, der Besuch der Schule am Wohnort der Eltern in Frage steht. Die Eltern haben daher einen unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Anspruch auf rechtliches Gehör; sie müssen Gelegenheit erhalten, ihre Einwendungen gegen die Gründe, aus denen die disziplinarische Entlassung erwogen wird, der Behörde vorzubringen, bevor diese die Massnahme anordnet. Dieses rechtliche Gehör hat der Schulrat Gurtnellen den Eltern der Beschwerdeführer vor dem Erlass der Verfügung vom 24. Juni 1961 nicht gewährt. Dadurch, dass die Beschwerdeführer gegen diese Verfügung rekurrieren konnten, ist dieser Mangel nicht behoben worden. Art. 4 BV gewährleistet die Möglichkeit, sich gehörig verteidigen zu können, bevor eine endgültige Verfügung erlassen wird, die durch ein ordentliches, auch die Bestreitung des Tatbestandes ermöglichendes Rechtsmittel nicht mehr angefochten werden kann (BGE 46 I 327, BGE 76 I 180). Nun kann der Erziehungsrat, wie im angefochtenen Entscheid ausgeführt und von den Beschwerdeführern nicht bestritten wird, Entlassungsbeschlüsse des Schulrates nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür überprüfen. Stand den Beschwerdeführern demnach kein zu freier Überprüfung führendes Rechtsmittel zur Verfügung, so ist es unerlässlich, dass der Schulrat die Eltern der Beschwerdeführer anhört, bevor er die disziplinarische Entlassung anordnet. Der angefochtene Entscheid ist daher wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs in dem Sinne aufzuheben, dass der Erziehungsrat seinerseits den Beschluss des Schulrates vom 24. Juni 1961 aufzuheben und den Schulrat anzuweisen hat, die Eltern der Beschwerdeführer anzuhören, bevor er einen neuen Sachentscheid fällt.
b) Die Beschwerde muss übrigens auch deshalb gutgeheissen werden, weil der disziplinarischen Entlassung keine hinreichenden Warnungen vorausgegangen sind.
Die Scho schreibt zwar nicht ausdrücklich vor, dass zur disziplinarischen Entlassung erst geschritten werden darf, wenn sich weniger weitgehende Massnahmen als wirkungslos erwiesen haben. Indes zählt § 91 Abs. 2 Scho als zulässige Disziplinarmittel solche verschiedener Schwere auf (Verweis, Mitteilung an die Eltern, Vermerk im Zeugnis, disziplinarische Massnahmen in der Schule, Entlassung von Sekundarschülern). Daraus folgt nicht nur, dass die Strafe nach der Schwere des Disziplinarfehlers abzustufen ist, sondern auch, dass die schwerste Strafe der Entlassung erst dann, wenn weniger weitgehende Massnahmen verbunden mit der Androhung der Entlassung nicht genügt haben, verhängt werden soll, es sei denn, der Disziplinarverstoss sei so schwer, dass der fehlbare Schüler untragbar für die Schule geworden ist, diese, sofern er nicht daraus entfernt wird, ihre Aufgabe nicht mehr richtig erfüllen könnte. Diese Auslegung entspricht derjenigen, die das Bundesgericht dem ebenfalls einen Katalog von Disziplinarstrafen enthaltenden Art. 31 des Bundesbeamtengesetzes gegeben hat (BGE 74 I 90 /91, BGE 81 I 249 Erw. 4), muss aber für derartige Bestimmungen allgemein gelten, weshalb denn auch die vom Erziehungsrat zur Scho von 1932 erlassenen Ausführungsbestimmungen betreffend die Handhabung der Schuldisziplin (Landbuch Bd. 10 S. 165) das schwerste dort vorgesehene Strafmittel, den zeitweiligen Ausschluss vom Schulunterricht, nur als anwendbar erklärten "bei andauernder Gehorsamsverweigerung und Schulstörung, wenn alle andern Strafmittel wirkungslos geblieben sind" (§ 30).
Im Entlassungsbeschluss des Schulrates wird den Beschwerdeführern vorgeworfen, sie hätten sich "seit längerer Zeit unwürdig und disziplinwidrig benommen, indem sie die Lehrschwester X. auf jegliche Art zu ärgern suchten". Was sie im einzelnen getan haben, geht weder aus diesem Beschluss noch aus dem Rekursentscheid oder der Beschwerdeantwort des Erziehungsrates hervor. Insbesondere wird nirgends behauptet, es habe sich um ein derart krasses Verhalten gehandelt, dass sich die sofortige Entlassung der Schüler ohne vorherige Warnung gerechtfertigt habe. Der Erziehungsrat scheint im angefochtenen Entscheid vielmehr davon auszugehen, dass die vorherige Androhung der Entlassung in einem Falle wie dem vorliegenden an sich erforderlich sei; er nimmt jedoch an, sie habe sich hier erübrigt, weil die Eltern und die betroffenen Schüler vor der Entlassung wiederholt gewarnt und gemahnt worden seien. (Es folgen Ausführungen darüber, dass es hier an einer hinreichenden Warnung fehlte.)