BGE 89 I 478
 
68. Auszug aus dem Urteil vom 6. November 1963 i.S. Blass und Seehalden-Immobilien AG gegen Gemeinde Niederrohrdorf und Regierungsrat des Kantons Aargau.
 
Regeste
Kantonales Baupolizeirecht. Eigentumsgarantie. Willkür.
 
Sachverhalt
Aus dem Tatbestand:
Das aargauische EGZGB bestimmt in § 103:
"Die Gemeinden können verbindliche Vorschriften erlassen über die Erschliessung neuer Baugebiete und die Verbesserung überbauter Gebiete, insbesondere mit Bezug auf Verkehrswege, Einteilung des Baugebietes und die Bauweise, ferner über die zur Wahrung der Gesundheit und Sicherheit erforderliche Erstellung, Errichtung und Benutzung der Gebäude, sowie über eine den Anforderungen der Asthetik und des Heimatschutzes entsprechende Bauart."
Die Gemeinde, die solche Vorschriften erlassen will, hat zu diesem Zwecke eine Bauordnung und einen Überbauungsplan aufzustellen, öffentlich aufzulegen und durch den Grossen Rat genehmigen zu lassen (§ 104 EGZGB).
Die Gemeinde Niederrohrdorf hat am 18. Dezember 1953 eine Bauordnung (BO) erlassen, die vom Grossen Rat genehmigt worden ist und in § 34 bestimmt:
"Wohngebäude dürfen nicht mehr als 3 Vollgeschosse oder 2 Vollgeschosse und einen ausgebauten Dachstock aufweisen..."
Am 27. November 1961 kauften die heutigen Beschwerdeführer, Architekt Hans Blass und die Seehalden-Immobilien AG, zwei Grundstücke in Niederrohrdorf. Sie beabsichtigen, darauf einige Mehrfamilienhäuser zu erstellen, und reichten am 23. Januar 1963 ein Baugesuch ein, das nach ihren Angaben den bestehenden Gemeindebauvorschriften entsprach.
Kurz darauf reichten Gemeindebürger eine Initiative ein mit dem Antrag, § 34 BO durch folgende Bestimmung zu ersetzen:
"Bis zum Zeitpunkt, da die Gemeinde eine neue Bauordnung und einen genehmigten rechtsgültigen Zonenplan besitzt, dürfen nur Ein- und Zweifamilienhäuser, die nicht mehr als 2 Vollgeschosse aufweisen, erstellt werden ..."
Während der öffentlichen Auflegung dieses Antrags erhoben 7 Grundeigentümer Einsprachen, darunter auch die heutigen Beschwerdeführer.
In der Gemeindeversammlung vom 15. März 1963 wurde die vorgeschlagene Neufassung des § 34 BO angenommen, worauf der Gemeinderat die Akten dem Regierungsrat übermittelte und den Beschwerdeführern mitteilte, dass ihr der neuen Vorschrift widersprechendes Baugesuch nicht behandelt werden könne.
Durch Beschluss Nr. 1242 vom 26. April 1963 hiess der Regierungsrat die Abänderung des § 34 BO gut und leitete sie mit dem Antrag auf Genehmigung an den Grossen Rat weiter. Sodann wies er mit Beschluss Nr. 1246 vom gleichen Tage die Einsprache der Beschwerdeführer ab.
Mit der staatsrechtlichen Beschwerde stellen Hans Blass und die Seehalden-Immobilien AG den Antrag, der Beschluss (Nr. 1246) des Regierungsrates und § 34 BO seien aufzuheben. Sie berufen sich auf Art. 4 BV und Art. 22 KV (Eigentumsgarantie) und machen geltend, § 34 BO gehe über die den Gemeinden in § 103 EGZGB eingeräumte Kompetenz zum Erlass baupolizeilicher Vorschriften hinaus, da er keine solche Vorschrift enthalte, sondern sich in einem temporären Bauverbot von unbestimmter Dauer erschöpfe.
Der Regierungsrat des Kantons Aargau beantragt Abweisung der Beschwerde.
Der Grosse Rat des Kantons Aargau hat die Änderung des § 34 der BO von Niederrohrdorf am 25. Juni 1963 genehmigt.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
Nach dem bisherigen § 34 BO durften auf den Grundstücken der Beschwerdeführer wie allgemein im Gemeindegebiet Wohngebäude aller Art mit nicht mehr als 3 Vollgeschossen (oder 2 Vollgeschossen und einem ausgebauten Dachstock) erstellt werden. Dass diese Bestimmung baupolizeilichen Charakter hatte und sich auf § 103 EGZGB stützen konnte, bestreiten die Beschwerdeführer mit Recht nicht, da es sich dabei um eine Vorschrift über die "Bauweise" und die "Bauart" handelt und § 103 EGZGB die Gemeinden zum Erlass von Vorschriften hierüber ausdrücklich ermächtigt. Die Neuerung, welche der abgeänderte § 34 BO brachte, besteht im wesentlichen darin, dass nun die Geschosszahl auf 2 Vollgeschosse herabgesetzt ist und keine andern Wohngebäude als Ein- und Zweifamilienhäuser erstellt werden dürfen. Diese Beschränkungen gegenüber der früheren Ordnung ändern aber, wie ohne jede Willkür angenommen werden kann, nichts am baupolizeilichen Charakter von § 34 BO, da er nach wie vor die "Bauweise" und "Bauart" regelt.
Die Beschwerdeführer sprechen dem § 34 BO denn auch den Charakter einer baupolizeilichen Vorschrift nicht wegen des Umfangs der Beschränkung der Baufreiheit ab, sondern deshalb, weil diese Beschränkung nur bis zum Inkrafttreten einer neuen BO und eines Zonenplans angeordnet wurde. Die Gemeinde habe § 34 BO also nicht erlassen, weil sie die danach noch zulässige Bauweise für die allein richtige und wünschbare im Gemeindegebiet halte, sondern weil der Gemeinderat offenbar ausserstande sei, eine sachlich befriedigende endgültige Ordnung innert nützlicher Frist vorzulegen. Es handle sich somit um "verkapptes Baunotrecht", und für solches fehle jede Rechtsgrundlage. Diese Einwendungen genügen jedoch nicht, um § 34 BO als mit § 103 EGZGB unvereinbar erscheinen zu lassen.
§ 103 EGZGB ermächtigt die Gemeinden freilich nicht ausdrücklich zum Erlass baupolizeilicher Vorschriften, die von vorneherein nur für eine beschränkte Zeit Geltung haben. Ebensowenig verbietet er ihnen aber den Erlass solcher Vorschriften. Baurechtliche Erlasse verschiedener Kantone räumen den Baubewilligungsbehörden ausdrücklich die Befugnis ein, im Falle einer unmittelbar bevorstehenden Änderung des Baurechts eine verhältnismässig kurzfristige Bausperre zu erlassen oder doch die Behandlung von Baugesuchen bis zum Inkrafttreten der neuen Ordnung zurückzustellen (vgl. REICHLIN, Rechtsfragen der Landesplanung, ZSR 1947 S. 329 a, BGE 87 I 512). Der Umstand, dass der Kanton Aargau, der kein Baugesetz besitzt, eine solche Befugnis der Gemeindebehörden, von der nur Baulinien betreffenden Bestimmung in § 107 EGZGB abgesehen, nicht kennt, bedeutet indes nicht, dass eine Gemeinde, welche die Schaffung oder Revision einer Bauordnung oder eines Zonenplans vorbereitet, untätig zusehen müsste, wie die damit verfolgten Absichten bis zur Fertigstellung der Erlasse durch bauliche Massnahmen der Grundeigentümer durchkreuzt und vereitelt werden. Mag es auch den Gemeindebehörden ohne besondere Rechtsgrundlage nicht gestattet sein, im Hinblick auf eine in Vorbereitung befindliche Bauordnung oder Zoneneinteilung das Bauen während einiger Zeit ganz zu verbieten, so ist doch die Gemeinde selber, wie jedenfalls ohne Willkür angenommen werden kann, befugt, durch eine Änderung der Bauordnung das Bauen vorübergehend so zu beschränken, dass die Erreichung des Ziels, das mit dem neuen Erlass verfolgt wird, nicht verunmöglicht oder erheblich erschwert werde. Eine derartige für eine Übergangszeit erlassene Beschränkung hat, entgegen der Beschwerde, keinen "dem Bauwesen fremden Zweck", sondern stellt eine im öffentlichen Interesse getroffene "Anordnung zur Sicherung eines geregelten Bauens" dar, wie sie in der Beschwerde selber als zulässiger Inhalt baupolizeilicher Vorschriften bezeichnet wird.
Dass die Gemeinde Niederrohrdorf triftige, im öffentlichen Interesse liegende Gründe für die streitige Abänderung von § 34 BO hatte, ist nicht zu bezweifeln. Wie im angefochtenen Entscheid ausgeführt und in der Beschwerde nicht bestritten wird, hat sich die Bautätigkeit in der Gemeinde in den letzten Jahren stark entwickelt und wird diese Entwicklung voraussichtlich anhalten. Das hat, wie in der Beschwerdeantwort weiter dargelegt wird, zur Folge, dass das vorhandene Quartierstrassennetz, die Wasserversorgung und die Einrichtungen für die Abwasserbeseitigung nicht mehr genügen und erweitert werden müssen, wie auch, dass durch eine Zoneneinteilung des Gemeindegebietes Ordnung in die bauliche Entwicklung gebracht werden muss. Damit diese Planung und die Anpassung der erwähnten Einrichtungen an die gesteigerten Bedürfnisse auf möglichst lange Zeit ihren Zweck erfüllen, bedarf es gründlicher Abklärung und umfangreicher Vorarbeiten, die einer verhältnismässig kleinen Gemeinde wie Niederrohrdorf nicht so leicht fallen wie einem städtischen Gemeinwesen. Wenn die Gemeinde während der hiefür erforderlichen Zeit die Bautätigkeit durch Änderung von Vorschriften der BO über die Art und Höhe der zulässigen Wohnbauten einschränkt, so handelt sie dabei, wie der Regierungsrat sehr wohl annehmen konnte, im Rahmen der ihr in § 103 EGZGB eingeräumten Befugnisse. Gegen diese vorübergehende Beschränkung bestehen umso weniger Bedenken, als der Regierungsrat in der Beschwerdeantwort erklärt, dass die Vorarbeiten für den Zonenplan bereits ziemlich weit gediehen seien und der Baudirektor dem Grossen Rate im Genehmigungsverfahren zugesichert habe, die Neufassung von § 34 BO könne erneut in Erwägung gezogen werden, wenn etwa die Gemeinde den Zonenplan nicht innert nützlicher Frist, z.B. in 2 Jahren erlasse.
Dass der neue § 34 BO deshalb, weil er erst nach der Einreichung des Baugesuchs der Beschwerdeführer erlassen worden ist, auf dieses nicht angewendet werden dürfe, machen die Beschwerdeführer mit Recht nicht geltend. Wie das Bundesgericht wiederholt entschieden hat, ist es nicht verfassungswidrig, ein unter der Herrschaft des alten Rechts eingereichtes Baugesuch nach dem inzwischen in Kraft getretenen neuen Baurecht zu beurteilen; der Grundeigentümer hat grundsätzlich kein wohlerworbenes Recht darauf, dass das bestehende Recht für sein Grundstück in Geltung bleibe, sondern muss stets, und zwar auch nach Einreichung eines Baugesuchs, damit rechnen, dass das Baurecht in dem vom Gesetz dafür vorgesehenen Verfahren geändert wird (BGE 87 I 510 /11 und dort erwähnte Rechtsprechung).