BGE 90 I 137
 
22. Auszug aus dem Urteil vom 18. März 1964 i.S. Rheinpark AG gegen Kachler und Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt.
 
Regeste
Art. 4 BV, Art. 9 BAU. Haftung für Schaden aus Aufschub von Umzugsterminen.
 
Sachverhalt
Die Rheinpark A. G. mit Sitz in Basel ist Eigentümerin eines Mietshauses in Birsfelden. Sie kündigte am 5. September 1961 ihrem Mieter Lüthi den Mietvertrag über die Wohnung, die dieser in ihrem Hause innehatte, auf den 1. April 1962. Lüthi erhob gegen die Kündigung keinen Einspruch. Am 16. Oktober 1961 vermietete die Rheinpark A. G. die Wohnung auf den 1. April 1962 an Kachler, der damals in St. Gallen wohnte.
Gestützt auf den Bundesbeschluss über den Aufschub von Umzugsterminen (BAU) vom 20. März 1953 bewilligte der Gemeinderat von Birsfelden am 21. März 1962 dem bisherigen Mieter Lüthi, bis längstens zum 30. Juni 1962 in der Wohnung zu bleiben. Lüthi machte von der Bewilligung bis Ende Mai 1962 Gebrauch. Der neue Mieter Kachler konnte die Wohnung infolgedessen statt am 1. April erst am 1. Juni 1962 beziehen.
Für den Schaden, der ihm daraus erwuchs, macht Dr. Kachler die Vermieterin haftbar. Das Zivilgericht Basel-Stadt wies die Klage ab, das Appellationsgericht hat sie dagegen im Betrag von Fr. 4'000.-- geschützt. Es hat dazu ausgeführt, Art. 9 Abs. 1 BAU, der die Gemeinde für den dem Vermieter erwachsenen Schaden haften lässt, sei nur sinnvoll, wenn angenommen werde, der Vermieter habe seinerseits zunächst unbekümmert um den Nachweis eines Verschuldens für jeden Schaden aufzukommen, der dem neuen Mieter aus dem Aufschub des Umzugstermins entsteht. Der Hauptschaden, der dem Vermieter erwachsen könne, bestehe gerade aus derartigen Ansprüchen des neuen Mieters. Dieser habe selber kein Klagerecht gegen die Gemeinde. Wäre die allgemeine Regel des Art. 97 OR anwendbar, so hätte, falls den Vermieter kein Verschulden treffe, der neue Mieter den entstandenen Schaden selbst zu tragen. Das widerspreche dem Zweck des Art. 9 BAU. Ohne die Annahme einer kausalen primären Haftung des Vermieters gegenüber dem neuen Mieter würde die Schadenersatzpflicht der Gemeinde im Hauptanwendungsfall überhaupt nie praktisch.
Die Rheinpark A. G. hat das Urteil des Appellationsgerichts mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV angefochten.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
2. Das Appellationsgericht hat dem Beschwerdegegner in der zwischen den Parteien hängigen Zivilrechtsstreitigkeit gestützt auf Art. 9 BAU den Betrag von Franken 4'000. - zugesprochen. Da der Streitwert die Berufungssumme des Art. 46 OG nicht erreicht, unterlag dieses Urteil nicht der Berufung. Der Beschwerdeführerin stand in dem hier zu erörternden Punkte nur die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV offen, die sie denn auch eingereicht hat. Die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen, welche die kantonale Instanz ihrem Entscheid zugrunde gelegt hat, kann das Bundesgericht auf dieses Rechtsmittel hin nicht frei, sondern nur auf das Vorliegen von Willkür (und der hier nicht geltend gemachten Rechtsungleichheit) hin überprüfen. Das gilt für das kantonale so gut wie für das eidgenössische Gesetzesrecht (BGE 57 I 365). Willkür ist nach der Rechtsprechung namentlich dann anzunehmen, wenn der angefochtene Akt eine Norm oder einen klaren und unumstrittenen Rechtsgrundsatz offensichtlich schwer verletzt oder wenn er in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwider läuft (FAVRE, ZSR BGE 81 II 587). Gegen eine Rechtsanwendung, die zwar bei freier Prüfung als unrichtig zu beanstanden wäre, die aber nicht an den angegebenen schweren Mängeln leidet, kann das Bundesgericht dagegen auf Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV hin nicht einschreiten. Die Beschwerdeführerin irrt daher, wenn sie wähnt, das Bundesgericht könne im Rahmen der vorliegenden Willkürbeschwerde einen "klaren Entscheid" in dem Sinne fällen, dass es die streitige Frage ein für allemal grundsätzlich klarstellen würde (vgl. BGE 88 I 203).
3. Im kantonalen Verfahren war zu entscheiden, ob die Beschwerdeführerin als Vermieterin dem Beschwerdegegner als Mieter für den Schaden hafte, der diesem daraus entstanden ist, dass er die Wohnung wegen des dem bisherigen Mieter bewilligten dreimonatigen Aufschubs des Umzugstermins erst mit entsprechender Verspätung beziehen konnte. Das Appellationsgericht hat die Haftung unter Berufung auf Art. 9 Abs. 1 BAU bejaht. Laut dieser Bestimmung haftet "die Gemeinde ... den Vermietern für den ihnen aus den getroffenen Verfügungen erwachsenden Schaden". Unter den "getroffenen Verfügungen" ist der in Art. 1 ff. BAU geregelte Aufschub der ordentlichen Umzugstermine zu verstehen.
Das Appellationsgericht hält dafür, Art. 9 Abs. 1 BAU lasse den Vermieter kausal - wenn auch mit der Möglichkeit des Rückgriffes auf die Gemeinde - für den Schaden haften, der dem neuen Mieter aus dem Aufschub des Umzugstermins erwächst. Die genannte Bestimmung erwähnt indes nur die Haftung der Gemeinde gegenüber dem Vermieter; sie spricht sich weder über die Rechtsbeziehungen zwischen der Gemeinde und dem neuen Mieter noch über diejenigen zwischen diesem und dem Vermieter aus. Aus der Entstehungsgeschichte ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 BAU zu eng sei und nur einen Teil des Anwendungsgebiets erfasse, welches der Gesetzgeber der Vorschrift zuerkennen wollte. Art. 9 wurde wörtlich aus dem notrechtlichen Vorgänger des BAU, dem Bundesratsbeschluss über den Aufschub von Umzugsterminen vom 28. Januar 1944 übernommen, der in Art. 7 von der Haftung der Gemeinde handelte. Über die Tragweite dieser Vorschrift und des Art. 9 BAU sprach sich weder der Bundesrat in der Botschaft zum BAU (BBl 1953 I S. 521) noch das Parlament bei der Genehmigung des Bundesratsbeschlusses (StenB 1944 NatR S. 188 f., StR S. 73) und bei der Beratung des BAU (StenB 1953 NatR S. 204, StR S. 9) aus.
Das Appellationsgericht versucht nicht, die von ihm gefundene Lösung mit dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 BAU in Einklang zu bringen; es nimmt auf die Entstehungsgeschichte keinen Bezug, sondern glaubt, sich unmittelbar auf den "Sinn" der Bestimmung berufen und daraus eine Regelung des Verhältnisses zwischen dem Vermieter und dem neuen Mieter entnehmen zu können. Richtig ist zwar, dass bei der Auslegung des Gesetzes den darin niedergelegten Zwecken und Werten der gebührende Platz einzuräumen ist. Wird die aus dem Zweckgedanken gewonnene Erkenntnis aber auf Gebiete angewendet, die das Gesetz, seinem Wortlaut zufolge, schlechthin nicht geregelt haben kann, dann geht es (den Fall der Berichtigung eines durch die Entstehungsgeschichte ausgewiesenen Redaktionsfehlers vorbehalten) nicht an, diese Folgerung noch als Auslegung zu bezeichnen; eine derartige Übertragung ist vielmehr im Sinne der in Art. 1 ZGB getroffenen Unterscheidung der Lückenfüllung zuzurechnen.
Gemäss Art. 1 Abs. 2 ZGB hat der Richter, wo dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden kann, nach Gewohnheitsrecht und, wo solches fehlt, nach der Regel zu entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Diese Bestimmung ist auch im Gebiete der eidgenössischen Nebengesetzgebung anwendbar (MEIER-HAYOZ, N. 46 zu Art. 1 ZGB). Sie greift aber nur beim Vorliegen einer echten Lücke des Gesetzes Platz (MEIER-HAYOZ, N. 313, 316 zu Art. 1 ZGB), das heisst dort, wo das Gesetz - sei es der betreffende Erlass selber oder eine andere Norm - eine sich unvermeidlicherweise stellende Rechtsfrage überhaupt nicht beantwortet (MEIER-HAYOZ, N. 271, 274, 293 zu Art. 1 ZGB; vgl. auch IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 2. Aufl., Nr. 33 S. 123 Ziff. II a). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Vermieter und dem Mieter werden grundsätzlich durch das Obligationenrecht geregelt. Wenn der BAU hierüber keine besonderen Bestimmungen enthält, so beurteilt sich die Frage, ob der Vermieter dem neuen Mieter für den durch den Aufschub des Umzugstermins entstandenen Schaden hafte, nach den allgemeinen obligationenrechtlichen Vorschriften über die Haftung des Vermieters, die darauf eine Antwort geben.
Da insofern keine echte Gesetzeslücke vorliegt, kann Art. 9 BAU auch nicht auf dem Wege der Übertragung auf das darin nicht geregelte Rechtsverhältnis zwischen dem Vermieter und dem neuen Mieter angewendet werden. Das Urteil des Appellationsgerichts lässt sich somit nicht auf diese Bestimmung gründen.
a) Gemäss Art. 97 Abs. 1 und Art. 255 Abs. 2 OR haftet der Vermieter grundsätzlich nur dann für den Schaden, der dem Mieter aus der Nichterfüllung oder nicht gehörigen Erfüllung des Mietvertrages erwächst, falls er nicht beweist, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last falle. Das Zivilgericht hat mit Recht festgestellt, dass die Beschwerdeführerin am Eintritt des Schadens, welcher dem Beschwerdegegner aus der verspäteten Übergabe der Wohnung erwuchs, kein Verschulden traf. Der Vermieter kann nur dann nach Treu und Glauben gehalten sein, den Mieter beim Vertragsabschluss auf die Möglichkeit eines behördlichen Aufschubs des Umzugstermins hinzuweisen, wenn er Grund zur Annahme hat (oder bei gehöriger Sorgfalt haben sollte), dass die Gemeinde diese Massnahme anordnen werde. Diese Voraussetzung traf hier nicht zu. Der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft ermächtigte die Gemeinde Birsfelden erst am 13. Februar 1962, die Umzugstermine aufzuschieben. Als die Parteien am 16. Oktober 1961 den Mietvertrag abschlossen, bestand darum für die Beschwerdeführerin keinAnlass, ein behördliches Eingreifen in Betracht zu ziehen und den Beschwerdegegner auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen. Das Zivilgericht hat ferner mit Recht erkannt, dass die Beschwerdeführerin namentlich auch insofern kein Verschulden traf, als sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versuchte, die Bewilligung eines Aufschubs an den früheren Mieter zu verhindern. Das Appellationsgericht hat diese Feststellungen mit Fug nicht in Frage gestellt und der Beschwerdeführerin kein Verschulden zur Last gelegt.
b) Der Grundsatz, wonach der Vermieter dem Mieter nur für schuldhaft verursachten Schaden haftet, gilt indes nicht ausnahmslos. Wenn ein Dritter auf die gemietete Sache einen Anspruch erhebt, der sich mit den Rechten des Mieters nicht verträgt und dieser infolgedessen in der vertragsmässigen Benutzung des Mietgegenstandes gestört wird, so hat der Vermieter laut Art. 258 OR Schadenersatz zu leisten, und zwar ungeachtet dessen, ob ihn ein Verschulden treffe oder nicht (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 3, BECKER, N. 3 zu Art. 258 OR).
Eine ältere Lehrmeinung verstand unter dem "Anspruch" eines Dritten auf die gemietete Sache jedes (private) Recht eines Dritten, das den Mieter an der vertragsmässigen Benutzung der Mietsache hindert, wobei sie neben dinglichen auch persönliche Rechte in Betracht zog (SCHNEIDER, N. 2 zu Art. 280 aoR; FICK, N. 3 zu Art. 258 OR; MARTIN, Le code des obligations, Des contrats de droit civil, S. 113; ZR 18 Nr. 181; gleicher Meinung wohl noch BRUNNER, Mietrecht, 2. Aufl., S. 308). Die neue Lehre (und zuvor schon HAFNER, N. 1 zu Art. 280 aoR) hat sich von dieser weiten Auslegung des Art. 258 OR abgewandt; sie schliesst aus systematischen und textlichen Gründen, die Bestimmung erfasse nur dingliche (und diesen kraft Art. 260 OR gleichgestellte) Rechte (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 2, BECKER, N. 1 zu Art. 258 OR; DÜRR, Der Mietvertrag, S. 53). Wenn auch vieles für diese Auffassung spricht, so ist doch weder der Wortlaut noch die Systematik und der Sinn des Gesetzes so eindeutig, dass die Vertretung der älteren Meinung daneben als schlechthin unsachlich und damit willkürlich erschiene. Es kann daher offen bleiben, ob nicht die Rechte des früheren Mieters, die hier der Benutzung der Wohnung durch den neuen Mieter entgegenstanden, mit der Bewilligung des Aufschubes eine gewisse Verdinglichung erfahren hätten.
Wesentlich ist jedoch, dass die Ausdehnung der Rechte des früheren Mieters auf öffentlich-rechtlicher Anordnung beruhte. Ob unter den Ansprüchen Dritter im Sinne des Art. 258 OR neben privaten Rechten auch öffentlich-rechtliche Beschränkungen zu verstehen seien, hat FICK mit Bezug auf die Enteignung sowie das polizeiliche Verbot einer vom Mieter vorgenommenen Betriebsvergrösserung (N. 8 vor Art. 258, N. 4 zu Art. 258 OR) und BRUNNER hinsichtlich der bau- und gesundheitspolizeilichen Benutzungsverbote (a.a.O., S. 308/9) verneint. Die deutsche Lehre begrenzt die Haftung des Vermieters für Rechtsmängel nach § 541 BGB in allgemeiner Weise auf den Fall, dass dem vertragsmässigen Gebrauch der Mietsache durch den Mieter private Rechte Dritter entgegenstehen (STAUDINGER, 11. Aufl., N. 5, PALANDT, 23. Aufl., N. 1 zu § 541 BGB; ENNECCERUS/LEHMANN, Schuldrecht, 14. Bearb., S. 504; ESSER, Schuldrecht, 2. Aufl., S. 539). Da eine Überspannung des Grundsatzes, dass der Vermieter die Gefahr von Rechtsmängeln der vermieteten Sache zu tragen hat, unbillig wäre, dürfte es sich auch für das schweizerische Recht in der Regel nicht rechtfertigen, den Vermieter für die Folgen eines (von ihm nicht veranlassten) behördlichen Eingreifens einstehen zu lassen. Diese Rücksicht entfällt jedoch, wenn das öffentliche Recht dafür sorgt, dass der Vermieter, der wegen des auf behördlicher Anordnung beruhenden Rechtsmangels der Mietsache in Anspruch genommen wird, seinerseits durch das anordnende Gemeinwesen zu entschädigen ist. Das trifft hier zu: Gemäss Art. 9 Abs. 1 BAU haftet die Gemeinde den Vermietern für den ihnen aus den getroffenen Verfügungen erwachsenen Schaden. Der Annahme, der Vermieter habe ungeachtet des fehlenden Verschuldens nach Art. 258 OR für den Schaden aufzukommen, der dem neuen Mieter aus dem (dem früheren Mieter bewilligten) Aufschub des Umzugstermins erwachsen ist, begegnet mithin vom Standpunkt der Billigkeit aus keinen ernstlichen Bedenken.
Zusammengefasst ergibt sich, dass der Wortlaut des Gesetzes die Anwendung des Art. 258 OR auf einen Fall wie den vorliegenden nicht ausschliesst. Ob dieses Vorgehen auch den Sinn des Gesetzes für sich habe, ist zwar fraglich, doch widerspricht es ihm jedenfalls nicht in offensichtlicher Weise. Es kann zudem nicht gesagt werden, die Lösung laufe eindeutig klaren und unumstrittenen Rechtsgrundsätzen zuwider. Wenn und soweit dem Vermieter der Rückgriff auf die Gemeinde möglich bleibt, kommt es auch nicht zu einer schweren Verletzung des Gerechtigkeitsgedankens. Ist dem aber so, dann kann die betreffende Gesetzesauslegung trotz der Einwendungen, die sich dagegen vorbringen lassen, nach der in Erw. 2 vorgenommenen Abgrenzung nicht als willkürlich bezeichnet werden.
Da das angefochtene Urteil mit der nachgeschobenen Begründung, die Beschwerdeführerin hafte nach Art. 258 OR, vor Art. 4 BV standhält, ist es im Ergebnis nicht willkürlich (vgl. BGE 86 I 269). Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen.