BGE 91 I 94
 
16. Auszug aus dem Urteil vom 12. Mai 1965 i.S. Cemin gegen Gemeinderat Wattwil und Regierungsrat des Kantons St. Gallen.
 
Regeste
Abänderung von Verwaltungsakten, Abbruch eines nicht bewilligten Bauteiles. Art. 4 BV.
 
Aus den Erwägungen:
Die Verletzung der Eigentumsgarantie erblickt der Beschwerdeführer darin, dass der Regierungsrat einen "Grundsatz des öffentlichen Baurechts" missachtet habe. Dass dieser "Grundsatz" selber dem Verfassungsrecht angehöre, behauptet die Beschwerde nicht. Handelt es sich aber um eine Regel, die dem kantonalen Gesetzesrecht oder dem Gemeinderecht angehört, so prüft das Bundesgericht deren Verletzung auch im Rahmen der Eigentumsgarantie nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel von Art. 4 BV. Eine Ausnahme besteht nur, wenn es sich um einen schweren Eingriff in das Privateigentum handelt, der wesentlich über das hinaus geht, was in der Schweiz bisher als öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung üblich war: Ein solcher Eingriff ist nach der Praxis nur zulässig, wenn er auf einer klaren gesetzlichen Grundlage beruht (BGE 89 I 467 mit Verweisungen). Die Vorschriften über die Abstände von Bauten von der Strasse, über die zulässige Ausladung von Vorbauten und dergleichen gehören zum traditionellen Baupolizeirecht (vgl. ZSR 1947 324 a). Beide vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhange erhobenen Rügen sind demnach nur unter dem Gesichtspunkte der Willkür und rechtsungleicher Behandlung zu überprüfen.
a) Die Baubewilligung ist eine Verwaltungsverfügung. Als solche erlangt sie formelle Rechtskraft (Urteil des Bundesgerichtes vom 7. Februar 1962, veröffentlicht in den aargauischen Gerichts-und Verwaltungsentscheiden 1962 S. 300) und kann deshalb mit keinem ordentlichen Rechtsmittel mehr angefochten werden (GULDENER, Zivilprozessrecht, 2. Auflage S. 301); materiell rechtskräftig wird sie dagegen nicht (Urteil des Bundesgerichtes vom 13. Februar 1963, veröffentlicht in ZBl 1963 S. 468). Der Eigenart des öffentlichen Rechtes und der Natur des öffentlichen Interesses entspricht es, dass ein nicht der Rechtsordnung entsprechender Verwaltungsakt nicht unabänderlich sein kann. Anderseits kann es die Rechtssicherheit erheischen, dass eine formell rechtskräftige Verwaltungsverfügung nicht nachträglich in Frage gestellt wird. Ob eme materiell rechtswidrige Verfügung zurückgenommen oder abgeändert werden darf, hängt deshalb, soweit darüber nicht positive Vorschriften bestehen, von einer Abwägung der Interessen ab, die einerseits an der Verwirklichung des objektiven Rechtes und anderseits an der Vermeidung von Rechtsunsicherheit bestehen (BGE 78 I 406mit Verweisungen). Das Postulat der Rechtssicherheit geht unter anderem dann vor, wenn durch den Verwaltungsakt subjektive Rechte begründet wurden, wenn die Verfügung auf Grund eines Einsprache- und Ermittlungsverfahrens erlassen wurde, dessen Aufgabe in der allseitigen Prüfung des öffentlichen Interesses und seiner Abwägung gegenüber dem ihm entgegengesetzten Privatinteresse besteht, und wenn der Private von einem ihm eingeräumten Recht schon Gebrauch gemacht hat (BGE 78 I 407).
Der Errichtung der fraglichen Baute des Beschwerdeführers ist ein Einsprache- und Ermittlungsverfahren gemäss Art. 86 ff. der Bauordnung der Gemeinde Wattwil vom 5. Januar 1909 (BOW) vorangegangen. Dabei wurde vor allem auch die Frage geprüft und erörtet, welche Ausladung für den Balkon zulässig sei. Durch die hernach erteilte Baubewilligung ist auf keinen Fall ein subjektives Recht des Beschwerdeführers auf Erstellung eines Balkons von 1,20 m Ausladung begründet worden. Von einem solchen Recht konnte demnach auch kein Gebrauch gemacht werden. An die ihm erteilte Bewilligung hat sich der Beschwerdeführer in der Folge nicht gehalten, obschon er sie nicht angefochten hatte. Der Einwand, die Baubewilligung habe keine Rechtsmittelbelehrung enthalten, wird erstmals vor dem Bundesgericht erhoben und ist daher nicht zu würdigen (BGE 89 I 244 /245). Abgesehen davon und ohne Rücksicht darauf, ob er schon früher einen Baurekurs erhoben hatte oder nicht, musste es dem Beschwerdeführer auch klar sein, dass es jeder Ordnung widerspricht, zunächst eine Baubewilligung einzuholen und alsdann, ohne sich um eine Änderung dieser Bewilligung zu bemühen, das zu tun, was darin ausdrücklich verboten worden war. In einem solchen Falle anzunehmen, das von der Behörde zu wahrende Rechtssicherheitsinteresse prävaliere gegenüber dem Privatinteresse des Beschwerdeführers an der richtigen Anwendung des Baupolizeirechtes, war mindestens nicht willkürlich. Dabei lässt sich der Begriff der Rechtssicherheit hier in einem doppelten Sinne verstehen: als Sicherheit, dass die formell rechtskräftig zugelassene Ausladung des Balkons nicht überschritten werde, aber auch als Sicherheit, dass die mutwillige Verletzung der Baubewilligung nicht nachträglich ohne triftigen Grund belohnt werde. Im Vordergrunde steht nicht die Bestrafung des Bauherrn, sondern die Bewährung der baurechtlichen Verfahrensordnung, die einer allgemeinen Unordnung weichen müsste, wenn das Verhalten des Beschwerdeführers Schule machen sollte: Bei den mit der Durchführung des baupolizeilichen Bewilligungsverfahrens betrauten Behörden würde leicht der Eindruck entstehen, es sei gleichgültig, ob und wie sie ihre Aufgabe erfüllen. Der angefochtene Entscheid lässt sich demnach mit guten Gründen vertreten, sodass er dem Vorwurf der Willkür standhält. In diesem Sinne hat das Bundesgericht auch in einem nicht veröffentlichten Entscheid vom 22. Juni 1960 i.S. Brodard erklärt, der Staatsrat des Kantons Freiburg habe nicht willkürlich entschieden, als er den Abbruch eines nicht bewilligten Bauteiles angeordnet habe. Beigefügt wurde allerdings, der Abbruch hätte nicht verlangt verden können, wenn die Unterschiede gegenüber der Baubewilligung "minimes ou sans importance pour l'intérêt public" gewesen wären. Dass das hier zutreffe, behauptet die Beschwerde nicht.
Die bisherigen Ausführungen sind auch mit dem Text der Bauordnung Wattwil vereinbar. Nach Art. 98 BOW kann der Bauherr zum Abbruch von Bauten, "die plan- und vorschriftswidrig errichtet worden sind", verpflichtet werden. Auf Grund dieser Formulierung lässt sich ohne Willkür annehmen, eine Baute sei planwidrig, wenn sie dem genehmigten Bauplan widerspricht, und sie sei vorschriftswidrig, wenn sie einer in der Baubewilligung enthaltenen Vorschrift nicht entspricht. Der Beschwerdeführer macht demgegenüber unter Hinweis auf Entscheide kantonaler Regierungen und die Ansicht verschiedener Autoren geltend, auszulegen sei die angeführte Bestimmung in dem Sinne, dass eine Baute nur abgebrochen werden müsse, wenn sie dem Quartierplan und der Gemeindebauordnung widerspreche. Hierzu ist festzuhalten, dass nicht alle der vom Beschwerdeführer angerufenen Autoren und Entscheide die Frage behandeln, was mit einem in der Baubewilligung ausdrücklich verbotenen Bauteil zu geschehen habe; soweit sie sich mit dem Problem überhaupt befassen, tun sie dies unter dem Gesichtswinkel freier Kognition. Nirgends aber wird die Meinung vertreten, es gebe für den Abbruch einer Baute, die der Bauherr mit Vorbedacht entgegen der unangefochten gebliebenen Baubewilligung erstellt hat, überhaupt keine vertretbaren Gründe. Willkürlich wäre indessen die Anordnung des Abbruches bereits ausgeführter Bauteile nur in diesem Falle.