BGE 92 I 259 |
45. Auszug aus dem Urteil vom 21. Dezember 1966 i.S. S. gegen Vormundschaftsbehörde des Kreises Fünf Dörfer und Kleiner Rat des Kantons Graubünden |
Regeste |
Art. 4 BV; Beweisabnahme im Verwaltungsverfahren. |
Sachverhalt |
Der 1915 geborene S. in Trimmis musste erstmals im Jahre 1947 wegen Trunksucht in eine Heilanstalt eingewiesen werden. Er war in der Folge verschiedentlich aus diesem Grunde in der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Waldhaus in Chur untergebracht. 1958 wurde er wegen Trunksucht entmündigt und unter Alkoholverbot gestellt. Die Vormundschaftsbehörde des Kreises Fünf Dörfer wies S. am 14. März 1966 gestützt auf Art. 406 und 421 Ziff. 13 ZGB in eine Trinkerheilanstalt ein. Sie berief sich dabei auf zwei Gutachten der Leitung der Anstalt Waldhaus aus den Jahren 1949 und 1958 sowie auf die in der Zwischenzeit gemachten Erfahrungen, die gezeigt hätten, dass die bisher angeordneten Massnahmen wirkungslos geblieben seien. S. zog diesen Beschluss an den Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart und von diesem an den Kleinen Rat des Kantons Graubünden als obere vormundschaftliche Aufsichtsbehörde weiter, wobei er die Anhörung verschiedener Zeugen verlangte, die über sein Verhalten Auskunft geben sollten. Der Kleine Rat hat die Beschwerde abgewiesen. S. hat hiergegen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV erhoben. Das Bundesgericht hat die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gutgeheissen, soweit es darauf eingetreten ist.
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Aus den Erwägungen: |
3. Der Beschwerdeführer beantragte in der Beschwerde an den Kleinen Rat, es seien seine Ehefrau und seine Kinder sowie sein früherer Arbeitgeber, der Vormund und einzelne in Trimmis wohnhafte Gewährsleute als Zeugen über sein Verhalten zu vernehmen. Im Auftrage des Kleinen Rates vernahm der Sekretär des kantonalen Justiz- und Polizeidepartementes telephonisch die Ehefrau des Beschwerdeführers, seinen früheren Arbeitgeber, den Trinkerfürsorger, den Präsidenten der Vormundschaftsbehörde des Kreises Fünf Dörfer, den Aktuar des Bezirksgerichtsausschusses Unterlandquart und alt Landammann J. in Trimmis zur Sache; er besprach sich ferner mit dem Vormund des Beschwerdeführers. Das Ergebnis seiner Erkundigungen hielt er in Aktennotizen fest. Der Kleine Rat hat im angefochtenen Entscheid darauf Bezug genommen und erklärt, die Aussagen der angerufenen "Zeugen" und die Gründe, die einzelne von ihnen gegen die Anstaltseinweisung vorgebracht hätten, vermöchten angesichts der wiederholten schweren Rückfälligkeit des Beschwerdeführers nicht zu überzeugen. Zu prüfen ist, ob das vom Kleinen Rat eingeschlagene Verfahren in diesem Punkte vor der Verfassung standhalte.
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a) Nach dem Gebot des rechtlichen Gehörs hat die Behörde die (vom Prozessrecht vorgesehenen) Beweise, die ihr frist- und formgerecht angeboten worden sind, abzunehmen, soweit sie sich auf für die Entscheidung erhebliche feststellungsbedürftige Tatsachen beziehen und sie nicht von vornherein als ungeeignet erscheinen, der Behörde die Kenntnis der betreffenden Tatsachen zu vermitteln (BGE 73 I 199Erw. 1,BGE 78 IV 146/47). Mit welchen Mitteln ein Beweis erbracht werden kann und welche Formen bei der Beweisabnahme zu beachten sind, ergibt sich, soweit nicht unmittelbar aus Art. 4 BV fliessende Grundsätze Platz greifen, aus dem kantonalen Prozessrecht (vgl.BGE 71 IV 43/44). Laut Art. 25 der grossrätlichen Verordnung über das Verfahren in Verwaltungsstreitsachen vor dem Kleinen Rat (VVV) vom 1. Dezember 1942 bedient sich die Rekursbehörde zur Feststellung der für die Beurteilung wesentlichen Tatsachen "ordentlicherweise" der amtlichen Erhebung, des Sachverständigengutachtens, des Augenscheins, der Urkunde (Abs. 1) und des Parteiverhörs (Abs. 2). Reichen diese Beweismittel nicht aus, so können "auf Antrag oder von Amtes wegen" Zeugen vernommen werden (Abs. 3). Die Zeugen werden vom antragstellenden Departement oder in dessen Auftrag auf Grund besonderer Anweisungen durch ein Kreisamt verhört (Abs. 4 Satz 1). Die Parteien können auf Weisung des Departementes dazu vorgeladen werden (Abs. 4 Satz 2).
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b) Art. 25 VVV nennt unter den Mitteln zur Tatbestandsfeststellung in Verwaltungsstreitverfahren an erster Stelle die "amtliche Erhebung". Die schweizerische Verwaltungspraxis versteht hierunter die schriftliche oder mündliche, in Ausnahmefällen aber auch telephonische Anfrage an eine Behörde, ein einzelnes Behördenmitglied, einen Beamten oder eine sonstige Person, die amtliche Funktionen ausübt oder wegen ihrer Stellung im Beruf oder in der Öffentlichkeit das Vertrauen der untersuchenden Behörde geniesst (vgl. ZR 54 Nr. 10). Das bündnerische Recht stellt für eine solche Anfrage keine Formvorschriften auf; im Falle der mündlichen oder telephonischen Befragung ist indessen die schriftliche Niederlegung oder Bestätigung der erhaltenen Auskunft unerlässlich. Die Aktennotizen, die der Sekretär des kantonalen Justiz- und Polizeidepartementes über die telephonischen Auskünfte des Präsidenten der Vormundschaftsbehörde des Kreises Fünf Dörfer, des Aktuars des Bezirksgerichtsausschusses Unterlandquart, des Trinkerfürsorgers und von alt Landammann J. in Trimmis sowie über die Besprechung mit dem Vormund des Beschwerdeführers erstellte, sind als "amtliche Erhebungen" im Sinne des Art. 25 VVV zu betrachten. Die Annahme des angefochtenen Entscheides, es habe sich dabei um Zeugenaussagen gehandelt, lässt sich dagegen mangels Beachtung der im Folgenden zu erwähnenden Formerfordernisse nicht halten.
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c) Die Ehefrau des Beschwerdeführers und dessen früherer Arbeitgeber nehmen keine Stellung ein, die es erlaubt hätte, beweisbildende Auskünfte von ihnen auf dem Wege der "amtlichen Erhebung" einzuholen. Sie mussten vielmehr als Zeugen vernommen werden. In welcher Form Zeugen zu verhören sind, besagt Art. 25 VVV nicht; insbesondere wird darin nicht auf die einschlägigen Vorschriften der ZPO (Art. 196 ff.) oder der StPO (Art. 87, 89, 90, 105, 106, 113) verwiesen. Aus dem Fehlen einer solchen Verweisung ist zu schliessen, dass das Zeugenverhör im Verwaltungsstreitverfahren sich nicht bis ins Einzelne an die Formvorschriften des bündnerischen Zivil- oder Strafprozesses zu halten hat. Andererseits muss die Vernehmung dem Wesen der Sache nach doch gewissen Grundbedingungen entsprechen, die das kantonale Recht im Interesse der Rechtssicherheit und zum Schutze des Zeugen aufgestellt hat. Dazu gehört in erster Linie die persönliche Anwesenheit des Zeugen, die in den Vorschriften der ZPO und der StPO über die Ladung, das Erscheinen und die Befragung der Zeugen als selbstverständlich vorausgesetzt wird (vgl. Art. 201, 207 ZPO; Art. 106 StPO); denn nur, wenn der Zeuge der untersuchenden Amtsperson gegenübersteht (nicht dagegen bei bloss telephonischer Anhörung), lässt sich überprüfen, ob nicht die Gegenwart Dritter oder andere Umstände den Zeugen in der freien Aussage hemmen, und nur im persönlichen Kontakt lassen sich die Eindrücke gewinnen, ohne die sich die Glaubwürdigkeit eines Zeugen in der Regel schwerlich einschätzen lässt. Die telephonische Vernehmung der Ehefrau des Beschwerdeführers und seines früheren Arbeitgebers sind schon aus diesem Grunde als Zeugenverhöre ungültig. Ob auch der Umstand, dass die "Zeugen" nicht zur Wahrheit ermahnt und nicht auf die Straffolgen des falschen Zeugnisses hingewiesen wurden (Art. 203 ZPO; Art. 89 Abs. 3, Art. 113 Abs. 1 StPO) und dass ihnen das Protokoll ihrer Aussagen nicht vorgehalten wurde (Art. 205 ZPO; Art. 87 StPO), die Nichtigkeit ihrer Vernehmung nach sich ziehe. kann unter diesen Umständen offen bleiben.
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d) Das Fehlen gültiger Aussagen der Ehefrau des Beschwerdeführers und seines früheren Arbeitgebers hätte allerdings nur dann die Aufhebung des angefochtenen Entscheids zur Folge, wenn es bei der Beurteilung der Streitsache massgebend auf ihre Angaben ankäme. Das dürfte nicht zutreffen, da die subjektiv gefärbten Eindrücke von Familienangehörigen wenig zur Abklärung der Versorgungsbedürftigkeit eines Alkoholikers beitragen und die Gründe der Entlassung, worüber der frühere Arbeitgeber zu berichten hatte, im Gesamtzusammenhang kaum ins Gewicht fielen.
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Das Beweisverfahren leidet indessen an einem andern Mangel, der zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führt: In einem Verwaltungsverfahren, das einen Eingriff in die persönliche Freiheit zum Gegenstand hat, hat der Betroffene gleich wie im Zivil- und Strafprozess schon unmittelbar auf Grund des Art. 4 BV einen Anspruch darauf, vom Ergebnis des Beweisverfahrens Kenntnis zu nehmen und dazu Stellung zu beziehen (vgl. BGE 92 I 187 mit Verweisungen). Zu diesem Behufe sind ihm die Akten, die zur Stützung der behördlichen Anordnung dienen sollen, zu öffnen, sofern nicht die Rücksicht auf die Gesundheit der Partei (vgl. Art. 374 Abs. 2 ZGB) oder ein besonderes Geheimhaltungsinteresse des Staates oder Dritter ausnahmsweise der Einsicht in einzelne Aktenstücke oder Teile derselben entgegenstehen (vgl. BGE 83 I 155 Erw. 5 mit Verweisungen; IMBODEN, Schw. Verwaltungsrechtsprechung, 2. Aufl. Nr. 90). Im vorliegenden Fall hat das instruierende Departement dem Vertreter des Beschwerdeführers nicht eröffnet, dass Beweisabnahmen stattgefunden hatten, und es hat ihn nicht zur Stellungnahme eingeladen. Dass der Vertreter des Beschwerdeführers kein dahin gehendes Gesuch stellte, kann ihm nicht entgegengehalten werden; denn da er von der vorgenommenen Aktenergänzung keine Kenntnis hatte, hatte er keinen Anlass, um Akteneinsicht und um Ansetzung einer Frist zur Würdigung des Beweisergebnisses nachzusuchen. Dass die Behörde ihm nicht von Amtes wegen Gelegenheit dazu gab, stellt eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs und damit eine Verletzung des Art. 4 BV dar. Da der Anspruch auf rechtliches Gehör formeller Natur ist, hat dessen Missachtung auch dann die Aufhebung des daran leidenden Entscheides zur Folge, wenn der Beschwerdeführer ein materielles Interesse hieran nicht nachzuweisen vermag. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob irgendwelche Aussicht bestehe, dass der Kleine Rat nach richtiger Anhörung des Beschwerdeführers zu einer Änderung seines Entscheides gelange (BGE 89 I 158 mit Verweisungen, 251 Erw. 2; BGE 92 I 188).
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