BGE 131 I 455 - Strafuntersuchung gegen Behördenmitglieder
 
46. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Anklagekammer des Kantons St. Gallen (Staatsrechtliche Beschwerde)
 
1P.440/2005 vom 6. Oktober 2005
 
Regeste
Art. 3 und 13 EMRK, Art. 10 Abs. 3 BV, Art. 88 OG; erniedrigende Behandlung, Untersuchung.
Wer in vertretbarer Weise behauptet, von einem Polizeibeamten erniedrigend behandelt worden zu sein, hat Anspruch auf eine wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung (E. 1.2.5). Anspruch im vorliegenden Fall verletzt (E. 2).
 
Sachverhalt
Am 1. März 2005 erstattete der türkische Staatsangehörige X. (geb. 1962) Strafanzeige gegen ihm dem Namen nach unbekannte Polizeibeamte; dies gestützt auf folgenden Sachverhalt:
In der Nacht des 11. Februar 2005, um ca. 23.00 bis 23.30 Uhr, habe er sich in einem Restaurant aufgehalten. Der Wirt habe für ihn ein Taxi bestellt. Aufgrund seines Alkoholkonsums müsse es so gewesensein, dass er - X. - nicht mehr in der Lage gewesen sei, dem Taxifahrer den Weg nach Hause zu beschreiben. Auf dem Trottoir habe er plötzlich einen Polizeibeamten und eine Polizeibeamtin vor sich stehen sehen. Diese hätten ihn aufgefordert, sich auszuweisen. Die Beamten hätten seinen Ausweis angeschaut und ihm Handschellen angelegt. Dann habe ihn der Polizeibeamte sehr grob an das Auto gedrückt. Er habe den Polizeibeamten angeschaut und gesagt: "Was ist los?". Darauf habe ihm der Beamte einen Tritt ans Bein gegeben und ihn mit dem Gesicht auf den Boden geschlagen. Er - X. - erinnere sich noch, dass er, die Schmerzen kaum aushaltend, das Wort "Arschloch" ausgestossen habe. Mit auf dem Rücken verbundenen Händen sei er mit dem Bauch auf dem Boden gelegen. Als ob das nicht genügen würde, habe ihn der Beamte an den Haaren gehalten und mehrmals seinen Kopf auf den Beton geschlagen, so dass er - X. - einen Nasenbeinbruch, eine Verletzung der Lippe sowie Blutergüsse an der Schulter und am Bein erlitten habe. In der Folge sei er in Ohnmacht gefallen. Danach habe er ins Spital verbracht worden sein müssen. Am 12. Februar 2005, um ca. 9.00 Uhr, sei er im Ausnüchterungszimmer der Polizeizentrale der Stadt St. Gallen aufgewacht.
X. fügte dem hinzu, eine detailliertere Aussage werde er gerne vor der zuständigen Behörde machen. Dieser werde er zu gegebener Zeit auch Beweise, die seine Sachverhaltsschilderung belegten, einreichen.
Bei den beiden erwähnten Polizeibeamten handelt es sich um A. und B.
Am 4. März 2005 übermittelte die Staatsanwaltschaft die Strafanzeige der Anklagekammer des Kantons St. Gallen zum Entscheid über die Eröffnung einer Strafuntersuchung gegen die beiden Polizeibeamten. In der Beilage sandte die Staatsanwaltschaft der Anklagekammer einen Auszug aus dem Journal der Stadtpolizei St. Gallen vom 11./12. Februar 2005 zu.
Mit Schreiben vom 8. März 2005 teilte die Anklagekammer dem Polizeikommando mit, sie habe die Strafanzeige vom 1. März 2005 erhalten. Für Strafklagen gegen Behördenmitglieder und Angestellte öffentlich-rechtlicher Institutionen sehe die st. gallische Strafprozessordnung ein besonderes Verfahren vor. Im Unterschied zum ordentlichen Verfahren entscheide nicht der Untersuchungsrichter, sondern die Anklagekammer über die Eröffnung des Strafverfahrens, soweit die erhobenen Vorwürfe die Amtsführung beträfen. Im Rahmen dieses besonderen Verfahrens gab die Anklagekammer dem Polizeikommando und den beteiligten Polizeibeamten Gelegenheit, zur Strafklage Stellung zu nehmen und allfällige Akten einzureichen.
Mit Schreiben ebenfalls vom 8. März 2005 teilte Fürsprecher Ismet Bardakci mit, X. habe ihn mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt. Fürsprecher Bardakci ersuchte um Zustellung der Akten zur Einsichtnahme.
Am 15. März 2005 sandte die Anklagekammer dem Anwalt die Akten zu.
Am 23. März 2005 übermittelte das Polizeikommando der Anklagekammer einen von A. verfassten Informationsbericht zum Vorfall vom 11./12. Februar 2005; im Weiteren schriftliche Stellungnahmen von A. und B.; überdies Stellungnahmen der Polizeibeamten C. und D., welche sich mit X. befassten, nachdem dieser in der Nacht des 11./12. Februar 2005 in den "Check-In" der Stadtpolizei verbracht worden war.
Am 24. März 2005 sandte die Anklagekammer Fürsprecher Bardakci Kopien der vom Polizeikommando eingereichten Stellungnahmen. Die Anklagekammer teilte ihm mit, ein weiterer Schriftenwechsel sei nicht vorgesehen. Die Anklagekammer werde ihren Entscheid gestützt auf die Akten fällen.
Mit Schreiben vom 28. März 2005 an die Anklagekammer beantragte Fürsprecher Bardakci namens von X., gegen A. und B. sei ein Strafverfahren wegen Körperverletzung zu eröffnen. Der Arztbericht vom 16. März 2005 von Dr. med. T. sowie zwei Fotoaufnahmen von X., die am 11. oder 12. Februar 2005 im Kantonsspital St. Gallen gemacht worden seien, seien zu den Akten zu erkennen. Die medizinischen Akten betreffend X. im Zusammenhang mit seinen erlittenen Verletzungen seien beim Kantonsspital St. Gallen herauszuverlangen. Im Weiteren ersuchte Fürsprecher Bardakci darum, das im Informationsbericht von A. erwähnte Protokoll der polizeilichen Einvernahme von X. beizuziehen.
Am 7. April 2005 sandte die Stadtpolizei der Anklagekammer das Protokoll der polizeilichen Einvernahme von X. vom 12. Februar 2005 zu.
Am 11. April stellte die Anklagekammer Fürsprecher Bardakci dieses Protokoll in Kopie zu.
Mit Entscheid vom 26. April 2005 lehnte die Anklagekammer die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen A. und B. ab. Die Anklagekammer kam zum Schluss, der Einsatz der beiden Beamten sei rechtmässig gewesen. Er sei durch die Amtspflicht nach Art. 32 StGB gedeckt und daher nicht strafbar. Es lägen keine konkreten Anhaltspunkte vor, dass die Beamten unzulässige und unverhältnismässige Mittel oder Gewalt angewendet hätten. Namentlich seien die von X. erlittenen Verletzungen mit seinem von den Beamten geschilderten Sturz mit auf dem Rücken gefesselten Händen erklärbar. Es fehle insgesamt an konkreten Anhaltspunkten für ein damit zusammenhängendes strafbares Verhalten durch die beiden Beamten.
X. führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Entscheid der Anklagekammer aufzuheben. Er macht eine Verletzung insbesondere von Art. 3 und 13 EMRK geltend. Daraus ergebe sich die Pflicht des Staates, für gründliche, wirksame und unvoreingenommene Ermittlungen zu sorgen, wenn jemand erniedrigend behandelt worden sei. Die Ermittlungen müssten geeignet sein, die Verantwortlichen zu identifizieren und zu bestrafen. Der Betroffene sei am Ermittlungsverfahren angemessen zu beteiligen. Eine wirksame Untersuchung habe im vorliegenden Fall nicht stattgefunden. Die Anklagekammer habe sich mit schriftlichen Erklärungen der angeschuldigten Polizeibeamten begnügt.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
1.1  Der angefochtene Entscheid stellt einen Endentscheid dar. Ein kantonales Rechtsmittel dagegen ist nicht gegeben. Die staatsrechtliche Beschwerde ist insoweit zulässig (Art. 86 i.V.m. Art. 87 OG).
1.2  Die Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde setzt die persönliche Betroffenheit des Beschwerdeführers in eigenen rechtlich geschützten Positionen voraus (Art. 88 OG).
1.2.1  Nach der Praxis des Bundesgerichts ist der durch eine angeblich strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert, gegen die Einstellung eines Strafverfahrens oder gegen ein freisprechendes Urteil staatsrechtliche Beschwerde zu erheben. Der Geschädigte hat an der Verfolgung und Bestrafung des Täters nur ein tatsächliches oder mittelbares Interesse im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 88 OG. Der Strafanspruch, um den es im Strafverfahren geht, steht ausschliesslich dem Staat zu, und zwar unabhängig davon, ob der Geschädigte als Privatstrafkläger auftritt oder die eingeklagte Handlung auf seinen Antrag hin verfolgt wird. Unbekümmert um die fehlende Legitimation in der Sache selbst ist der Geschädigte aber befugt, mit staatsrechtlicher Beschwerde die Verletzung von Verfahrensrechten geltend zu machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Das nach Art. 88 OG erforderliche rechtlich geschützte Interesse ergibt sich diesfalls nicht aus einer Berechtigung in der Sache, sondern aus der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen. Ist der Beschwerdeführer in diesem Sinne nach kantonalem Recht Partei, kann er die Verletzung jener Parteirechte rügen, die ihm nach dem kantonalen Verfahrensrecht oder unmittelbar aufgrund der Bundesverfassung oder von Art. 6 EMRK zustehen.
Etwas anderes gilt für das Opfer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5). Gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG kann das Opfer den Entscheid eines Gerichts verlangen, wenn das Verfahren nicht eingeleitet oder wenn es eingestellt wird. Hat - wie hier - von Anfang an ein Gericht die Einleitung eines Verfahrens abgelehnt, ist Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG damit Genüge getan (BGE 6S.152/2005 vom 26. August 2005, E. 3.2.1). Das Opfer kann nach Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG den betreffenden Gerichtsentscheid mit den gleichen Rechtsmitteln anfechten wie der Beschuldigte, wenn es sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann. Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG geht als "lex specialis" Art. 88 OG vor. Die Legitimation des Opfers zur staatsrechtlichen Beschwerde ist insoweit auf materiellrechtliche Fragen erweitert.
Ob die Opferstellung gegeben ist, prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (BGE 128 I 218 E. 1.1; 120 Ia 101 E. 1a und 2a, 157 E. 2).
1.2.2  Gemäss Art. 2 Abs. 1 OHG ist Opfer, wer durch eine Straftat in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist, unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat.
Nach der Rechtsprechung muss die Beeinträchtigung von einem gewissen Gewicht sein. Bagatelldelikte wie z.B. Tätlichkeiten, die nur unerhebliche Beeinträchtigungen bewirken, sind daher vom Anwendungsbereich des Opferhilfegesetzes grundsätzlich ausgenommen. Entscheidend ist jedoch nicht die Schwere der Straftat, sondern der Grad der Betroffenheit der geschädigten Person. So kann etwa eine Tätlichkeit die Opferstellung begründen, wenn sie zu einer nicht unerheblichen psychischen Beeinträchtigung führt. Umgekehrt ist es denkbar, dass eine im Sinne des Opferhilfegesetzes unerhebliche Beeinträchtigung der körperlichen und psychischen Integrität angenommen wird, obwohl der Eingriff strafrechtlich als leichte Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) zu beurteilen ist. Entscheidend ist, ob die Beeinträchtigung des Geschädigten in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität das legitime Bedürfnis begründet, die Hilfsangebote und die Schutzrechte des Opferhilfegesetzes - ganz oder zumindest teilweise - in Anspruch zu nehmen (BGE 128 I 218 E. 1.2 mit Hinweis).
1.2.3  Dr. med. T. führt im ärztlichen Bericht unter der Überschrift "Untersuchungsbefund am 16. März 2005" unter anderem aus:
    "In Heilung begriffene Läsionen am Gesicht und an der linken Schulter, insbesondere eine Riss-Quetsch-Wunde am Nasenansatz, palpatorisch eine Nasenbeinfraktur, Schürfwunden an der Stirn links oberhalb der Augenbraue, Schürfungen unterhalb des linken Auges, Schürfungen an der Oberlippe links, Schürfungen an der Unterlippe innen, Schürfungen an der linken Schulter sowie Schwellung und Druckdolenz an der linken Hand dorsoradial, einer Prellung entsprechend."
Unter der Überschrift "Beurteilung" bemerkt er:
    "Der Patient zeigt Läsionen am Gesicht und an der linken Schulter (siehe Untersuchungsbefund), die durch eine Gewaltanwendung zustande gekommen sind. Die beschriebenen Läsionen sind, insbesondere wenn die Nasenbeinfraktur und eine mögliche Commotio cerebri (Bewusstsein verloren) betrachtet werden, mittelschweren bis schweren Ausmasses."
Dass der Beschwerdeführer Verletzungen im Gesicht, insbesondere an der Nase, und an der Schulter erlitten hat, zeigen auch die bei den Akten liegenden Fotos, die in der Nacht des Vorfalles im Kantonsspital St. Gallen gemacht worden sind. Um eine Bagatelle handelt es sich nicht. Dies ist auch deshalb auszuschliessen, weil die beiden Polizeibeamten unmittelbar nach der Auseinandersetzung mit dem Beschwerdeführer die Ambulanz herbeigerufen haben.
In Berücksichtigung der erlittenen Verletzungen ist die Opfereigenschaft nach Art. 2 Abs. 1 OHG zu bejahen. Rechnung zu tragen ist dabei auch dem Umstand, dass der Polizeibeamte nach den Angaben des Beschwerdeführers diesen, als er wehrlos am Boden gelegen sei, an den Haaren gehalten und seinen Kopf mehrmals auf den Beton geschlagen haben soll. Dies stellte nicht nur eine Beeinträchtigung der körperlichen, sondern auch der psychischen Integrität dar.
1.2.4  Für eine auf materiellrechtliche Fragen erweiterte Legitimation des Beschwerdeführers genügt die Opfereigenschaft - wie dargelegt - jedoch nicht. Der angefochtene Entscheid muss zudem seine Zivilansprüche betreffen oder sich auf deren Beurteilung auswirken können.
Nach der Rechtsprechung fehlt dem Geschädigten, dem ausschliesslich öffentlich-rechtliche Ansprüche aus Haftungsrecht gegen den Kanton zustehen, und der keine Zivilforderungen gegen den angeblich fehlbaren Beamten geltend machen kann, die erweiterte Legitimation (Urteile 1P.737/2004 vom 31. März 2005, E. 2 und 1P.432/2004 vom 27. Oktober 2004, E. 1; vgl. auch BGE 125 IV 161 E. 3).
Gemäss Art. 1 des Verantwortlichkeitsgesetzes des Kantons St. Gallen vom 7. Dezember 1959 (sGS 161.1) haften der Staat, die Gemeinden, die übrigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften und die öffentlich-rechtlichen Anstalten des kantonalen Rechts für den Schaden, den ihre Behörden, Beamten und Angestellten in Ausübung dienstlicher Verrichtungen Dritten widerrechtlich zufügen (Abs. 1). Der Geschädigte kann Behördenmitglieder, Beamte und Angestellte nicht unmittelbar belangen (Abs. 3).
Der Beschwerdeführer hat somit aufgrund des behaupteten Vorgehens der Polizeibeamten allenfalls eine öffentlich-rechtliche Forderung gegen den Staat. Er hat aber keine Zivilforderung gegen die Polizeibeamten. Als Zivilforderung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG kann nur ein solcher Anspruch betrachtet werden, der adhäsionsweise im Strafverfahren geltend gemacht werden kann (Urteil 1P.737/2004 vom 31. März 2005, E. 2; BGE 125 IV 161 E. 3).
Die erweiterte Legitimation steht dem Beschwerdeführer somit nicht zu. Er kann lediglich die Verletzung von Verfahrensrechten geltend machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Die Verfahrensrechte können ihm aufgrund des kantonalen Rechts oder unmittelbar aufgrund der Bundesverfassung oder der Europäischen Menschenrechtskonvention zustehen.
1.2.5  Gemäss Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Dies gewährleistet ebenso Art. 10 Abs. 3 BV.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat dann, wenn jemand in vertretbarer Weise ("de manière défendable") behauptet, von der Polizei in einer Art. 3 EMRK verletzenden Weise misshandelt worden zu sein, eine wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung ("une enquête officielle approfondie et effective") stattzufinden. Die Untersuchung muss zur Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen führen können. Verhielte es sich anders, wäre das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Bestrafung oder Behandlung - trotz seiner grundlegenden Bedeutung - in der Praxis wirkungslos.
Diese Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK hat der Europäische Gerichtshof im Urteil in Sachen Assenov gegen Bulgarien vom 28. Oktober 1998 entwickelt (Recueil CourEDH 1998-VIII S. 3264, Ziff. 102 ff.). Er stützte sich dabei auf seine entsprechende Praxis zu Art. 2 EMRK, der das Recht auf Leben gewährleistet (dazu insbesondere Urteil i.S. McCann gegen Vereinigtes Königreich vom 27. September 1995, Serie A, Bd. 324, Ziff. 161 ff.). Der Gerichtshof hat diese Rechtsprechung in der Folge mehrfach bestätigt (vgl. Urteile i.S. Labita gegen Italien vom 6. April 2000, Recueil CourEDH 2000-IV S. 25, Ziff. 131 ff.; i.S. Dikme gegen Türkei vom 11. Juli 2000, Recueil CourEDH 2000-VIII S. 181, Ziff. 101 ff.; i.S. Caloc gegen Frankreich vom 20. Juli 2000, Recueil CourEDH 2000-IX S. 1, Ziff. 88 ff.; i.S. M.C. gegen Bulgarien vom 4. Dezember 2003, Recueil CourEDH 2003-XII S. 45, Ziff. 151; i.S. Slimani gegen Frankreich vom 27. Juli 2004, Ziff. 31).
Auf den dargelegten prozessualen Teilgehalt von Art. 3 EMRK wird auch im Schrifttum hingewiesen (ARTHUR HAEFLIGER/FRANK SCHÜRMANN, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl., Bern 1999, S. 58 und 70; MARK E. VILLIGER, Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Artikel 3 EMRK, in: Daniel Thürer [Hrsg.], EMRK: Neuere Entwicklungen, Zürich 2005, S. 65; WALTER GOLLWITZER, Menschenrechte im Strafverfahren: MRK und IPBPR, Kommentar, Berlin 2005, Art. 3 MRK/Art. 7 IPBPR N. 11).
Der Europäische Gerichtshof leitet den Anspruch auf eine vertiefte und wirksame Untersuchung bei vertretbarer Behauptung einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung ebenso ab aus dem Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK. Diese Bestimmung verlangt überdies den wirksamen Zugang des Klägers zum Untersuchungsverfahren ("un accès effectif du plaignant à la procédure d'enquête"; Urteil i.S. Assenov, a.a.O., Ziff. 117 f.; vgl. auch Urteile i.S. Aksoy gegen Türkei vom 18. Dezember 1996, Recueil CourEDH 1996-VI S. 2260, Ziff. 98; i.S. Aydin gegen Türkei vom 25. September 1997, Recueil CourEDH 1997-VI S. 1866, Ziff. 103 ff.; i.S. Cakici gegen Türkei vom 8. Juli 1999, Recueil CourEDH 1999-IV S. 657, Ziff. 113; i.S. Ilhan gegen Türkei vom 27. Juni 2000, Recueil CourEDH 2000-VII S. 315, Ziff. 97 ff.).
1.2.6  Der Beschwerdeführer hat bei seiner polizeilichen Anhaltung am 11. Februar 2005 unstreitig Verletzungen erlitten. Er macht geltend, der beteiligte Polizeibeamte habe ihm diese in der in der Strafanzeige beschriebenen Weise absichtlich zugefügt. Die beiden Polizeibeamten geben demgegenüber an, der Beschwerdeführer sei, als ihm die Arme bereits mit Handschellen auf den Rücken gebunden gewesen seien, vornüber gestürzt und habe sich so die Verletzungen zugezogen. Es stehen sich somit die Aussagen des Beschwerdeführers einerseits und der beiden Polizeibeamten anderseits gegenüber. Dass sich die Sache so zugetragen hat, wie der Beschwerdeführer behauptet, kann nicht von vornherein sicher ausgeschlossen werden. Er erhebt seine Anschuldigung in vertretbarer Weise. Verhielte es sich so, wie er sagt, hätte also, als er bereits wehrlos mit auf dem Rücken gebundenen Armen auf dem Bauch am Boden lag, der Polizeibeamte ihn an den Haaren gefasst und seinen Kopf mehrmals auf den Boden geschlagen, läge darin eine gegen Art. 3 EMRK verstossende erniedrigende Behandlung. Ist jemand seiner Freiheit beraubt, beeinträchtigt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Anwendung körperlicher Gewalt durch Polizeibeamte, soweit sie nicht aufgrund des Verhaltens des Betroffenen unbedingt erforderlich ist, die menschliche Würde und stellt grundsätzlich eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar (Urteile i.S. Ribitsch gegen Österreich vom 4. Dezember 1995, Serie A, Bd. 336, Ziff. 38 ff.; i.S. Assenov, a.a.O., Ziff. 94, mit Hinweisen). So bejahte der Europäische Gerichtshof die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK bei mehreren Quetschungen, von denen der Betroffene behauptet hatte, sie seien ihm bei der Festnahme von Polizisten rechtswidrig zugefügt worden (Urteil i.S. Assenov, a.a.O., Ziff. 95); ebenso in einem entsprechenden Fall bei mehreren Beulen an einem Arm (Urteil i.S. Ribitsch, a.a.O., Ziff. 39 f.).
Der Beschwerdeführer kann sich somit auf Art. 3 EMRK berufen. Der prozessuale Teilgehalt dieser Bestimmung verschafft ihm einen Rechtsanspruch auf eine wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung seines Vorwurfes. Art. 13 EMRK gibt ihm überdies das Recht auf einen wirksamen Zugang zum Untersuchungsverfahren. Der angefochtene Entscheid, mit dem die Eröffnung einer Strafuntersuchung abgelehnt worden ist, betrifft deshalb den Beschwerdeführer in seinen rechtlich geschützten Interessen im Sinne von Art. 88 OG.
Auf die Rüge der Verletzung von Art. 3 und 13 EMRK ist einzutreten.
 
Erwägung 2
2.1  Gemäss Art. 16 Abs. 2 lit. b StPO/SG entscheidet die Anklagekammer über die Eröffnung des Strafverfahrens gegen Behördenmitglieder oder Beamte nach Art. 110 Ziff. 4 StGB wegen strafbarer Handlungen, die deren Amtsführung betreffen (...).
Der Anklagekammer lagen bei ihrem Entscheid vor: - ein Auszug aus dem Journal der Stadtpolizei vom 11./12. Februar 2005; - der vom Polizeibeamten A. erstellte Informationsbericht vom 12. Februar 2005; - die schriftlichen Stellungnahmen der beiden an der Anhaltung des Beschwerdeführers beteiligten Polizeibeamten; - die schriftlichen Stellungnahmen der weiteren zwei Polizeibeamten, die bei der Anhaltung des Beschwerdeführers nicht anwesend waren, sich mit ihm aber nachher im "Check-In" der Dienststelle befassten; - der ärztliche Bericht von Dr. med. T. vom 16. März 2005; - zwei Fotos, die das verletzte Gesicht und die verletzte Schulter des Beschwerdeführers zeigen; - das Protokoll der polizeilichen Einvernahme des Beschwerdeführers vom 12. Februar 2005.
Aus dem Protokoll der polizeilichen Einvernahme ergibt sich, dass der Beschwerdeführer bereits am Morgen nach dem Vorfall - als er nach seiner starken Alkoholisierung (2,09 Promille) wieder ausgenüchtert war - angab, er sei bei seiner Anhaltung misshandelt worden. Er sagte aus, die Beamten hätten ihn in Handfesseln gelegt und zu Boden geworfen; danach hätten sie ihn geschlagen.
Wie gesagt, sind die Verletzungen des Beschwerdeführers grundsätzlich unbestritten. Zur Frage, wie er sich diese im Einzelnen zugezogen hat, lagen der Anklagekammer lediglich die sich widersprechenden Aussagen des Beschwerdeführers einerseits und der bei der Anhaltung beteiligten beiden Polizeibeamten anderseits vor. Die beiden weiteren Polizeibeamten, die mit dem Beschwerdeführer erst im "Check-In" der Dienststelle zu tun hatten, konnten dazu, was sich bei der Anhaltung abgespielt hatte, keine Angaben machen. Dasselbe gilt für Dr. med. T., der den Beschwerdeführer über einen Monat nach dem Vorfall untersucht hat.
Eine wirksame und vertiefte Untersuchung der Vorwürfe des Beschwerdeführers hat damit nicht stattgefunden. Dazu wäre Folgendes erforderlich gewesen:
Im Informationsbericht vom 12. Februar 2005 führt A. unter anderem aus: "Herr X. versuchte plötzlich, mit Fusstritten meinen Körper zu treffen und beabsichtigte, sich gleichzeitig loszureissen. Dabei kam er zu Fall und schlug mit dem Gesicht auf dem Teerbelag auf. Beim Sturz zog sich Herr X. eine blutende Verletzung im Gesicht zu, weshalb ich via unsere Einsatzzentrale die Ambulanz aufbot. Durch den Lärm gestört, trat ein Anwohner der Liegenschaft N...gasse 56 vor das Haus und beobachtete das Geschehen." Von einem hinzutretenden Anwohner der Liegenschaft N...gasse 56 ist auch in den Stellungnahmen von A. und B. die Rede. Was der Anwohner im Einzelnen beobachtet hat, ergibt sich aus den Akten jedoch nicht. Da der Beschwerdeführer bei der Auseinandersetzung mit der Polizei herumschrie, ist es denkbar, dass der Anwohner hinausgeschaut und gesehen hat, was sich dabei im Einzelnen ereignet hat. Da sein Wohnort bekannt ist, wäre es einfach gewesen, ihn zu ermitteln und als Zeugen zu befragen. Da es bei der Anhaltung lärmig zuging, ist es auch möglich, dass weitere Anwohner den Vorfall beobachtet haben. Dazu wurden keine Ermittlungen getätigt.
Sachdienliche Angaben hätten möglicherweise auch die beiden Sanitäter der Ambulanz machen können. Zwar haben diese die Anhaltung nicht beobachtet. Sie hätten aber gegebenenfalls Angaben machen können, was ihnen der Beschwerdeführer dazu gesagt hat, wie er sich die Verletzungen zugezogen hat.
Das Gleiche gilt für die Ärzte und Krankenschwestern, die den Beschwerdeführer nach der Einlieferung durch die Ambulanz im Kantonsspital St. Gallen behandelt haben. Die Ärzte hätten auch dazu befragt werden können, ob die Verletzungen des Beschwerdeführers mit dem von den Polizeibeamten behaupteten Sturz vereinbar seien. Soweit erforderlich, hätte dazu auch ein kurzes Gutachten eingeholt werden können.
Schliesslich hätten die Unterlagen des Kantonsspitals über die Behandlung des Beschwerdeführers beigezogen werden müssen.
2.2  Da dies alles unterblieben ist, haben die kantonalen Behörden den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine wirksame und vertiefte Untersuchung nach Art. 3 und 13 EMRK verletzt.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die kantonalen Behörden werden eine Untersuchung zu eröffnen haben. Damit werden nach Art. 172 StPO/SG alle sachlichen und persönlichen Umstände abgeklärt, die für das richterliche Urteil oder für die Aufhebung des Verfahrens von Bedeutung sein können. Der Beschwerdeführer hat dabei ein Akteneinsichts- (Art. 174 StPO/SG), ein Teilnahme- (Art. 176 StPO/SG) und ein Antragsrecht (Art. 177 StPO/SG). Damit wird auch der sich aus Art. 13 EMRK ergebende Anspruch auf wirksamen Zugang zum Untersuchungsverfahren gewährleistet.
2.3  Zu unterstreichen ist Folgendes: Die Eröffnung der Untersuchung bedeutet keine Vorverurteilung der betroffenen Polizeibeamten. Diese stehen unter dem Schutz der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK). Es geht einzig darum, dass der vom Beschwerdeführer erhobene Vorwurf gründlich abgeklärt wird.