BGE 140 I 107 - Parlamentswahlrecht Wallis II |
8. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Addor und Mitb. gegen Staatsrat des Kantons Wallis (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_495/2012 vom 12. Februar 2014 |
Art. 34 Abs. 2 BV; Wahlkreisgrösse bei der Wahl eines kantonalen Parlaments im Proporzwahlverfahren. |
Art. 34 Abs. 2 BV; wahlkreisübergreifendes Proporzwahlverfahren. |
Sachverhalt |
Der Staatsrat des Kantons Wallis fasste am 22. August 2012 den Beschluss, der die Zahl der von jedem Bezirk für die Legislaturperiode 2013-2017 zu wählenden Abgeordneten für den Grossen Rat festsetzt (Amtsblatt des Kantons Wallis vom 31. August 2012). Danach wird die Verteilung der 130 Abgeordneten-Sitze für die bevorstehende Legislaturperiode wie folgt festgelegt:
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Bezirk, Schweizer Wohnbevölkerung, Zuteilung Goms, 4'168, 2 Östlich Raron, 2'751, 2 Brig, 21'853, 12 Visp, 22'336, 12 Westlich Raron, 7'313, 4 Leuk, 10'601, 6 Siders, 33'099, 17 Ering, 9'416, 5 Sitten, 32'757, 17 Gundis, 19'363, 10 Martinach, 31'065, 16 Entremont, 11'369, 6 St-Maurice, 9'928, 5 Monthey, 30'991, 16 Total, 247'010, 130 |
Gegen den Beschluss des Staatsrats haben mehrere im Kanton Wallis stimm- und wahlberechtigte Personen am 1. Oktober 2012 gemeinsam Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht erhoben. Sie stellen die Anträge, es sei gerichtlich festzustellen, dass das Proporzwahlverfahren des Kantons Wallis für die Wahl des Grossen Rats vor der Bundesverfassung nicht standhalte, und die zuständigen Behörden des Kantons Wallis seien im Sinne eines Appellentscheids aufzufordern, im Hinblick auf die nächste Wahl des Grossen Rats eine verfassungskonforme Wahlordnung zu schaffen.
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Entscheid |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Es stellt fest, dass das Proporzwahlverfahren des Kantons Wallis für die Wahl des Grossen Rats vor der Bundesverfassung nicht standhält.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 4 |
Seit diesem Entscheid hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung zur Vereinbarkeit von kantonalen Proporzwahlen mit Art. 34 Abs. 2 BV weiterentwickelt. Gemäss seiner jüngeren Rechtsprechung ist bei der Prüfung der Frage, ob Gründe überkommener Gebietsorganisation ausnahmsweise Wahlkreise mit einem natürlichen Quorum von über 10 % rechtfertigen, zu berücksichtigen, dass es Möglichkeiten gibt, im Sinne eines Minderheitenschutzes an kleinen Wahlkreisen festzuhalten und dennoch eine relativ genaue Abbildung der Parteistärke im Parlament zu gewährleisten. Zu denken ist namentlich an die Schaffung von Wahlkreisverbänden sowie an die Methode "Doppelter Pukelsheim". Entsprechende Verfahren haben sich in den letzten Jahren in verschiedenen Kantonen etabliert und bewährt. Wird nach diesen Methoden vorgegangen, so kann auch in kleinen Wahlkreisen im Sinne eines Minderheitenschutzes eine angemessene Vertretung im Parlament garantiert werden (BGE 139 I 195 E. 3.1 S. 202 f.; BGE 136 I 352 E. 5.1 S. 363, BGE 136 I 376 E. 4.6 S. 383 f.; Urteil 1C_407/2011 etc. vom 19. März 2012 E. 5.6; je mit Hinweisen). Macht ein Kanton von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch, lassen sich im Proporzwahlverfahren jedenfalls Wahlkreise, die gemessen am Leitwert eines grundsätzlich noch zulässigen natürlichen Quorums von 10 % deutlich zu klein sind, selbst dann nicht mehr rechtfertigen, wenn gewichtige historische, föderalistische, kulturelle, sprachliche oder religiöse Gründe für die Wahlkreiseinteilung bestehen (vgl. BGE 136 I 376 E. 4.7 S. 384 f. sowie Urteil 1C_407/2011 etc. vom 19. März 2012 E. 5.6.).
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Unter diesen Umständen braucht nicht weiter darauf eingegangen zu werden, ob den Walliser Bezirken noch die gleiche Bedeutung zukommt wie im Jahr 2004 oder ob sie - wie die Beschwerdeführer vorbringen - in den letzten Jahren an Identität eingebüsst haben. Immerhin ist diesbezüglich darauf hinzuweisen, dass heute im Unterschied zu früher politische Bestrebungen bestehen, die Bezirke als institutionelle und räumliche Einheiten auf Verfassungsebene abzuschaffen, da ihre Beibehaltung mit der modernen Zeit, der allgemeinen Mobilität oder der Wirtschaftsentwicklung nicht mehr im Einklang stehe (vgl. R21-Bericht der ausserparlamentarischen Kommission vom 3. Oktober 2012, S. 27 ff. sowie Botschaft des Staatsrats zur Volksinitiative "Jede Stimme zählt" vom 10. April 2013, S. 7 f.). Der Staatsrat hat sich im Hinblick auf eine mögliche Reform der Kantonsverfassung sodann kürzlich dahingehend geäussert, dass es sich in Berücksichtigung der gewünschten Stärkung der Gemeinden nicht rechtfertige, eine Zwischenstruktur zwischen dem Kanton und den Gemeinden in die revidierte Verfassung aufzunehmen, zumal schwer vorstellbar sei, welche Aufgaben einem solchen Organismus noch zu übertragen seien (Botschaft des Staatsrats betreffend die Zweckmässigkeit der Revision der Artikel 26, 27, 36-59, 66-92 der Kantonsverfassung betreffend die territoriale Organisation und die Institutionen vom 5. Juni 2013, S. 10).
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Erwägung 5 |
In seinem Urteil 1C_407/2011 etc. vom 19. März 2012 hat das Bundesgericht allerdings darauf hingewiesen, dass es im Anwendungsfall auch Wahlverfahren überprüft, deren Modalitäten bereits weitgehend in der von der Bundesversammlung seinerzeit gewährleisteten Kantonsverfassung festgelegt sind. Ausserdem hat es zum Ausdruck gebracht, dass der kantonale Gesetzgeber Bestimmungen der Kantonsverfassung, welche das Verfahren von kantonalen Parlamentswahlen betreffen, bundesverfassungskonform anzuwenden hat (a.a.O., E. 3 und 5.6). Weil das Bundesgericht seine Rechtsprechung zu Art. 34 Abs. 2 BV in den letzten Jahren weiterentwickelt hat, sind kantonale Verfassungsbestimmungen zum Proporzwahlverfahren von den kantonalen Behörden unter Umständen differenzierter umzusetzen als früher. Bekennt sich ein Kanton zum Proporzwahlverfahren, obliegt es dem kantonalen Gesetzgeber, im Rahmen der Kantonsverfassung die für eine echte Proporzwahl erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen und den ihm von der Kantonsverfassung eingeräumten Gestaltungsspielraum im Sinne des Proporzgedankens zu nutzen (vgl. BGE 136 I 352 E. 5.1 S. 363, BGE 136 I 376 E. 4.6 ff. S. 383 ff. sowie Botschaft des Bundesrats vom 15. August 2012 zur Gewährleistung der Verfassung des Kantons Schwyz, BBl 2012 7913 ff., 7915 ff. Ziff. 4).
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5.2 Die Verfassung des Kantons Wallis bekennt sich für die Wahl des Grossen Rats zum Proporzverfahren und überlässt die Detailregelung ausdrücklich dem Gesetzgeber. Sie legt zwar für den Gesetzgeber verbindlich fest, dass die Bezirke und Halbbezirke die Wahlkreise darstellen. Der Wortlaut der Kantonsverfassung steht aber einem Wahlverfahren, das den Proporzgedanken auf das ganze Kantonsgebiet bezieht, nicht entgegen, sofern die Bezirke und Halbbezirke als Wahlkreise beibehalten werden. Wie bereits erwähnt, bestehen verschiedene Möglichkeiten, eine auf das ganze Kantonsgebiet bezogene echte Proporzwahl zu verwirklichen und gleichzeitig an den Bezirken und Halbbezirken als Wahlkreise festzuhalten (vgl. E. 4.1 hiervor). Ein entsprechendes Wahlverfahren lässt sich im Rahmen der bundesverfassungskonform ausgelegten Kantonsverfassung auf Gesetzesebene umsetzen. Demzufolge können sich die Behörden des Kantons Wallis nicht (mehr) darauf berufen, die Kantonsverfassung schreibe lediglich einen Bezirksproporz vor. Es obliegt dem Walliser Gesetzgeber, im Rahmen der bundesverfassungskonform ausgelegten Kantonsverfassung die für eine auf das ganze Kantonsgebiet bezogene und mit Art. 34 Abs. 2 BV vereinbare Proporzwahl erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen. Anzufügen ist, dass eine Stärkung des Proporzgedankens auch durch eine Wahlkreisreform auf Verfassungsstufe erreicht werden könnte (vgl. auch die Vorschläge im R21-Bericht, a.a.O., S. 72 ff.).
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