BGE 146 I 30
 
4. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Arbeitsgericht Zürich, 3. Abteilung (Beschwerde in Zivilsachen)
 
4A_179/2019 vom 24. September 2019
 
Regeste
Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 54 ZPO; Justizöffentlichkeit; Zivilprozess.
 
Sachverhalt
A. In einem Forderungsprozess vor dem Arbeitsgericht Zürich zwischen der Tochtergesellschaft einer schweizerischen Grossbank und einer ehemaligen Arbeitnehmerin derselben (Geschäfts-Nr. AN180042-L) war A. (Beschwerdeführerin) als akkreditierte Gerichtsberichterstatterin an der Hauptverhandlung vom 15. November 2018 anwesend, wurde aber von der Teilnahme an der anschliessenden Vergleichsverhandlung ausgeschlossen. Mit Eingabe vom 29. November 2018 verlangte A. eine anfechtbare Verfügung betreffend ihren "Ausschluss aus der Hauptverhandlung" und "die verweigerten Informationen bezüglich allfälliger Beendigung des Verfahrens oder bezüglich der weiteren Schritte im Verfahren". In der Folge eröffnete das Arbeitsgericht den Parteien und A. den folgenden Beschluss, datiert vom 15. November 2018:
    "Gerichtsberichterstatterin A. wird von der Teilnahme an der Vergleichsverhandlung im vorliegenden Verfahren ausgeschlossen."
Diesen Beschluss focht A. mit Beschwerde beim Obergericht des Kantons Zürich an, wobei sie die folgenden Anträge stellte:
    "1. Es sei festzustellen, dass der Ausschluss der Beschwerdeführerin aus der Hauptverhandlung vom 15. November 2018 (AN180042) rechtswidrig war [...].
    2. Es sei anzuordnen, dass die Beschwerdeführerin darüber informiert wird, ob das Verfahren AN180042 beendet worden ist und in welcher Form."
Mit Urteil vom 6. März 2019 wies das Obergericht die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. Es erwog, Vergleichsverhandlungen seien generell nicht öffentlich, weshalb A. als Gerichtsberichterstatterin keinen Anspruch gehabt habe, an derjenigen vom 15. November 2018 vor dem Arbeitsgericht teilzunehmen. Zum Antrag auf Information über die Beendigung des Verfahrens führte das Obergericht aus, hierzu liege noch kein anfechtbarer Entscheid vor.
B. A. verlangt mit Beschwerde in Zivilsachen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass ihr Ausschluss von der Hauptverhandlung vom 15. November 2018 rechtswidrig gewesen sei. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)
 
Aus den Erwägungen:
2.1 Gemäss Art. 30 Abs. 3 BV sind Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung öffentlich. Das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verleiht diese Bestimmung kein Recht auf eine mündliche Verhandlung, sondern garantiert einzig, dass, wenn eine Gerichtsverhandlung stattzufinden hat, diese - von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen - öffentlich sein muss (BGE 128 I 288 E. 2.3-2.6). Laut Art. 54 ZPO, der den verfassungsmässigen Grundsatz für das Zivilverfahren konkretisiert (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7274 zu Art. 52), sind Verhandlungen und eine allfällige mündliche Eröffnung des Entscheids öffentlich. Die Entscheide werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (Abs. 1). Ob die Urteilsberatung öffentlich ist, wie im Entwurf des Bundesrats noch vorgesehen war, bestimmt das kantonale Recht (Abs. 2). Die Öffentlichkeit kann ganz oder teilweise ausgeschlossen werden, wenn es das öffentliche Interesse oder das schutzwürdige Interesse einer beteiligten Person erfordert (Abs. 3). Familienrechtliche Verfahren sind nicht öffentlich (Abs. 4). Ferner sieht Art. 203 Abs. 3 Satz 1 ZPO ausdrücklich vor, dass die Verhandlung im Schlichtungsverfahren nicht öffentlich ist.
2.2 Die Justizöffentlichkeit, die abgesehen von Art. 30 Abs. 3 BV auch in Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II (SR 0.103.2) verankert ist, dient einerseits dem Schutze der direkt an gerichtlichen Verfahren beteiligten Parteien im Hinblick auf deren korrekte Behandlung und gesetzmässige Beurteilung. Andererseits ermöglicht sie auch nicht verfahrensbeteiligten Dritten, nachzuvollziehen, wie gerichtliche Verfahren geführt werden, das Recht verwaltet und die Rechtspflege ausgeübt wird, und liegt insoweit auch im öffentlichen Interesse. Sie will für Transparenz der Rechtsprechung sorgen und die Grundlage für das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit schaffen. Die demokratische Kontrolle durch die Rechtsgemeinschaft soll Spekulationen begegnen, die Justiz benachteilige oder privilegiere einzelne Prozessparteien ungebührlich oder die Ermittlungen würden einseitig und rechtsstaatlich fragwürdig geführt (BGE 143 I 194 E. 3.1 S. 197 f.; BGE 139 I 129 E. 3.3 S. 133; BGE 133 I 106 E. 8.1 S. 107; je mit weiteren Hinweisen).
Die Medien übernehmen mit ihrer Gerichtsberichterstattung insofern eine wichtige Brückenfunktion, als sie die richterliche Tätigkeit einem grösseren Publikum zugänglich machen (BGE 141 I 211 E. 3.3.1.1; BGE 129 III 529 E. 3.2). Im Ausmass der garantierten Justizöffentlichkeit bilden Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung öffentlich zugängliche Quellen im Sinne der Informationsfreiheit gemäss Art. 16 Abs. 3 BV. Zudem greift ein Ausschluss der Gerichtsberichterstatterinnen und -erstatter in die Medienfreiheit nach Art. 17 BV ein (BGE 143 I 194 E. 3.1 S. 200 mit Hinweisen).
2.3 In der Literatur zu Art. 30 Abs. 3 BV ist anerkannt, dass der Grundsatz der Justizöffentlichkeit nicht in allen Verfahrensabschnitten gilt. Vielmehr bezieht sich der Begriff der Gerichtsverhandlung nach allgemeiner Auffassung "einzig auf die Verhandlung, in der die Parteien einander bzw. dem Gericht gegenüberstehen" und "Einvernahmen vorgenommen, Beweise abgenommen und Plädoyers gehalten werden" (RHINOW UND ANDERE, Öffentliches Prozessrecht, 3. Aufl. 2014, S. 173 Rz. 558; STEINMANN, in: Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 51 zu Art. 30 BV), also auf "die Haupt- bzw. Parteiverhandlung im eigentlichen Erkenntnisverfahren" (REICH, in: Basler Kommentar, Bundesverfassung, 2015, N. 47 zu Art. 30 BV; siehe auch MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 968 f.). Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang ausserdem, dass auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf diejenigen Verfahrensphasen beschränkt bleibt, "die auf die unmittelbare Entscheidung der Streitigkeit über ein Recht [...] ausgerichtet sind" (so ausdrücklich MEYER, in: Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Kommentar, Karpenstein/ Mayer [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 21 zu Art. 6 EMRK; siehe auch GRABENWARTER, European Convention on Human Rights, commentary, 2014, N. 13-15 zu Art. 6 EMRK; je mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR).
Ausgehend vom dargestellten Verständnis des Verfassungsgrundsatzes gemäss Art. 30 Abs. 3 BV wird im Schrifttum zu Art. 54 ZPO einhellig angenommen, der Öffentlichkeit seien ausschliesslich Verfahrensabschnitte zugänglich, die "Grundlage zur Erledigung der Streitsache durch ein Urteil" bildeten. Nicht öffentlich seien demgegenüber solche, die wie Vergleichsverhandlungen lediglich auf die gütliche Erledigung der Streitsachen zwischen den Parteien abzielten und deren Wesen die Gegenwart unbeteiligter Dritter widerspräche (so etwa HURNI, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 10 zu Art. 54 ZPO; SCHENKER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Baker & McKenzie [Hrsg.], 2010, N. 3 zu Art. 54 ZPO; beide unter Hinweis auf HAUSER/SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz vom 13. Juni 1976 mit den seitherigen Änderungen, 2002, N. 27 zu § 135 GVG; siehe ferner OBERHAMMER, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 54 ZPO; TREZZINI, in: Commentario pratico al Codice di diritto processuale civile svizzero [CPC], Bd. I, 2. Aufl. 2017, N. 5 zu Art. 54 ZPO; vgl. auch GASSER/RICKLI, Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], 2. Aufl. 2014, N. 9 zu Art. 54 ZPO; SENEL, Das handelsgerichtliche Verfahren nach der neuen Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2011, S. 132-135). Diese Auffassung hat sich denn auch die Vorinstanz zu eigen gemacht.
Vergleichsgespräche haben die einvernehmliche Beilegung des Streits zum Ziel, der Gegenstand des Zivilprozesses bildet. Das Gericht vermittelt dabei zwischen den Parteien, wobei es mit Zurückhaltung und unter dem Vorbehalt der förmlichen Streitentscheidung eine vorläufige Einschätzung der Sach- und Rechtslage zum Ausdruck bringen darf (BGE 134 I 238 E. 2.4; Urteile 4A_424/2012 vom 19. September 2012 E. 3.2.2; 4A_306/2011 vom 19. Januar 2012 E. 3.2; 5A_895/ 2010 vom 21. Februar 2011 E. 3). Sind die Vergleichsgespräche erfolgreich, wird das Verfahren ohne gerichtlichen Entscheid erledigt (siehe Art. 241 ZPO). Demnach stellen die Vergleichsgespräche keinen Schritt auf dem Weg zur gerichtlichen Entscheidung über den Streitgegenstand dar, zumal - wie die Vorinstanz zu Recht bemerkt hat - ihr Inhalt nicht protokolliert wird und einem allfälligen Entscheid des Gerichts nicht zugrunde gelegt werden darf (so etwa LEVI, Der Richter als Vermittler, SJZ 63/1967 S. 255; SCHMID, Vergleichsverhandlungen vor dem Zürcher Handelsgericht, in: Handelsgericht Zürich 1866-2016, Festschrift zum 150. Jubiläum, 2016, S. 248 und 250 f.; vgl. zur Handhabung an den kantonalen Gerichten SCHWEIZER, Praxis der Vergleichsverhandlung, Justice - Justiz - Giustizia 2018/4 Rz. 9 und 16). In diesem Sinne stehen sie ausserhalb des - auf die gerichtliche Streitentscheidung ausgerichteten - Erkenntnisverfahrens (siehe KÖLZ, Einzelgespräche an gerichtlichen Vergleichsverhandlungen im Zivilprozess, ZZZ 2016 S. 231 und 238). Dementsprechend setzen sie denn auch stets das Einverständnis der Parteien voraus (BGE 134 I 238 E. 2.4 S. 244), sind also freiwillig.
Soweit sich die Vergleichsgespräche in diesem Rahmen halten, handelt es sich dabei nicht um rechtsprechende Tätigkeit des Gerichts, deren Transparenz Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 54 Abs. 1 ZPO gewährleisten. Die Bemühungen des Gerichts, zwischen den Parteien zu vermitteln, gelten nicht als Gerichtsverhandlung respektive Verhandlung und unterstehen nicht dem Grundsatz der Justizöffentlichkeit. Dass es für die Öffentlichkeit interessant sein könnte, die anlässlich der Vergleichsgespräche vom 15. November 2018 möglicherweise unpräjudiziell geäusserte Beurteilung durch die Gerichtsvorsitzende zu kennen, wie die Beschwerdeführerin geltend macht, vermag den Geltungsbereich des Öffentlichkeitsgrundsatzes nicht auf diesen Verfahrensabschnitt zu erweitern, in dem von vornherein nicht über die Streitigkeit entschieden werden darf (vgl. MÜLLER/ SCHEFER, a.a.O., S. 968). Somit ist es nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht keine auf den vorliegenden Fall bezogene Abwägung zwischen den Interessen der Öffentlichkeit und denjenigen der Prozessparteien vorgenommen hat.