BGE 75 II 329 - Beamtenrechtliche Treuepflicht
 
46. Auszug aus dem Urteil der staatsrechtlichen Kammer
vom 7. Dezember 1949 i. S. Ammann gegen Kanton Aargau.
 
Regeste
Kantonales Beamtenrecht. Treuepflicht und politische Betätigung des Beamten. Die Entlassung aus wichtigem Grund analog Art. 352 OR kann nur unverzüglich nach Bekanntwerden des Grundes ausgesprochen werden.
 
Sachverhalt
Dr. phil. Hektor Ammann wurde vom Regierungsrat des Kantons Aargau im Jahre 1929 als Staatsarchivar und Kantonsbibliothekar gewählt und seither alle vier Jahre in diesen Ämtern vorbehaltlos bestätigt, letztmals am 3.Juli 1945 für die Zeit vom 1. April 1945 bis 31. März 1949.
Ende 1945 und anfangs 1946 wurde Dr. Ammann in der Presse heftig angegriffen wegen der Rolle, die er 1940 als Unterzeichner der "Eingabe der 200" gespielt hatte. Am 10. Januar 1946 wurde im Grossen Rat des Kantons Aargau eine Interpellation eingereicht, mit der die Regierung angefragt wurde, ob sie nicht dafür halte, dass Dr. Ammann als Staatsangestellter unmöglich geworden sei. Der Regierungsrat beauftragte daraufhin den Staatsanwalt Dr. Real mit der Durchführung einer administrativen Untersuchung gegen Dr. Ammann zwecks Abklärung seiner politischen Betätigung und beschloss gestützt auf das Untersuchungsergebnis am 29. August 1946, Dr. Ammann auf den 1. September aus dem Amte und aus dem Dienste des Staates zu entlassen mit der Begründung, dass in seiner politischen Betätigung in einer für das Land höchst kritischen Zeit eine geistige Untreue gegenüber dem Staate und eine Dienstpflichtverletzung liege und er daher in der verantwortungsvollen Stellung als Staatsarchivar und Kantonsarchivar nicht mehr tragbar sei.
Nachdem das Bundesgericht das Eintreten auf eine gegen diesen Beschluss erhobene staatsrechtliche Beschwerde abgelehnt hatte, soweit sie nicht durch eine Erklärung des Regierungsrates gegenstandslos geworden war (BGE 72 I 288 ff.), reichte Dr. Ammann beim Bundesgericht eine Klage gegen den Kanton Aargau ein, mit der er u.a. die gesetzliche Besoldung vom Entlassungstag bis zum Ablauf der Amtsperiode am 31. März 1949 verlangte.
Das Bundesgericht hat die Klage in diesem Umfange geschützt.
 
Aus den Erwägungen:
Der Beamte tritt durch seine Ernennung in ein besonderes Gewaltverhältnis zum Staat, auf Grund dessen er nicht nur die Pflicht zur gewissenhaften Erfüllung seiner dienstlichen Obliegenheiten, sondern eine allgemeine, sich auch auf das ausserdienstliche Verhalten erstreckende Treuepflicht übernimmt. Nach schweizerischer Auffassung geniesst zwar der Beamte in Bezug auf sein Privatleben im allgemeinen wie auch in Bezug auf die Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte insbesondere weitgehende Freiheit. Eine Schranke besteht aber jedenfalls in dem Sinne, dass der Beamte nicht durch sein Verhalten die Achtung und das Vertrauen aufs Spiel setzen darf, die seine amtliche Stellung erfordert. Das wird in Art. 24 Abs. 1 des eidg. Beamtengesetzes ausdrücklich gesagt, muss aber auch für das kantonale Beamtenrecht gelten, gleichgültig, ob dieses eine dahingehende Vorschrift enthält oder nicht. Was insbesondere die politische Einstellung und Tätigkeit des Beamten betrifft, so kann auf die in BGE 65 I 244 enthaltenen Ausführungen verwiesen werden, von denen abzugehen kein Anlass besteht. Danach darf zwar nicht verlangt werden, dass der Beamte die politischen Ansichten derjenigen Parteien teile, die in Parlament und Regierung die Mehrheit haben, noch dass er jede Kritik am Staat und seinen Einrichtungen und Zuständen unterlasse; dagegen soll der Beamte zur Grundlage des Staates, zu dem den Mitbürgern gemeinsamen politischen Gedankengut positiv eingestellt sein. Ein der demokratischen Staatsform gänzlich entfremdeter Beamter geniesst, zumal wenn er sich in hoher, verantwortungsvoller Stellung befindet, das Vertrauen nicht mehr, das ihm von den Vorgesetzten und Untergegeben sowie von den Mitbürgern entgegengebracht werden muss.
Der Beklagte behauptet nun, der Kläger habe durch seine politische Haltung und Betätigung eine derart unschweizerische Gesinnung bekundet, dass dem Regierungsrat als Wahlbehörde die weitere Belassung des Klägers in der angesehenen und verantwortungsvollen Stellung eines Staatsarchivars und Kantonsbibliothekars nach Treu und Glauben nicht mehr zugemutet werden könne. Beim Entscheid darüber können jedoch nicht alle gegen den Kläger erhobenen und im vorliegenden Verfahren bewiesenen Vorwürfe berücksichtigt werden. Wenn in analoger Anwendung von Art. 352 OR auch beim öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis die Auflösung aus wichtigen Gründen zulässig sein soll (was nach aargauischem Recht zweifelhaft ist), so jedenfalls nur unter den gleichen Voraussetzungen wie beim privaten Dienstvertrag. Dazu gehört vor allem, dass das Dienstverhältnis unverzüglich nach Bekanntwerden des wichtigen Grundes aufgelöst wird; längeres Zuwarten zeigt, dass die Fortsetzung des Dienstverhältnisses nicht unzumutbar ist, und gilt daher als Verzicht auf die Geltendmachung des wichtigen Grundes (OSER-SCHÖNENBERGER N. 15 und BECKER N. 43 zu Art. 352 OR). Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass die politische Einstellung und Betätigung des Klägers nur insoweit als Entlassungsgrund berücksichtigt werden kann, als sie dem Regierungsrat erst durch die zur Entlassung führende Disziplinaruntersuchung bekannt geworden ist; was dem Regierungsrat schon früher, insbesondere bei den vorbehaltslosen Wiederwahlen von 1941 und 1945 bekannt gewesen ist, kann nicht mehr als Entlassungsgrund herangezogen, sondern lediglich bei der Würdigung der politischen Gesamthaltung des Klägers und der rechtzeitig geltend gemachten Entlassungsgründe berücksichtigt werden. Alle gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe sind daher nicht nur auf ihre Begründetheit zu prüfen, sondern auch daraufhin, ob und in welchem Umfange die ihnen zugrunde liegenden Tatsachen dem Regierungsrate bereits bei den letzten Wiederwahlen bekannt waren. Dabei liegt der Beweis dafür, dass eine Tatsache schon früher bekannt war, dem Kläger ob; soweit dieser Beweis für eine Tatsache nicht erbracht ist, muss angenommen werden, dass der Regierungsrat davon erst durch die Disziplinaruntersuchung Kenntnis erhalten hat.