BGE 80 II 1
 
1. Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. April 1954 i. S. Bopp gegen Bopp.
 
Regeste
Ehescheidung, tiefe Zerrüttung; Art. 142 Abs. 2 ZGB.
 
Sachverhalt
A.- Ein erstes Urteil des Bezirksgerichts Horgen auf Trennung der 1933 geschlossenen Ehe der Parteien wurde vom Obergericht Zürich 1948 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen. Anstelle der wiederum ausgesprochenen Trennung wies das Obergericht die Klage wegen vorwiegenden Verschuldens des Klägers an der Zerrüttung ab, und das Bundesgericht bestätigte am 14. September 1949 in Abweisung der Berufung des Klägers dieses Urteil.
Eine am 3. Dezember 1952 vom Ehemanne eingeleitete neue Scheidungsklage wurde wiederum vom Bezirksgericht gutgeheissen, jedoch auf Appellation der Beklagten vom Obergericht abgewiesen. Es geht von den Urteilen im früheren Prozesse aus, nach denen damals das Verschulden deutlich auf Seite des Klägers gelegen habe. Seither sei die Beklagte immer zur Versöhnung und Wiedervereinigung bereit gewesen und dem Manne zugetan geblieben. Angesichts der Behauptung des Klägers, eine Rückkehr zur Frau sei ihm psychisch schlechterdings unmöglich, liess die Vorinstanz beide Eheleute hinsichtlich ihres psychischen Zustandes und namentlich ihrer gegenseitigen Einstellung psychiatrisch begutachten. Auf Grund dieser Expertise bezeichnet die Vorinstanz die psychologische Situation der Ehegatten als hinlänglich abgeklärt. Die Beklagte leide unter der tatsächlich vorhandenen Zerrüttung schwer und befinde sich deswegen in einem ans Krankhafte grenzenden Zustande. Sie hänge am Manne und an der Ehe und sei gewillt, durch Wiederaufnahme der Gemeinschaft zur Lösung des Zerwürfnisses beizutragen. Allerdings seien die Parteien verschieden veranlagt. Verschiedenheit, ja Unvereinbarkeit der Charaktere könne jedoch nicht ohne weiteres als objektive Zerrüttungsursache anerkannt werden (BGE 72 II 402, BGE 74 II 66, BGE 77 II 204 ff.). In casu handle es sich um Charaktereigenschaften, die willensmässig im Sinne der Anpassung beeinflusst und korrigiert werden können. Dass diese charakterlichen, objektiven Faktoren nicht unüberwindbar und ausschlaggebend gewesen seien, zeige der jahrelange gute Verlauf der Ehe. Der Kläger hätte die Schwierigkeiten aus der bei ihm vorhandenen, auf Erziehungsstörungen zurückgehenden seelischen Unausgeglichenheit mit gutem Willen meistern können. Für den Eintritt der Krise erst nach Jahren sei sein bezügliches Versagen allein verantwortlich. Während die Beklagte sich als Hausfrau und Mutter untadelig gehalten, habe der Mann sich von ihr wegentwickelt, sich über sie zu erheben angefangen, sie und die Kinder vernachlässigt, die persönlichen Beziehungen zur Familie verkümmern lassen, sie viel allein gelassen, ja tyrannisiert. Eine daherige Verbitterung und gelegentliche scharfe Reaktion seitens der Frau sei begreiflich und könne ihr nicht zu erheblichem Verschulden angerechnet werden. Bei diesem Sachverhalt dränge sich dem Gericht wiederum die Feststellung auf, dass die unheilvolle Entwicklung der Ehe in der Hauptsache in der späteren verfehlten Einstellung des Klägers gegenüber Frau und Kindern liege, die ihm zum Verschulden gereiche. Dieses übertreffe an ursächlicher Bedeutung die übrigen Zerrüttungsfaktoren, weshalb seiner Klage Art. 142 Abs. 2 ZGB entgegenstehe. An dieser Beurteilung ändere nichts, dass sich der Kläger heute allerdings in einem seelisch kranken Zustande befinde, von dem er sich nur schwer befreien könnte, den er aber im Verlaufe vieler Jahre selber herbeigeführt habe, eben durch seine ungerechtfertigte, überhebliche Abwendung von der Familie. Nach Abweisung seiner früheren Scheidungsklage hätte er nicht weiterhin in seiner Trotzeinstellung verharren und sich der Familie entziehen dürfen. Dass es mit ihm bis zum heutigen Zustande krankhafter Verstrickung kam, sei und bleibe zu einem wesentlichen Teil sein Verschulden. Die Klage müsse daher ohne Rücksicht darauf, ob auf eine Wiedergesundung der Ehe praktisch Aussicht bestehe, abgewiesen werden. Der Verweisung des Klägers auf seinen seelischen Zustand sei entgegenzuhalten, dass die Beklagte unter dem Zerwürfnis kaum weniger leide als er. Da sie praktisch schuldlos sei, müsse auf ihren Zustand mindestens so sehr Rücksicht genommen werden wie auf den seinigen. Es stelle sich daher nicht nur die Frage, ob dem Kläger die Fortsetzung, sondern auch, ob der Beklagten die Scheidung der Ehe zuzumuten sei; letzteres sei angesichts der Verschuldenslage - und unabhängig von der Frage der objektiven Wünschbarkeit der Aufrechterhaltung der Ehe - zu verneinen. Das Festhalten der Frau an der Ehe stelle keinen Rechtsmissbrauch dar.
B.- Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung des Klägers mit dem Antrag auf Scheidung der Ehe mit den Nebenfolgen gemäss dem bezirksgerichtlichen Entscheid. Zur Begründung wird ausgeführt, dass das Urteil Art. 142, insbesondere Abs. 2, ZGB irrtümlich auslege bezw. daraus sich ergebende Rechtssätze in concreto nicht richtig anwende und den Tatbestand in rechtlicher Beziehung unrichtig würdige. Die Vorinstanz mute dem Kläger allzu apodiktisch in der Art eines Kant'schen kategorischen Imperativs auf viele Jahre zurück eine willensmässige Lenkung seines psychischen Verhaltens zu, die über menschliches Vermögen hinausgehe. Es könne ihm nicht heute als relevantes Verschulden angerechnet werden, dass er die aus innerer Notwendigkeit folgende Entwicklung seines Charakters vor Jahren nicht so zu steuern vermocht habe, wie es wünschbar gewesen wäre. Die Ehe sei objektiv tief zerrüttet, eine Wiedergesundung derselben ausgeschlossen, und, wie die Vorinstanz durchblicken lasse, deren Aufrechterhaltung nicht einmal wünschenswert.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Hinsichtlich der Erforschung der Entwicklung des ehelichen Verhältnisses, des heutigen seelischen Zustandes der Parteien mit Bezug auf dasselbe und der ursächlichen Rolle der einzelnen Faktoren für die Entstehung der vorliegenden Zerrüttung hat die Vorinstanz alles getan, was ein einsichtiger und gewissenhafter Richter tun kann, namentlich auch sich bemüht, bei der Erfassung des krisenhaften Verlaufs der Ehe nicht an Äusserlichkeiten haften zu bleiben, sondern die Vorgänge als im wesentlichen psychologischer Natur zu begreifen und darzustellen. Soweit es sich bei den gewonnenen Ergebnissen um Feststellungen und Annahmen tatsächlicher Art handelt - wozu auch solche über innere, seelische Vorgänge sowie über das Verhältnis von Ursache und Wirkung (Kausalität) auf diesem Gebiete gehören (BGE 69 II 355 u.a.) -, ist das Bundesgericht an die Beurteilung der kantonalen Instanz gebunden. Soweit aber seiner Überprüfung unterliegende Rechtsfragen in Betracht kommen, namentlich mit Bezug auf die Anrechenbarkeit des kausalen fehlerhaften Verhaltens des Klägers als Verschulden im Sinne von Art. 142 Abs. 2 ZGB, wirft die Berufung der Vorinstanz zu Unrecht eine unrichtige Auslegung und Anwendung dieser Gesetzesbestimmung vor. Die Vorinstanz hat die Gesamtheit der Grundsätze und Gesichtspunkte berücksichtigt, die das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung bezüglich des Klagausschliessungsgrundes des Art. 142 Abs. 2 herausgearbeitet hat. Im besonderen kann die Berufungsinstanz ihre Auffassung nicht als unrichtig revidieren, wonach das für die Zerrüttung kausale Verschulden des Klägers nicht dadurch neutralisiert bezw. aufgehoben wird, dass sich die von ihm herrührende Aversion des Klägers gegen die Beklagte bei ersterem schliesslich bis zur tatsächlichen Unüberwindlichkeit neurotisch fixiert hat.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, vom 12. Januar 1954 bestätigt.