BGE 82 II 268
 
39. Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Juli 1956 i.S. H. c. Sch.
 
Regeste
Vaterschaftsklage; Art. 315 ZGB.
 
Sachverhalt
A.- H. gebar am 3. Juli 1954 ausserehelich den Knaben M. Vom Juli 1953 an und dann während der kritischen Zeit (6. Sept. 1953 - 4. Jan. 1954) hatte sie, damals 18 1/2 Jahre alt, wiederholt Geschlechtsverkehr mit dem um 5 Jahre älteren Sch. Sowohl das Bezirksgericht Arbon als das Obergericht des Kantons Thurgau (Urteil vom 5. April 1956) haben die vom Beklagten erhobene Einrede aus Art. 315 ZGB geschützt und die Vaterschaftsklage abgewiesen. Die Annahme unzüchtigen Lebenswandels der Klägerin gründen die Vorinstanzen auf folgende, für das Bundesgericht verbindlich festgestellte Tatsachen:
a) Im Juli 1953 nahm die Kindsmutter nach einem Tanzanlass im Hotel B. in A. ihren Liebhaber Sch. (den Beklagten) und ein zweites Paar (ihre Freundin W. und deren Begleiter, von dem nur der Vorname R. bekannt ist) mit nach Hause, wo die vier im Schlafzimmer der in den Ferien abwesenden Eltern paarweise in den zwei Betten übernachteten und wiederholt geschlechtlich verkehrten.
b) Einige Wochen später, in der Nacht vom 15. auf den 16. August 1953 nahm die Kindsmutter nach dem gemeinsamen Besuch des Seenachtfestes in R. ihren Liebhaber Sch. und einen Bekannten desselben, S., den sie erst an diesem Abend kennengelernt hatte, ins elterliche Schlafzimmer mit, wo sie mit Sch. im einen, S. im andern Bett nächtigten; dabei vollzog sie mit Sch. wiederholt den Geschlechtsverkehr, was S. im andern Bett hören und (in der Morgendämmerung) sehen konnte.
c) Am Morgen nach dieser Nacht (16. August 1953), als sich Sch. zu einer Besorgung für etwa eine halbe Stunde aus der Wohnung H. entfernte, kam es - wie die Vorinstanz angesichts der Behauptung des S. und trotz der Bestreitung der Klägerin verbindlich feststellt - im Wohnzimmer auf dem Sofa zwischen der Klägerin und S. zum Coitus, wobei sich erstere besonders indezent und initiativ benahm.
In ihrer Würdigung kommt die Vorinstanz zum Schlusse, bei diesen Fällen von Geschlechtsverkehr in Anwesenheit Dritter seien die in einigen früheren Urteilen vom Bundesgericht angenommenen Entschuldigungsgründe nicht gegeben. Weder hätten die Drittpersonen geschlafen oder sonst nichts gemerkt, noch habe für die Parteien irgendwelche Notwendigkeit bestanden, jene überhaupt im gleichen Schlafzimmer nächtigen zu lassen; das Motiv für die Klägerin hiezu könne nur in ihrem Bestreben, die eigene geschlechtliche Lust zu erhöhen, erblickt werden. Den Partner ihrer Freundin W. habe die Klägerin nur nach seinem Vornamen gekannt und den S. erst am Abend vor dem gemeinsamen Übernachten kennengelernt. Ein Mädchen, das mit seinem Liebhaber in Gegenwart von ihm nur flüchtig oder überhaupt nicht bekannten Personen wiederholt Geschlechtsverkehr pflege und überdies unmittelbar nachher sich einem Dritten auf die festgestellte ausgeschämte Art hingebe, handle derart schamlos, dass, obwohl diese Vorfälle sich einige Wochen vor Beginn der kritischen Zeit abspielten, die Schlussfolgerung sich aufdränge, sie habe auch während der Empfängniszeit noch mit andern Männern als dem Beklagten geschlechtlich verkehrt.
B.- Mit der vorliegenden Berufung machen die Kläger geltend, die Vorinstanz habe die Einrede aus Art. 315 ZGB zu Unrecht geschützt, und beantragen Gutheissung der Klage.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Wie das Bundesgericht kürzlich seine Praxis in Bezug auf Art. 315 ZGB zusammengefasst und präzisiert hat, beruht die Vorschrift, wie Art. 314 Abs. 2, auf dem Gedanken, dass die Klage abgewiesen werden muss, wenn die Vaterschaft des Beklagten unsicher ist, und will die Fälle treffen, wo zwar keine Tatsachen nachgewiesen sind, die erhebliche Zweifel im Sinne von Art. 314 Abs. 2 zu begründen vermöchten, wo aber die Lebensführung der Mutter als Ganzes eine einigermassen zuverlässige Feststellung der Vaterschaft unmöglich macht. Dies trifft dann - und nur dann - zu, wenn sich die Mutter um die Empfängniszeit in sexueller Beziehung gewohnheitsmässig so hemmungslos zeigte, dass sich der Verdacht aufdrängt, sie habe damals nicht nur mit dem Beklagten, sondern auch noch mit unbekannten weitern Männern Umgang gehabt (BGE 79 II 26).
Bei der Würdigung der Tatbestände unter diesem Gesichtspunkt hat sich die Rechtsprechung im Laufe der Jahre zu einer etwas weitergehenden subjektiven Differenzierung veranlasst gesehen, so insbesondere bezüglich der Schlüsse, die aus den Umständen, unter denen Geschlechtsverkehr mit dem Beklagten stattgefunden hat, gezogen werden können, und hier u.a. auch im Hinblick auf den Vollzug des Geschlechtsverkehrs in Anwesenheit Dritter. So wurden Milderungsgründe darin erblickt, dass die Kindsmutter von der Anwesenheit einer Drittperson im Zimmer des Beklagten vorher keine Kenntnis gehabt hatte, die Drittperson schlief oder sich schlafend stellte oder schwerhörig, eine gute Bekannte, oder das zweite Paar in gleicher Weise mit sich selbst beschäftigt war (vgl. BGE 69 II 135, BGE 76 II 177, Urteil vom 23. Sept. 1948 i.S. Tuor, vom 25. April 1952 i.S. Hänni, vom 3. April 1952 i.S. Rehbeil).
Im vorliegenden Falle liegen mildernde Umstände darin, dass die Klägerin mit dem Beklagten von den beiden Familien her seit langem bekannt war, ein Verhältnis von längerer Dauer bestand und beim Vorfall vom Juli die eine Drittperson ihre Freundin war. Dagegen war deren Freund Roland ihr nicht näher und beim zweiten Vorfall vom August der Kamerad des Beklagten, S., ihr bisher überhaupt nicht bekannt gewesen. Sehr gravierend ist zweifellos der dritte Vorfall, wo sich die Klägerin nach der Nacht mit dem Beklagten während der kurzen Abwesenheit desselben dem Dritten hingab.
Die drei Vorfälle zusammen qualifizieren das damalige Verhalten der Klägerin ohne weiteres als unzüchtig. Schon eher fraglich erscheint, ob von unzüchtigem Lebenswandel gesprochen werden kann, worunter eine gewohnheitsmässige sexuelle Haltlosigkeit zu verstehen ist (BGE 79 II 25). Die vereinzelten Verfehlungen der Klägerin zeigen doch nicht eine Gewohnheit der Ausschweifung, eine Grundhaltung, sondern eher ein momentanes Überborden der Sinnlichkeit.
Nun fand der letzte Vorfall jedoch drei Wochen vor Beginn der kritischen Zeit und ca. 6 Wochen vor dem mutmasslichen effektiven Schwängerungsdatum (um den 3. Oktober 1953) statt. Für diesen Zeitpunkt wie für die ganze kritische Zeit ist ein verdächtiges Verhalten der Klägerin - abgesehen vom Geschlechtsverkehr mit dem Beklagten - nicht dargetan. Ein unzüchtiger Lebenswandel vor oder nach der Empfängniszeit ist an sich nicht geeignet, die Einrede des Art. 315 zu begründen. Frage kann nur sein, ob das unzüchtige Verhalten der Kindsmutter vor der Empfängniszeit den sichern Schluss ziehen lasse, dass sie auch "um die Empfängniszeit" einen unzüchtigen Lebenswandel geführt habe. Die Vorinstanz bejaht dies in Ansehung der hochgradigen Schamlosigkeit, die die Klägerin anlässlich der drei Vorfälle im Juli/August an den Tag gelegt habe und angesichts deren sich die Schlussfolgerung "geradezu aufdränge", sie habe sich auch während der Empfängniszeit mit Dritten vergangen.
Ob sich diese Schlussfolgerung rechtfertigt, ist keine tatsächliche Feststellung, sondern eine der Überprüfung des Bundesgerichts unterliegende Rechtsfrage, nämlich die rechtliche Würdigung jener festgestellten Tatsachen nach der allgemeinen Lebenserfahrung (BGE 79 II 26f.).
Dass der für einen früheren Zeitpunkt festgestellte unzüchtige Lebenswandel auch während der kritischen Zeit fortgedauert habe, darf indessen nur angenommen werden, wenn auch für die kritische Zeit selber konkrete Anzeichen für verdächtige Beziehungen zu andern Männern vorliegen. Das Fortdauern des früheren Wandels kann nicht schon allein aus dem der menschlichen Natur erfahrungsgemäss innewohnenden Beharrungsvermögen abgeleitet werden, ebensowenig aus dem Fehlen von positiven Anhaltspunkten für eine inzwischen eingetretene Besserung der Gesinnung; dies käme einer Umkehrung der Beweislast gleich. Damit die fragliche Schlussfolgerung zulässig sei, müssen konkrete Anhaltspunkte in der kritischen Zeit vorhanden sein, die gleichsam eine Verbindung, eine Leitspur bilden vom festgestellten früheren zum späteren supponierten Verhalten (BGE 40 II 6, 168; BGE 43 II 143). So wurde ein Fortdauern des vorherigen unzüchtigen Lebenswandels einer Klägerin angenommen, weil sie in der kritischen Zeit nach wie vor sich in Bars herumgetrieben, dem Trunke ergeben, ausgelassen aufgeführt und gern mit Männern abgegeben, kurz in den Lebensgewohnheiten verharrt hatte, welche die leichtfertige Anknüpfung geschlechtlicher Beziehungen begünstigen (Urteil vom 3. März i.S. B. c. L.); ferner bezüglich einer Klägerin, die, nach einem extrem unzüchtigen Verhalten auf einer Autofahrt mit zwei Unbekannten vor der kritischen Zeit, während derselben immer wieder ganze Nächte bei Tanzanlässen wegblieb, sich von Burschen begleiten liess und solche auf ihr Zimmer nahm (Urteil vom 18. Dezember 1953 i.S. G. c. St.). Umgekehrt wurde es abgelehnt, aus häufigen abendlichen Ausgängen einer Klägerin in Herrenbegleitung in der kritischen Zeit auf geschlechtliche Abenteuer zu schliessen, weil aus der Zeit vorher und nachher keinerlei Vorfälle bekannt waren, die gezeigt hätten, dass solche Ausgänge bei ihr gern mit Abenteuern endeten (BGE 76 II 180).
Im vorliegenden Falle ist für die Zeit nach dem 16. August 1953 und für die (am 6. September 1953) beginnende) kritische Zeit nach den Feststellungen der Vorinstanz und dem Inhalt der Akten zu Lasten der Klägerin nichts nachgewiesen, ausser der Fortdauer des Verhältnisses mit dem Beklagten. Sie war damals (August 1953) noch nicht einmal 18 1/2 Jahre alt; nach ihrer Angabe - für deren Unrichtigkeit nichts spricht - war der Geschlechtsverkehr mit dem Beklagten nach dem Tanzanlass im Juli ihr erster. Es ist nun durchaus denkbar, dass sie, als das Verhältnis zum Beklagten sich festigte, sich gänzlich an ihn hielt und die Hemmungslosigkeit, die sie im Juli/August anlässlich der ersten Ausbrüche ihrer Sinnlichkeit zeigte, in der Folge überwand. Sodann war es zu den beiden ersten Vorfällen im Anschluss an sommerliche Volksfeste und in Ferienabwesenheit der Eltern gekommen, sodass die Annahme einiges für sich hat, nach dem Wegfall jener Anlässe und Gelegenheit möge die Klägerin weniger in Versuchung gekommen sein. Jedenfalls liegt kein konkreter Hinweis dafür vor, und der Beklagte hat auch nicht Beweis dafür beantragt, dass sie sich weiterhin mit andern Burschen abgegeben hätte; und ohne solche Indizien vermag das frühere unzüchtige Betragen die Einrede des Art. 315 nicht zu begründen.
Ist mithin diese Einrede zu verwerfen, so bleibt weiter zu prüfen, ob Tatsachen im Sinne des Art. 314 Abs. 2 ZGB geltend gemacht werden können. Insbesondere ist eine Blutuntersuchung verlangt worden. Ferner sind die Ansprüche der Kläger vom Beklagten hinsichtlich der Höhe bestritten worden. Die Vorinstanz hat daher die Sache unter diesen Gesichtspunkten neu zu beurteilen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird dahin gutgeheissen, dass das angefochtene Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 5. April 1956 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.