BGE 84 II 107 |
14. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 14. Februar 1958 i.S. Schwegler gegen Laboratoire Esthétique SA |
Regeste |
1. Art. 55 Abs. 1 lit. c OG. Die Berufung kann nicht durch Verweisung auf Ausführungen begründet werden, die vor dem kantonalen Gericht gemacht worden sind (Erw. 1). |
a) Notlage einer Aktiengesellschaft (Erw. 2). |
b) Offenbares Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung bei Erneuerung von Wechseln zu hohem Diskont (Erw. 3). |
c) Wenn der Übervorteilte den Vertrag im ganzen nicht halten will, kann der andere nicht verlangen, dass er ihn wenigstens teilweise erfülle (Erw. 4). |
Sachverhalt |
A.- Die Laboratoire Esthétique SA mit Sitz in Vaduz, deren Aktienkapital von Fr. 5000.-- zu einem Fünftel einbezahlt ist, wurde anfangs 1952 von Ermita Hildebrand und Manfred Hüpper gegründet. Sie hatte anfänglich in Oberwil im Kanton Zug eine Zweigniederlassung zur Herstellung kosmetischer Mittel und führt seit Herbst 1954 in Zug ein Gewerbe für Schönheitspflege.
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Wenige Wochen nach der Gründung ging sie die Finanz AG in Zug um ein Darlehen von Fr. 6000.-- an, um Rohstoffe und Verpackungsmaterial anzuschaffen. Der Prokurist der Finanz AG Robert Bürgisser entsprach dem Gesuche, indem er der Laboratoire Esthétique SA am 23. April 1952 gegen ein Wechselakzept über Fr. 6600.-- mit einer Laufzeit von 93 Tagen Fr. 6000.-- auszahlen liess. Der Wechsel konnte bei Verfall nicht eingelöst werden. Die Schuldnerin erneuerte ihn am 21. Juli 1952, indem sie sich gegen Empfang weiterer Fr. 1400.-- wechselmässig für Fr. 8800.-- verpflichtete, die rund drei Monate später verfallen sollten. Dieser Wechsel wurde ohne Wissen der Schuldnerin von Alois Schwegler finanziert. Die Wechselschuld wurde in der Folge unter Hinzurechnung des Diskonts noch zwölfmal für jeweilen drei Monate erneuert, zuletzt am 5. August 1955. Der Diskont entsprach einem Jahreszins, der zwischen 25,7 und 38,8% schwankte. Schwegler und Bürgisser rechneten miteinander in der Weise darüber ab, dass Schwegler für jeden Monat 2% beanspruchte und den Restzins an Bürgisser auszahlte, sobald ihm dieser den Erneuerungswechsel übergab. Da die Laboratoire Esthétique SA wiederholt um Herabsetzung des Diskonts ersuchte und mit Strafklage drohte, verzichtete Bürgisser schliesslich auf weiteren Anteil. Anlässlich der Erneuerungen vom 6. Januar, 9. Mai und 5. August 1955 wurde daher die Schuldnerin nur noch mit dem von Schwegler beanspruchten Diskont belastet, der in diesen drei Fällen einem Jahreszins von 22,3-25,3% entsprach. Der vom 5. August bis 5. November 1955 laufende Wechsel lautete auf Fr. 23'750.--.
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Am 2. November 1955 unterzeichnete die Laboratoire Esthétique der Finanz AG sechs Wechsel über zusammen Fr. 6315.-- mit Laufzeiten von 11/2 bis 61/2 Monaten. Davon sollten Fr. 6000.-- zur Tilgung der dem Schwegler zustehenden Forderung verwendet werden. Der auf Fr. 17'750.-- verminderten Wechselschuld gegenüber Schwegler wurde ein neuer Diskont von Fr. 1600.-- zugeschlagen. Schwegler erhielt ein Akzept der Laboratoire Esthétique SA über Fr. 19'350.-- mit Verfalltag 5. Mai 1956. Der Diskont von Fr. 1600.-- entsprach einem Jahreszins von 16,2%.
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B.- Am 18. September 1956 leitete Schwegler, der anfangs Februar 1956 von der Bezirksanwaltschaft Zürich wegen Wuchers verhaftet worden war, gegen die Laboratoire Esthétique SA unter Vorlegung des auf Fr. 19'350.-- lautenden Wechsels für den Teilbetrag von Fr. 2000.-- nebst Zins zu 6% seit 8. Mai 1956 Betreibung ein. Der Schuldnerin wurde am 3. Oktober 1956 der Rechtsvorschlag bewilligt, nachdem sie den streitigen Betrag beim Gericht hinterlegt hatte. Schwegler reichte hierauf beim Kantonsgericht von Zug Klage auf Zahlung des in Betreibung gesetzten Betrages nebst Zins und auf Freigabe des hinterlegten Betrages ein. Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage und erhob Widerklage mit dem Begehren, der Kläger habe ihr den Wechsel über Fr. 19'350.-- unbeschwert herauszugeben. Sie machte geltend, das Wechselgeschäft sei für sie wegen Übervorteilung im Sinne des Art. 21 OR unverbindlich. Der Kläger beantragte Abweisung der Widerklage.
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Das Kantonsgericht wies am 24. Mai 1957 die Klage ab und hiess die Widerklage gut.
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Auf Berufung des Klägers, der an seinen Anträgen festhielt, erkannte das Obergericht des Kantons Zug am 22. Oktober 1957 im gleichen Sinne. Das Obergericht ist der Auffassung, die Beklagte sei durch die in Frage stehenden Darlehensgeschäfte, die am 31. Oktober 1955 zur Unterzeichnung des im Streite liegenden Wechsels fuhrten, im Sinne des Art. 21 OR übervorteilt worden. Es wirft dem Kläger vor, er habe ihre Notlage ausgebeutet, um sich eine Gegenleistung versprechen zu lassen, die in einem offenbaren Missverhältnis zu seiner eigenen Leistung gestanden habe.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: |
2. Das Obergericht sieht die Notlage der Beklagten in den finanziellen Verhältnissen, in denen sie sich befunden habe. Es stellt fest, sie habe trotz zunehmenden Geschäftsumsatzes nicht über genügende flüssige Mittel verfügt, habe aber die Rechnungen der Lieferanten begleichen müssen, um ihren Kredit bei diesen nicht zu verlieren. Sie habe bis am 13. Juli 1953 von der Finanz AG gegen Ausstellung von Wechseln mit einer Laufzeit von jeweilen drei Monaten und gegen laufende Abtretung der Hälfte ihrer Kundenguthaben Darrlehen erhalten, aber nicht einmal die vierteljährrlichen Zinszuschläge zu tilgen vermocht, obschon sie an ihre Schulden gegenüber der Finanz AG insgesamt Fr. 33'425.-- abbezahlt habe. Zu den laufenden Erneuerungen der Wechselschuld gegenüber dem Kläger mit dem hohen Diskont habe sie nur Hand geboten, weil sie ausserstande gewesen sei, die Schuld abzulösen, und weil sie unter allen Umständen ihr Dasein habe retten wollen. ... Mit Recht hat das Obergericht die Bedrängnis, in der die Beklagte sich bei der Erneuerung des Wechsel befand, als Notlage im Sinne des Art. 21 OR gewürdigt.
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Der Kläger verkennt, dass er sich der erheblichen Gefahr, zu Verlust zu kommen, in vollem Umfange schon im Zeitpunkt der Hingabe des Geldes aussetzte und später keine neue Gegenleistung erbrachte, die eine den landesüblichen Zins übersteigende Risikoprämie gerechtfertigt hätte. Der hohe Diskont, den er sich anlässlich der Erneuerungen des Wechsels versprechen liess, war ausschliesslich Entgelt dafür, dass er mit dem Eintreiben der von Anfang an gefährdeten Forderung jeweilen weitere drei Monate zuwartete. Auch unterschied sich die Lage der bedrängten Beklagten, deren dürftiges Aktienkapital zu vier Fünfteln in Forderungen gegen die vermögenslosen beiden Aktionäre bestand, nicht wesentlich von den "Nöten des kleinen Mannes". Auch unter diesem Gesichtspunkt vermag daher der Kläger nicht Anspruch auf eine Vergütung zu erheben, die sich in Anwendung des üblichen Begriffes des "offenbaren Missverhältnisses" nicht rechtfertigen lässt. Indem er Wechsel entgegennahm, in denen Jahreszinse bis zu 38,8% mit versprochen waren und welche die Schuld der Beklagten innerhalb dreieinhalb Jahren auf mehr als das Dreifache der ausbezahlten Darlehen ansteigen liessen, trieb er Wucher, wie er nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung (BGE 70 IV 200ff. und nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 2. Juli 1954 i.S. Kaufmann und Zürcher) in objektiver Hinsicht auch vor dem Strafgesetz nicht standhielte. Wucherisch handelte er insbesondere auch, als er in einem Zeitpunkt, wo die Wechselschuld um Fr. 6000.-- abgebaut wurde, sich für die Restforderung unter Zuschlagung eines Diskonts von Fr. 1600.-- für sechs Monate Laufzeit einen neuen Wechsel über Fr. 19'350.-- übergeben liess. Das Missverhältnis zwischen dem Entgegenkommen, das er bei dieser Gelegenheit zeigte, und dem Entgelt, das er sich dafür versprechen liess, ist offensichtlich.
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4. Dem Eventualstandpunkt des Klägers, allenfalls wäre nicht der gesamte Vertrag als nichtig zu erklären, sondern nur jener Teil der Forderung, der den angemessenen Zinssatz überstieg, ist nicht beizupflichten. Übervorteilung im Sinne des Art. 21 OR macht den Vertrag nicht nichtig. Art. 20 Abs. 2 OR, der den Grundsatz der Nichtigkeit von Verträgen mit unmöglichem, widerrechtlichem oder gegen die guten Sitten verstossendem Inhalte auf den von solchen Mängeln betroffenen Teil des Vertrages beschränkt, wenn nicht anzunehmen ist, der Vertrag wäre ohne den nichtigen Teil überhaupt nicht abgeschlossen worden, trifft daher nicht zu. Wenn der Übervorteilte - wie im vorliegenden Falle geschehen - innerhalb Jahresfrist seit Abschluss des Vertrages erklärt, dass er diesen nicht halte, kann die Gegenpartei auch nicht mehr bloss teilweise Erfüllung des Vertrages verlangen, sondern bleibt darauf beschränkt, Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung geltend zu machen, wenn deren Voraussetzungen zutreffen. Dass Art. 20 und Art. 21 OR nicht die gleichen Rechtsfolgen vorsehen, hat seinen Grund in der Verschiedenheit der dem Vertrage anhaftenden Mängel. Im Falle von Art. 20 ist der Vertrag aus freiem Willen eingegangen, aber der Staat kann nicht zulassen, dass aus ihm Rechte geltend gemacht werden, da sein Inhalt unmöglich, widerrechtlich oder sittenwidrig ist. Das öffentliche Interesse, das dabei in Frage steht, verlangt aber nicht, dass der Vertrag auch insoweit nichtig sei, als seine Erfüllung möglich ist und dem Rechte sowie den guten Sitten nicht widerspricht. Im Falle des Art. 21 OR ist der Vertrag dagegen unter dem Einfluss eines mangelhaften Willens zustande gekommen; die eine Partei hat die Notlage, die Unerfahrenheit oder den Leichtsinn der anderen ausgebeutet, um ihre Zustimmung zum Vertrage zu erlangen. Daher stellt das Gesetz es ins Belieben der übervorteilten Partei, sich vom Vertrage vollständig loszusagen. Ob sie berechtigt ist, statt dessen eine inhaltliche Änderung des Vertrages, d.h. die Herabsetzung ihrer übermässigen Leistungspflicht zu verlangen, kann offen bleiben, da die Beklagte im vorliegenden Falle vollständige Unverbindlichkeit geltend macht. Dass dem Übervorteilten die Fortsetzung des Vertrages mit verändertem Inhalt nicht aufgezwungen werden kann, wenn er sie nicht wünscht, ist auch vorherrschende Lehrmeinung (vgl. z.B. VON TUHR/SIEGWART, OR S. 302 Anm. 13 a; GUHL, Obligationenrecht, 5. Aufl, S. 56; siehe auchBGE 64 I 47und Appellationsgericht Basel-Stadt in SJZ 25 200 Nr. 139; a.M. SPIRO, ZBJV 88 513 ff.).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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