16. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. Januar 1959 i.S. K. gegen S.
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Regeste
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Doppelte Vaterschaftsklage auf Vermögensleistungen gegen einen in Frankreich wohnenden Franzosen: an seinem Wohnsitz wie auch am schweizerischen Wohnsitz der klagenden Partei zur Zeit der Geburt.
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Sachverhalt
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Der Franzose K. leistete in der Nachkriegszeit Militärdienst in Konstanz und lernte dort die Schweizerin S. kennen. Er unterhielt mit ihr intime Beziehungen. Nach der Geburt ihres Kindes anerkannte er die Vaterschaft und verpflichtete sich zu Leistungen an Mutter und Kind. Später bestritt er die Vaterschaft mit der Behauptung, die Kindesmutter habe in der kritischen Zeit noch mit andern französischen Soldaten Umgang gehabt.
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Er wurde auf Vermögensleistungen aus Vaterschaft an seinem Wohnsitz in Frankreich und dann daneben am thurgauischen Wohnsitz der klagenden Partei zur Zeit der Geburt belangt. Gegenüber der schweizerischen Klage erhob er die Einrede der Rechtshängigkeit. Das Obergericht des Kantons Thurgau hat diese Einrede verworfen und die Klage zugesprochen.
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Mit vorliegender Berufung hält der Beklagte in erster Linie an der Einrede der Rechtshängigkeit fest mit erneutem Hinweis auf die in Frankreich erhobene, noch nicht rechtskräftig beurteilte Klage.
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Aus den Erwägungen:
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Mit Recht hat der Beklagte in der obergerichtlichen Verhandlung den schweizerischen Gerichtsstand als solchen nicht mehr bestritten. In der Tat kann die Vaterschaftsklage nach Art. 312 ZGB auch gegen einen im Auslande wohnenden Ausländer am schweizerischen Wohnorte der klagenden Partei zur Zeit der Geburt angehoben werden (BGE 84 II 605 Erw. 2 am Ende). Handelt es sich um einen in Frankreich wohnenden Franzosen, so steht auch nicht etwa Art. 1 des zwischen der Schweiz und Frankreich abgeschlossenen Gerichtsstandsvertrages vom 15. Juni 1869 entgegen; denn diese Bestimmung gilt nicht für Streitigkeiten aus Familienrecht (BGE 77 II 120). Dagegen hält der Beklagte daran fest, dass die in der Schweiz erhobene Klage nicht zulässig sei neben der zuvor in gleichem Sinn in Frankreich erhobenen Klage. Das Obergericht hat diese Einrede der Rechtshängigkeit, ohne die zeitliche Folge der beiden Klagen zu prüfen, deshalb verworfen, weil sie nach § 114 der kantonalen Zivilprozessordnung nur innerhalb des schweizerischen Rechtsgebietes gelte, sich also nur auf eine ebenfalls, und zwar früher, in der Schweiz hängig gewordene Klage stützen könne. Nichts Abweichendes ergebe sich aus dem schweizerisch-französischen Gerichtsstandsvertrag vom 15. Juni 1869. Im übrigen sei die Einrede nach einem "feststehenden Grundsatze des internationalen Privatrechtes" deshalb abzulehnen, weil Frankreich in dieser Hinsicht kein Gegenrecht halte; es wäre dem Beklagten obgelegen, das Gegenteil nachzuweisen.
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Es ist nicht ernstlich zu bezweifeln, dass die Rechtshängigkeit zuerst in Frankreich begründet wurde. Das geschah durch die assignation (exploit d'ajournement) vom 24. Mai 1957 (vgl. GARSONNET et CEZAR-BRU, Traité de procédure civile, t. II p. 303; MOREL, Traité élémentaire de procédure civile, n. 301 am Ende, S. 254; BGE 75 I 152 unten). Die in der Schweiz erhobene Klage wurde alsdann nach § 148 der thurgauischen Zivilprozessordnung hängig mit dem erfolglosen Abschluss des Ausgleichsversuches vor dem Friedensrichter, also am 5. Juni 1957 (vgl. BÖCKLI, Zivilprozessordnung für den Kanton Thurgau, N. 1 zu § 148).
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Ob die zuvor im Ausland eingetretene Rechtshängigkeit zu beachten sei, d.h. ob sie die uneinlässliche Rückweisung der Klage oder wenigstens die Einstellung des Prozesses bis zur rechtskräftigen Erledigung des ausländischen Verfahrens rechtfertige, ist indessen (abgesehen von direkten Prozessen vor Bundesgericht, wofur Art. 22 BZP gilt) eine Frage der kantonalen Prozessrechtes, dessen Anwendung das Bundesgericht im Berufungsverfahren nicht nachprüfen kann (Art. 43 OG). Im vorliegenden Fall ist nicht etwa die Übereinstimmung (Identität) der beiden Klagen streitig, die nach dem materiellen Zivilrecht zu beurteilen wäre (vgl. BGE 80 I 262 mit Hinweis auf BGE 75 II 290). Der Beklagte glaubt freilich, die Hängigkeitseinrede in dieser Vaterschaftssache auf Bundesrecht, nämlich auf Art.312 ZGB stützen zu können. Er erklärt, wenn diese Vorschrift der klagenden Partei zwei Gerichtsstände zur Wahl stelle, schliesse sie eine übereinstimmende Klage an beiden Orten aus; mit der Ausübung des Wahlrechts, wie sie hier am 24. Mai 1957 in Frankreich erfolgt sei, entfalle die Möglichkeit, nun auch noch am andern Orte zu klagen. Art. 312 ZGB nimmt jedoch zur Frage der doppelten Rechtshängigkeit nicht Stellung. Wäre die erste Klage ebenfalls in der Schweiz angehoben worden, so stünde dem Beklagten die Einrede der Rechtshängigkeit nach § 114 der thurgauischen ZPO zu, ganz gleichgültig ob die zwei in Betracht kommenden Gerichtsstände im kantonalen oder im eidgenössischen Recht vorgesehen sind. Im übrigen stand der Klägerschaft nur einer der - schweizerischen - Gerichtsstände des Art. 312 ZGB zur Verfügung. Die Klage in Frankreich konnte sich nicht auf diese Norm, sondern nur auf die französische Zuständigkeitsordnung stützen, weshalb im vorliegenden Falle von einem sich aus Art. 312 ZGB ergebenden Wahlrecht nicht gesprochen werden kann. Ob neben der Klage in Frankreich noch eine solche in der Schweiz zulässig sei, war daher nach dem durch keine bundesrechtliche Norm eingeschränkten kantonalen Prozessrecht zu entscheiden.
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Wenn in Ehescheidungs- und -trennungssachen aus Gründen des materiellen Rechtes ein einheitlicher Gerichtsstand des Sachzusammenhanges als bundesrechtlicher anerkannt wurde, und zwar am Ort der zuerst rechtshängig gewordenen Klage - selbst im Ausland, sofern das dort zu erwartende Urteil voraussichtlich in der Schweiz anzuerkennen sein wird (BGE 80 II 97 ff.) -, so ist damit nicht etwa die einfache Rechtshängigkeitseinrede dem Bundesrecht unterstellt worden. Vielmehr ging es bei jener Entscheidung nur darum, den erwähnten unlösbaren Sachzusammenhang zu wahren. Hiefür erwies sich die Berücksichtigung der zuerst eingetretenen Rechtshängigkeit als das einfachste und nächstliegende Mittel, wie denn nicht leicht ein anderer Grundsatz zu finden wäre, nach dem sich der "geeignetere" Gerichtsstand (im Einvernehmen mit dem zuerst mit der Sache befassten ausländischen Gericht) bestimmen liesse. Mit dieser Heranziehung der prozessualen Rechtshängigkeitseinrede als Mittel zur Erzielung eines um der materiellrechtlichen Wirrkungen willen notwendigen einheitlichen Urteils im Gebiete der Ehescheidung und -trennung wurde nichts daran geändert, dass diese Einrede, wo keine bundesrechtlichen Normen eingreifen, ausschliesslich dem kantonalen Prozessrecht angehört. Das gilt gerade für die Frage nach der Beachtlichkeit einer im Ausland hängig gewordenen identischen Vaterschaftsklage.
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Was endlich den zwischen der Schweiz und Frankreich abgeschlossenen Gerichtsstandsvertrag vom 15. Juni 1869 betrifft, so ist darin zwar vorgesehen, dass die im einen Vertragsstaat ergehenden Zivilurteile im andern unter bestimmten Voraussetzungen zu vollziehen sind (Art. 15 ff.). Darin liegt als Minderes das Gebot eingeschlossen, solche Urteile unter den nämlichen Voraussetzungen, auch wo keine Vollziehung in Frage steht, anzuerkennen (sog. negative Rechtskraft, BGE 50 I 418). Dagegen fehlt es im erwähnten Staatsvertrag (anders als in den Vollziehungsabkommen der Schweiz mit Italien vom 3. Januar 1933, Art. 8, und mit Schweden vom 15. Januar 1936, Art. 7) an einer Vorschrift, wonach auf ein im andern Vertragsstaate schwebendes Verfahren, das noch nicht zu rechtskräftigem Abschluss gekommen ist, Rücksicht zu nehmen wäre. Eine Verletzung des Gerichtsstandsvertrages kann daher dem angefochtenen Urteil nicht vorgehalten werden (vgl. dazu SCHURTER und FRITZSCHE, Zivilprozessrecht des Bundes I 623; ESCHER, Neuere Probleme aus der Rechtsprechung zum franz.-schweiz. Gerichtsstandsvertrag, S. 158; BGE 38 I 540/41; SCHNITZER, Internationales Privatrecht, 4. Auflage, II 862 ff.). Bei dieser Sachlage bleibt es eine Frage des internen Prozessrechtes jedes der beiden Vertragsstaaten, in der Schweiz also des kantonalen Prozessrechts, ob und inwiefern eine im andern Staate zuerst begründete Rechtshängigkeit die Rückweisung der identischen Klage oder wenigstens die Einstellung des zweiten Prozesses bis zum rechtskräftigen Abschluss des ersten rechtfertige. Das Bundesgericht hat zu dieser in der kantonalen Gesetzgebung in der Regel nicht entschiedenen, in der Lehre des internationalen Prozessrechts umstrittenen Frage (vgl. SCHNITZER, a.a.O.; GULDENER, Das internationale und interkantonale Zivilprozessrecht der Schweiz, S. 174 ff.; SCHAUWECKER, Die Einrede der Litispendenz im eidgenössischen und zürcherischen internationalen Zivilprozessrecht, S. 26 ff.; LEUCH, N. 4 zu Art. 160 der bernischen ZPO) nicht Stellung zu nehmen. Freilich kann das Bestehen eines Urteilsvollziehungsvertrages zwischen zwei Staaten eine besondere Veranlassung dazu bieten, grundsätzlich auch auf blosse Rechtshängigkeit im andern Vertragsstaat Rücksicht zu nehmen, wenn das dort ergehende Urteil voraussichtlich anzuerkennen bzw. zu vollziehen sein wird (ein auch in der - nicht einmütigen - französischen Lehre und Rechtsprechung erwogener Gesichtspunkt; vgl. Encyclopédie DALLOZ, Procédure II, s.v. litispendance, nos 18/19; SCHAUWECKER, a.a.O., S. 39/40 mit Fussnote 49). Solange aber die Frage nicht Gegenstand eines Übereinkommens der beiden Staaten bildet (gemäss einem bereits von E. CURTI, Der Staatsvertrag ..., 1879, S. 176/177, aufgestellten Reformvorschlag), kann von einer staatsvertraglichen Verpflichtung nicht gesprochen werden. Somit muss es bei der Ablehnung der Rechtshängigkeitseinrede durch das Obergericht sein Bewenden haben.
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