BGE 85 II 275
 
43. Urteil der II. Zivilabteilung vom 18. September 1959 i.S. E. & R. Suter A.-G. gegen Lüthy.
 
Regeste
Besitzes- und Rechtsschutz gegenüber Verletzungen des Nachbarrechts. Übermässige Einwirkungen auf ein Nachbargrundstück (Art. 684 ZGB) als Besitzesstörung (Art. 928 ZGB).
Art. 44-46, 48, 50 OG.
 
Sachverhalt
A.- A. Lüthy, Eigentümer eines Grundstücks in Mellingen, hat am 7. Oktober 1957 beim Gerichtspräsidium Baden gegen die E. & R. Suter A.-G. als Grundnachbarin ein Befehlsverfahren nach § 245 der kantonalen Zivilprozessordnung eingeleitet mit den Begehren:
"1. Die Beklagte sei unter Androhung von ... zu verpflichten, den Miststock hinter ihrem Hause auf I.R. Mellingen Nr. 13 abzutragen und zu entfernen.
2. Der Beklagten sei unter Androhung von ... zu untersagen, künftig irgendwo auf ihrem Grundstücke I.R. Mellingen Nr. 81 Mist abzulagern oder aufzuhäufen."
Zur Begründung brachte er vor, die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgänger habe früher in der südwestlichen Ecke ihres Grundstücks Nr. 13 einen Komposthaufen gehabt, den sie nun aber in der letzten Zeit als Miststock benütze. Dort lagere sie sämtlichen in ihrem Stall anfallenden Pferdemist ab. Die von diesem bloss 30 Meter vom Wohnhaus der Klägers entfernten Miststock ausströmenden Gerüche bewirkten namentlich bei feuchtwarmem Wetter eine unerträgliche Geruchsbelästigung; dazu komme eine beträchtliche Insektenplage. Es handle sich um übermässige Einwirkungen auf sein Grundeigentum, die er nach der Lage der Grundstücke und nach Ortsgebrauch nicht zu dulden brauche.
Die Beklagte trug auf Abweisung des Befehlsbegehrens an. Sie bestritt die Gesuchsvorbringen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.
B.- Nach Vornahme eines Augenscheins mit Zeugeneinvernahme und Parteibefragung hiess der Präsident des Bezirksgerichts Baden das Gesuchsbegehren teilweise gut und untersagte der Beklagten "gemäss § 252 ZPO bei Haft oder Busse", auf dem Miststock hinter ihrer Liegenschaft I.R. Mellingen Nr. 13 in der Zeit vom 1. März bis 1. November Pferdemist abzulagern.
C.- Gegen diesen Entscheid führte die Beklagte beim Obergericht Beschwerde mit dem erneuten Antrag auf Abweisung der Klage; eventuell sei sie bloss zu verpflichten, den Miststock in die Mitte ihres Grundstückes zu verlegen und den Mist häufiger abzuführen.
D.- Mit Entscheid vom 3. März 1959 hat das Obergericht des Kantons Aargau die Beschwerde abgewiesen. Ziffer II, 1, der Begründung lautet:
"Das klägerische Begehren stellt sich als ein solches um Besitzesschutz dar. Der Kläger beruft sich denn auch auf Art. 928 ZGB und verlangt Beseitigung der Störung und Unterlassung künftiger Störung. Da die Voraussetzungen zur Gewährung richterlichen Besitzesschutzes im Zivilrecht enthalten sind und zwar, soweit Besitzesstörung in Betracht fällt, im erwähnten Art. 928 ZGB, und da in § 135 EG ZGB zur Behandlung eines solchen Streites ausser auf die andern der dort aufgeführten Rechtsbehelfe, insbesondere auch auf das Befehlsverfahren verwiesen ist, so ist die Anwendbarkeit dieses Verfahrens auf Grund von Ziffer 1 des § 245 ZPO, auf den sich der Kläger ausdrücklich stützt, gegeben. Ob das Begehren gutgeheissen werden kann, setzt daher nicht, wie gemäss § 245 Ziffer 2 ZPO die Prüfung der Frage voraus, ob glaubwürdig dargetan ist, dass die Aufrechterhaltung eines tatsächlichen Zustandes oder die Abwendung eines drohenden erheblichen Nachteils eine vorläufige Massnahme erheische, um einem gefährdeten Recht vorsorglich Schutz zu verleihen, sondern, ob erwiesen ist, dass ein zivilrechtlich statuiertes Recht, hier das Recht auf ungestörten Besitz, verletzt ist, so dass zu dessen Schutz die vom Gesetze vorgesehenen Entscheidungen, denen endgültiger Charakter zukommt, zu treffen sind. Nachdem jedoch im Besitzesschutzverfahren, insbesondere bei Besitzesstörung, lediglich die Besitzfrage endgültig und materiell rechtskräftig beurteilt werden kann, während der Einwand des Beklagten, es stehe ihm ein besseres Recht zu, vorliegend das Recht auf Duldung seiner Mistablagerungsstätte durch den Kläger, nicht überprüfbar ist, so ist der allfällig die Klage gutheissende Entscheid doch insofern nur ein provisorischer, als die Frage offen bleibt, ob der geschützte Zustand der Rechtslage entspricht (vgl. EICHENBERGER, Beiträge zum Aargauischen Zivilprozessrecht, S. 211). Dies hat zur Folge, dass der Beklagten die Möglichkeit vorbehalten bleiben muss, in einem von ihr anzuhebenden Streite das von ihr beanspruchte Recht darzutun."
E.- Gegen diesen Entscheid hat die Beklagte Berufung an das Bundesgericht eingelegt. Sie erneuert den Antrag auf Abweisung der Klage und den vor Obergericht gestellten Eventualantrag. Subeventuell verlangt sie die Rückweisung der Sache an das Obergericht zu neuer Entscheidung.
F.- Auf Ersuchen des Präsidenten der II. Zivilabteilung erläuterte das Obergericht die Ziffer II, 1, der Urteilsbegründung mit Zuschrift vom 11. August 1959 wie folgt:
"Gemäss § 135 aarg. EG ZGB "werden die Klagen wegen Besitzesstörung oder Besitzesentziehung durch verbotene Eigenmacht (Art. 927/8 ZGB), wo sie nicht in die Zuständigkeit des Friedensrichters fallen oder nicht durch Verfügung im Befehlsverfahren oder durch Verbot erledigt werden können, im beschleunigten Verfahren verhandelt". In der Praxis wurde diese Bestimmung bisher dahin ausgelegt, dass dadurch Klagen wegen Besitzesstörung und -entziehung grundsätzlich in das Befehlsverfahren nach § 245 Ziff. 1 aarg. ZPO gewiesen würden, und dass den in diesem Verfahren über Besitzesfragen gefällten Entscheidungen endgültiger Charakter zukomme, da die streitigen Besitzesfragen dadurch materiell und definitiv entschieden würden (VJS 24 S. 63, 27 S. 75 und 38 S. 89; ferner 22 S. 108 und 31 S. 162 f.). Diese Wirkung kann den im Befehlsverfahren nach § 245 Ziff. 1 ZPO zum Austrag kommenden Besitzesschutzstreitigkeiten indes nur hinsichtlich der Frage des Besitzesschutzes zukommen. Gegenüber im ordentlichen Verfahren zur Beurteilung gelangenden Klagen aus dem Recht, zum Beispiel in Immissionsstreitigkeiten, deren rechtliche Voraussetzungen ganz anders geordnet sind (Aktivlegitimation, Klagfundament, Verjährung), wirkt sich daher die Rechtskraft eines im Befehlsverfahren gemäss § 245 Ziff. 1 ZPO gestützt auf Art. 927 oder 928 ZGB gefällten Urteils nicht aus, indem die Einrede der abgeurteilten Sache deswegen nicht mit Erfolg erhoben werden könnte, und zwar auch dann, wenn im erwähnten Besitzesschutzverfahren die Frage, ob eine Immission vorliege, vorfrageweise bereits beurteilt worden ist."
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Gegenstand des angefochtenen Entscheides war, was nach den Erläuterungen des Obergerichts zu Ziffer II, 1, der Urteilsbegründung keinem Zweifel mehr unterliegt, eine im Befehlsverfahren angebrachte reine Besitzesschutzklage im Sinne von Art. 926 ff. ZGB. Und zwar handelt es sich, da die vom Miststock der Beklagten ausgehenden Einwirkungen den sachlichen Besitzstand des Klägers nicht schmälern, also nicht Besitzesentziehung sein können, um eine Klage wegen Besitzesstörung gemäss Art. 928 ZGB. Es ist denn auch anerkannt, dass Immissionen, die im übrigen unter bestimmten Voraussetzungen Anlass zu einer Klage nach Art. 679/684 ZGB geben können, als Besitzesstörung in Betracht fallen (vgl. OSTERTAG, N. 11, und HOMBERGER, N. 10 zu Art. 928 ZGB).
In BGE 40 II 559 wurde ohne nähere Prüfung der Frage ein Besitzesschutzstreit als Zivilrechtsstreitigkeit gemäss Art. 56 ff. und das darüber ergangene Urteil der letzten kantonalen Instanz als Haupturteil gemäss Art. 58 aoG betrachtet (so auch HOMBERGER, N. 20 zu Art. 927 ZGB). In BGE 78 II 87/88 wird dagegen eingehend dargelegt, dass die Besitzesschutzklage, zumal wenn sie im summarischen Verfahren beurteilt wird, nur die Wiederherstellung und Bewahrung des frühern tatsächlichen Zustandes bezweckt und dem Entscheid über die Rechtmässigkeit des bestehenden Zustandes nicht vorgreift. "Es handelt sich also heute nicht um die endgültige, dauernde Regelung streitiger zivilrechtlicher Verhältnisse, sondern nur um die einstweilige Wahrung der Interessen der Klägerin"; somit liege kein der Berufung an das Bundesgericht nach Art. 44 ff. OG unterliegender "in einer Zivilrechtsstreitigkeit ergangener Endentscheid" vor.
Nach diesen auch auf den vorliegenden Fall zutreffenden Erwägungen kann der von der Beklagten angefochtene Entscheid ebenfalls nicht als Endentscheid in einer Zivilrechtsstreitigkeit gelten. Das folgt zwar nicht ohne weiteres aus der Behandlung der Sache im (summarischen) Befehlsverfahren. Vielmehr kann auch in einem solchen Verfahren unter Umständen ein der Berufung unterliegender Entscheid ergehen (BGE 82 II 562 Erw. 3, BGE 84 II 78 lit. b). Der Besitz ist jedoch seinem Begriffe nach kein Rechtsverhältnis, sondern eine tatsächliche Herrschaft (abgesehen von den Besonderheiten des sog. Rechtsbesitzes nach Art. 919 Abs. 2 ZGB, wozu vgl. LIVER in ZbJV 95 S. 34/35). Dementsprechend wird scharf unterschieden zwischen Besitzesschutz und Rechtsschutz (vgl. die Randtitel I und II zu Art. 926 ff. und Art. 930 ff. ZGB; OSTERTAG, N. 5 ff. zu Art. 927; HOMBERGER, N. 11 ff. zu Art. 927 und N. 13 ff. zu Art. 928 ZGB; ferner LIVER, N. 71 ff. der Einleitung zum 21. Titel des ZGB). Die Art. 926-929 ZGB betreffen nur den Besitzesschutz, und das angefochtene Urteil gewährt dem Kläger, wie dargetan, nichts anderes als die Wiederherstellung des frühern tatsächlichen Zustandes in näher umgrenztem Rahmen, d.h. die Untersagung der gerügten Störung durch Ablagerung von Pferdemist auf der bezeichneten Liegenschaft in der Zeit vom 1. März bis 1. November. Freilich hatte sich der Kläger, um die Störung darzutun, auf das Nachbarrecht und insbesondere auf das Verbot übermässiger Einwirkungen auf Nachbargrundstücke nach Art. 684 ZGB berufen. Bei der Besitzesstörungsklage lässt sich denn auch mitunter die Besitzesfrage nicht völlig von der Rechtsfrage trennen; hängt doch das Vorliegen einer solchen Störung in manchen Fällen von der durch Rechtsnormen bestimmten Abgrenzung des Besitzes ab (vgl. HOMBERGER, N. 14 zu Art. 928 ZGB). Indessen hat der Kläger nicht die endgültige gerichtliche Feststellung einer nach Art. 684 ZGB zu verpönenden Einwirkung verlangt (was er auch wohl im summarischen Befehlsverfahren nicht hätte tun können), und es steht nach den Erwägungen des angefochtenen Urteils und nach dem erläuternden Bericht des Obergerichts fest, dass die Frage, ob die Beklagte ihr Eigentum überschritten habe, nur vorfrageweise geprüft worden ist. In der streitigen Hinsicht ist somit der Besitz des Klägers nur vorläufig geschützt worden (vgl. GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Auflage, S. 368 Anm. 24 am Ende), freilich ohne Befristung, so dass die Parteirollen in dem vorbehaltenen Streit um das Recht vertauscht sein müssten, wie das Obergericht am Ende von Ziffer II, 1 seiner Erwägungen bemerkt. Kommt somit dem angefochtenen Entscheide keine Rechtskraft für die (einem künftigen Zivilrechtsstreit vorbehaltene) Frage nach der Rechtmässigkeit der vom Kläger beanstandeten Eigentumsausübung zu, so ist der vorliegende Besitzesschutzstreit als solcher keine Zivilrechtsstreitigkeit und das ihn abschliessende obergerichtliche Urteil kein Endentscheid im Sinne von Art. 48 OG.
Auf Seite 4 unten der Berufungsschrift erklärt die Beklagte, die Berufung allenfalls auf Art. 50 OG stützen zu wollen. Sie legt jedoch die besondern Voraussetzungen einer danach ausnahmsweise zulässigen Berufung gegen andere als die Zuständigkeit betreffende Vor- und Zwischenentscheide in keiner Weise dar. Übrigens hat Art. 50 OG nur Vor- und Zwischenentscheide im Auge, die in einer an sich der Berufung unterliegenden Zivilrechtsstreitigkeit (oder sonstigen Zivilsache im Sinne von Art. 44 lit. a-c und Art. 45 OG) ergangen sind, was hier nach dem Gesagten nicht zutrifft.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Berufung wird nicht eingetreten.