BGE 85 II 457 |
69. Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. November 1959 i.S. X. gegen Gemeinderat U. |
Regeste |
Entmündigung nach Art. 369 und 370 ZGB. |
1. Geisteskrankheit, lasterhafter Lebenswandel, Gefährdung der Sicherheit Anderer und Schutzbedürftigkeit bejaht (Erw. 3). |
2. Zur Entmündigung wegen Geisteskrankheit nach Art. 374 Abs. 2 ZGB genügt auch ein ausserhalb des Entmündigungsverfahrens, z.B. in Strafprozess, eingeholtes psychiatrisches Gutachten, sofern es alle nötigen Feststellungen enthält (Erw. 4). |
3. Da hier der lasterhafte Lebenswandel seine Ursache nicht ausschliesslich in der geistigen Erkrankung hat, ist nach Art. 369 und 370 ZGB zu entmündigen (Erw. 5). |
Sachverhalt |
Der am 24. Oktober 1879 geborene, heute also über 80-jährige X. ging wegen misslicher Familienverhältnisse schon im Alter von 17 Jahren nach Amerika, kehrte aber auf Veranlassung der Mutter nach 2 Jahren nach U. zurück, wo er das väterliche Heimwesen übernahm und mit erfolgreichem Obst-, Wertpapier- und Liegenschaftenhandel mit der Zeit ein vermöglicher Geschäftsmann wurde (Vermögen laut Steuererklärung März 1959: Fr. 309'000.--), der, nach Scheidung seiner Ehe (1915), für sich bescheiden lebte, abgesehen von zahllosen Reisen nach fast allen europäischen Ländern, Nord- und Südamerika und Afrika, und in seiner Wohngemeinde als Wohltäter und Vereinsmäcen bekannt war. Ausgesprochen abwegig war die Entwicklung seiner Sexualität mit frühzeitiger Onanie und zunehmenden homosexuellen Neigungen, deren Betätigung zu einer langen Reihe von Strafurteilen wegen widernatürlicher Unzucht und Vergehens gegen die öffentliche Sittlichkeit führte, indem der alternde Mann sich immer wieder mit jungen Burschen verging, die er teils in seinem Dienste hatte, teils auf Reisen kennen lernte und zu sich einlud (folgt die Aufzählung der Strafen). Noch am Oktoberfest 1958 in München sowie im Frühjahr 1959 in Meran knüpfte der Greis mit jungen Burschen an, spendete ihnen Geld und liess sie zu sich nach U. kommen.
|
Nachdem schon im Jahre 1941 ein psychiatrisches Gutachten von Prof. Binder eine in mittlerem Grade verminderte Zurechnungsfähigkeit und ein zweites von Dr. Brunold (Königsfelden) von 1948 dasselbe zufolge abnormer Sexualentwicklung und arteriosklerotisch bedingter Funktionsschwäche des Gehirns festgestellt hatten, erhob der Gemeinderat U. im Juni 1958 gestützt auf die damals letzten Strafakten und ein neues Gutachten von Dr. Brunold vom 12. Juni 1958 Klage auf Entmündigung gemäss Art. 369 und 370 ZGB, welche das Bezirksgericht mit Urteil vom 22. April 1959 aussprach. Die vom Interdizenden hiegegen eingeleitete Beschwerde hat das Obergericht am 10. September 1959 abgewiesen.
|
Das Gutachten von Dr. Brunold vom 12. Juni 1958 konstatierte bei dem 79-jährigen Exploranden verschiedene psychische Ausfallserscheinungen, die es als Ausdruck einer organischen Hirnschwäche (sog. psychoorganisches Syndrom) zufolge der vorwiegend altersbedingten Rückbildung und Arteriosklerose des Gehirns bezeichnet. Diese schon vor 10 Jahren festgestellten krankhaften Veränderungen hätten sich in der Zwischenzeit in ausgesprochenem Masse verschlimmert. Wegen der organisch bedingten starken Herabsetzung der psychischen Hemmungsmechanismen gegenüber triebhaften Regungen bestehe bei X. trotz seinem Alter keine sichere Gewähr dafür, dass er sich in Zukunft nicht doch wieder deliktische Handlungen auf sexuellem Gebiet könnte zuschulde kommen lassen. Allerdings gehöre X., der als körperlich, besonders aber psychisch ausgesprochen krank zu beurteilen sei, nicht in eine Strafanstalt, aber er bedürfe praktisch dauernder Pflege. Er sei daher nicht straferstehungsfähig; anderseits lasse es sich aber doch kaum mehr verantworten, ihn wie bis anhin zu Hause allein haushalten zu lassen. Er gehöre in ein geeignetes Heim, wo er die nötige Pflege habe und auch eine gewisse Kontrolle und Aufsicht über ihn ausgeübt werden könne. Diese Massnahme wird - trotz zu erwartenden Schwierigkeiten der Anpassung - als unausweichlich bezeichnet. Der Gutachter fügt sodann bei, X. sei sehr kritiklos und es bestehe zweifellos eine gewisse Gefahr, dass er bei seiner Gutmütigkeit besonders in finanzieller Hinsicht ausgenützt werde; daher erschiene es als zweckmässig, wenn für ihn ein Beirat ernannt würde, dem seine Vermögensverwaltung überbunden werden sollte.
|
Die Auffassung des Experten lautet zusammengefasst dahin, X. sei psychiatrisch eindeutig als krank anzusehen; er gehöre in ein Heim der erwähnten Art, und es sollte ihm ein Beirat bestellt werden.
|
B. - Gegen das obergerichtliche Urteil richtet sich die vorliegende Berufung des Interdizenden mit dem Antrag auf Aufhebung desselben und Abweisung der Entmündigungsklage.
|
Der Gemeinderat U. trägt auf Abweisung der Berufung an.
|
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: |
a) Geisteskrankheit oder Geistesschwäche als Entmündigungsgrund ist jeder abnormale Geisteszustand dauernder Art, aus dem sich Schutzbedürftigkeit im Sinne des Art. 369 ergibt (BGE 62 II 264). Das Gutachten Dr. Brunold vom 12. Juni 1958 erklärt, dass der Beklagte als körperlich, besonders aber psychisch ausgesprochen krank zu beurteilen sei und wegen dieses seines Krankheitszustandes dauernder Pflege in einem Heim bedürfe, wo auch eine gewisse Kontrolle gewährleistet sei, welch letzteres Erfordernis sich nach dem Zusammenhang nur auf den Verkehr des Beklagten mit Jünglingen und Knaben beziehen kann. Die Vorinstanz hat diese Annahmen des Gutachters zu den ihrigen gemacht. Da es sich dabei um Feststellungen tatsächlicher Art (Krankheitszustand) handelt, sind sie gemäss Art. 60 Abs. 2 OG für die Berufungsinstanz verbindlich.
|
b) Lasterhafter Lebenswandel ist mit der Vorinstanz ebenfalls zu bejahen. Wie die Aufzählung der Strafurteile im Tatbestand zeigt, hat der Interdizend seit bald 30 Jahren und bis in das jetzige hohe Greisenalter hinein sich immer wieder als Homosexueller mit jungen Männern und Knaben vergangen. In seiner Wohngemeinde war diese Anomalie des X. dorfbekannt. Gewiss vermöchte, wie die Vorinstanz zutreffend bemerkt, eine einmalige derartige Verfehlung eine Entmündigung nicht zu rechtfertigen (BGE 69 II 18); aber das jahrzehntelange und mit der Zeit immer häufigere Delinquieren erfüllt das im Begriff "Lebenswandel" enthaltene Element des Ständigen, Dauernden. Ebenso trifft die Qualifikation "lasterhaft" zu. Der unzüchtige Verkehr zwischen Personen gleichen Geschlechts ist auf alle Fälle ein Laster, auch wo er nicht strafrechtlich verfolgt wird; a fortiori aber, wenn letzteres der Fall ist, wie es in casu immer zutraf. Mit Recht sagt die Vorinstanz: "Ein Verhalten, das den sittlichen Anschauungen der Allgemeinheit widerspricht und ausdrücklich unter Strafandrohung verboten ist und dem der Befallene keine wirksamen Hemmungen mehr entgegensetzen kann, erscheint als Laster im Sinne des Art. 370 ZGB". Auch die Doktrin anerkennt widernatürliche Unzucht, Päderastie als Entmündigungsgrund (vgl. EGGER, zu Art. 370 N. 47).
|
c) In die Entmündigungsvoraussetzung der Gefährdung der Sicherheit anderer (Art. 369, 370 ZGB) ist, wie der zit. Autor und die Vorinstanz mit Recht annehmen, auch die sittliche Gefährdung Dritter, namentlich Jugendlicher durch die Betätigung ungehemmter, zumal perverser Triebe miteingeschlossen. In der Berufungsschrift wird allerdings geltend gemacht, diese Gefährdung daure angesichts des Alters des Interdizenden nicht an, und bei ihrem Wegfall rechtfertige sich eine Entmündigung nicht mehr. Nach der Praxis genügt indessen der Umstand, dass die zu bevormundende Person während und unter dem Druck des Entmündigungsverfahrens ihren lasterhaften Lebenswandel aufgibt, nicht, um die Bevormundung abzuwenden (BlZR 15, 104; SJZ 11, 336; etwas einschränkend: BGE 83 II 275). Im vorliegenden Fall erklärt der Gutachter Dr. Brunold, wegen der erheblichen Herabsetzung der Hemmungsmechanismen gegenüber triebhaften Regungen bestehe beim Beklagten trotz seinem Alter keine sichere Gewähr dafür, dass er sich in Zukunft nicht doch wieder deliktische Handlungen auf sexuellem Gebiet könnte zuschulden kommen lassen. Und aus den Akten ergibt sich denn auch, dass er noch während des Entmündigungsverfahrens (ab 23. Juni 1958) Annäherungen der bekannten Art nicht aus dem Wege gegangen ist (München Oktober 1958; Meran Frühjahr 1959). Solange sein Interesse an 20-jährigen, für seine Munifizenz empfänglichen Jünglingen nicht erloschen ist, besteht auch die Gefährdung solcher Gelegenheitspartner.
|
d) Darüber hinaus ist aber auch die von der Vorinstanz als diskutabel bezeichnete Voraussetzung der eigenen Schutzbedürftigkeit des Interdizenden - wobei es sich um eine Rechtsfrage handelt - zu bejahen. Dabei ist nicht nur an die Verhütung weiterer Strafverfolgungen mit ihren schädlichen Folgen für Gesundheit, Ehre und Finanzen - (Anwaltshonorare pro 1957/58: Fr. 6714.50) - zu denken, sondern auch an die persönliche Gefährdung des begüterten homosexuellen Greises angesichts der häufigen Verbrechen im bezüglichen "Milieu", wovon der Beklagte sogar in seiner ländlichen Wohngemeinde im Falle P. ein warnendes Beispiel erlebt hat.
|
e) Nicht umsonst bezeichnet der Experte die Unterbringung des Beklagten in einem Heim als unausweichlich, und zwar trotz voraussichtlichen Anpassungsschwierigkeiten. Solche persönlichen Unannehmlichkeiten müssen, wie die Vorinstanz mit Recht bemerkt, gegenüber den wichtigeren öffentlichen Interessen zurücktreten. In allen Straffällen hat der Beklagte vor Gericht Reue bezeigt und Besserung versprochen, sich aber nie halten können. Heute sind daher in der Tat vormundschaftliche Massnahmen unumgänglich; und zwar genügt nicht Beiratschaft, sondern nur Vormundschaft, da nicht nur vermögensrechtliche, sondern in erster Linie persönliche Betreuung nötig ist (BGE 78 II 336).
|
4. Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder -schwäche darf nach Art. 374 Abs. 2 ZGB nur nach Einholung eines Sachverständigengutachtens erfolgen. Der Berufungskläger lässt geltend machen, es liege kein eigentliches Gutachten zur Frage der Entmündigung vor, da dasjenige von Dr. Brunold von einer Verwaltungsbehörde über die Frage der Straferstehungsfähigkeit des Beklagten eingeholt worden sei. Das Gesetz verlangt aber nicht, dass das Gutachten im Entmündigungsverfahren selbst erstattet sein müsse; wenn ein solches in einem Strafverfahren eingeholt wurde, das unmittelbar zur Einleitung des Entmündigungsverfahrens führte, so genügt dies, vorausgesetzt dass es alle nötigen Feststellungen enthält (Urteil vom 5. Februar 1947 i.S. Mattli). Dies trifft hier zu: der Gutachter äussert sich über den psychischen Krankheitszustand und sodann über die Schutzbedürftigkeit des Interdizenden. Diesen Befund zu würdigen und gestützt darauf zu erkennen, ob ein Entmündigungsfall gegeben sei, ist dann Sache des Gerichts (BGE 81 II 263).
|
Demnach erkennt das Bundesgericht:
|