BGE 86 II 13
 
3. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 15. Januar 1960 i.S. Luchsinger gegen Beglinger Söhne.
 
Regeste
Art. 56 Abs. 1 OR.
 
Sachverhalt
A.- Konrad Beglinger, unbeschränkt haftender Gesellschafter der Kollektivgesellschaft Beglinger Söhne, trieb am Morgen des 24. September 1955 bei Tageshelle zehn Kühe auf die Weide, wobei er, hinter der Herde gehend, die asphaltierte Kantonsstrasse Mollis-Netstal benützte. Unmittelbar vor Erreichung einer Linksbiegung im Feldbach, wo die Tiere geschlossen auf der rechten Hälfte der 5 m breiten Strasse einhergingen, begegnete die Herde etwa um 7.50 Uhr dem Motorradfahrer Markus Luchsinger, der, seine Ehefrau mitführend, mit seiner Maschine auf dem Wege von Schwanden nach München war. Obschon die Sicht wegen einer etwa 30 m langen und 1,5 m hohen Holzbeige, die auf der Innenseite der Biegung neben der Strasse stand und bis auf etwa 90 cm an diese heranreichte, so beschränkt war, dass Luchsinger die Herde zunächst nicht sehen konnte, fuhr dieser mit 70 km/h in die Biegung ein. Als er unvermutet die Herde erblickte, war er ihr schon so nahe, dass er trotz sofortigen kräftigen Bremsens weder rechtzeitig anzuhalten noch auszuweichen vermochte. Er streifte die linke Seite einer der vordersten Kühe und verletzte das Tier. Das Motorrad wurde schräg nach rechts an den Strassenrand getrieben. Die Eheleute Luchsinger blieben dort liegen, der Mann mit schweren, die Frau mit leichteren Verletzungen.
Das Polizeigericht des Kantons Glarus verurteilte Luchsinger am 29. September 1956 zu Fr. 30.- Busse, weil er mit übersetzter Geschwindigkeit gefahren sei und für sein Fahrzeug kein Ausweis bestanden habe (Art. 25 Abs. 1, 61 Abs. 1 MFG).
B.- Luchsinger erhob gegen die Gesellschaft Beglinger Söhne Klage auf Ersatz seines Schadens von angeblich Fr. 287'716.65 nebst Zins. Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage und widerklagsweise die Verurteilung des Klägers zur Zahlung von Fr. 820.90 nebst 5% Zins ab 2. August 1956. Der Kläger beantragte, die Widerklage abzuweisen.
Das Zivilgericht des Kantons Glarus wies die Klage ab, soweit es darauf eintrat, und verurteilte den Kläger in teilweiser Gutheissung der Widerklage, der Beklagten Fr. 620.50 nebst 5% Zins seit 2. August 1956 zu zahlen.
Das Obergericht des Kantons Glarus, an das der Kläger unter Wiederholung seiner Anträge appellierte, wies am 5. Mai 1959 die Appellation entsprechend dem Antrage der Beklagten ab und bestätigte das erstinstanzliche Urteil.
C.- Der Kläger hat die Berufung erklärt. Er beantragt dem Bundesgericht, die Beklagte zu Fr. 40'000.-- Schadenersatz nebst 5% Zins ab 1. August 1956 zu verurteilen und die Widerklage abzuweisen, eventuell das Urteil des Obergerichtes aufzuheben und die Sache zur Ergänzung des Beweises und zu neuer Beurteilung zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Wer ein Tier hält, haftet gemäss Art. 56 Abs. 1 OR für den Schaden, den es anrichtet, es wäre denn, er weise nach, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung angewendet habe oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.
Der Kläger macht mit Recht nicht geltend, die Beklagte habe ihre Sorgfaltspflichten im Sinne dieser Bestimmung schon dadurch verletzt, dass sie die zehnköpfige Herde die Kantonsstrasse benützen liess. Selbst Strassen mit regem Motorfahrzeugverkehr dürfen auch mit Viehherden begangen werden. Das ergibt sich aus dem Bundesgesetz über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr und der Vollziehungsverordnung dazu, die in verschiedenen Bestimmungen auf die Benützung der Strasse durch Vieh Rücksicht nehmen (Art. 25 Abs. 1, 34 MFG, Art. 39 Abs. 1 lit. b, 62 Abs. 2, 73 MFV). Hievon geht auch § 36 der Vollziehungsverordnung zum Strassengesetz für den Kanton Glarus vom 3. Mai 1925 aus.
Die Umstände verlangten auch nicht, dass die Beklagte die Herde, wie der Kläger meint, von zwei Personen begleiten lasse. Die abweichende Auffassung des Polizeigerichts des Kantons Glarus bindet den Zivilrichter nicht (Art. 53 Abs. 2 OR), um so weniger, als das Polizeigericht nur über die (strafrechtliche) Schuld Luchsingers, nicht auch über ein allfälliges Verschulden der Söhne Beglinger zu befinden hatte. Das Obergericht legt § 36 der Vollziehungsverordnung zum Strassengesetz für den Kanton Glarus, wonach jeder Transport von Gross- und Kleinvieh von mindestens einem Führer begleitet sein muss, dahin aus, dass für eine Herde von zehn Stück Grossvieh ein Begleiter genügte. An diese Auslegung kantonalen Rechts ist das Bundesgericht gebunden. Auch vom Standpunkt des eidgenössischen Rechts aus war kein zweiter Führer nötig, obwohl es Fälle gibt, in denen eine solche Herde tatsächlich von zwei oder mehr Personen begleitet wird (vgl. z.B. BGE 17 638). Zehn Kühe können in der Regel von einer Person so zuverlässig beaufsichtigt und geführt werden, dass die Tiere bei pflichtgemässem Verhalten der übrigen Strassenbenützer keinen Schaden verursachen. Auf übersichtlicher Strecke können die Motorfahrzeugführer die Herde sehen und, wie Art. 25 Abs. 1 MFG es ihnen vorschreibt, die Geschwindigkeit so herabsetzen, dass das Vieh nicht erschreckt wird und kein Unfall entsteht. Auf unübersichtlicher Strecke sodann haben sie die Geschwindigkeit schon deshalb zu mässigen, weil nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts niemand schneller fahren darf, als dass er beim plötzlichen Auftauchen eines Hindernisses die Gefahr eines Zusammenstosses rechtzeitig bannen kann (BGE 84 IV 106 und dort erwähnte Entscheide). Das gilt insbesondere auch für Motorradfahrer. Wer diese Pflicht erfüllt, kommt durch eine ordnungsgemäss ihres Weges gehende zehnköpfige Kuhherde gewöhnlich nicht zu Schaden. Ausnahmen sind möglich, z.B. wenn die Herde ungewöhnlich ängstliche oder störrische Tiere aufweist. Auch kann z.B. die Benützung unbewachter Bahnübergänge einen zweiten Begleiter erfordern. Solche oder ähnliche besondere Umstände, die die Begleitung durch eine einzige Person ungenügend gemacht hätten, bestanden im vorliegenden Falle nicht. Jedenfalls lagen keine Umstände vor, wonach an der Unfallstelle ein zweiter Begleiter nötig gewesen wäre. Die Tiere gingen geschlossen und ruhig auf der rechten Strassenhälfte ihres Weges. Der Kläger schweigt sich denn auch darüber aus, welchen Einfluss eine zweite Begleitperson auf sie hätte nehmen sollen, wenn von diesem verbindlich festgestellten Tatbestande ausgegangen wird. Er weist dem zweiten Begleiter die Rolle zu, der Herde voranzugehen und die ihr entgegenfahrenden Motorfahrzeugführer durch optische und akustische Zeichen zu warnen. Das Erscheinen der Herde, die zum mindesten ebensogut gesehen werden konnte wie ein Begleiter, der ihr vorangegangen wäre, war für einen die Geschwindigkeit pflichtgemäss den Sichtverhältnissen anpassenden Motorfahrzeugführer Warnung genug. Es obliegt nicht dem Halter der Herde, den anderen Strassenbenützern diese elementare Pflicht in Erinnerung zu rufen. Jeder Motorfahrzeugführer hat sie zu kennen und die Folgen ihrer Verletzung zu tragen. Hätte der Kläger sie befolgt, statt grob pflichtwidrig mit einer Geschwindigkeit einherzurasen, die ihn in der unübersichtlichen Rechtsbiegung gegen die Strassenmitte abtrieb und ihm beim Erblicken der Herde weder auszuweichen noch rechtzeitig anzuhalten erlaubte, so wäre er nicht zu Schaden gekommen.
Aus den gleichen Gründen hält auch die Auffassung des Klägers nicht stand, Konrad Beglinger als einziger Begleiter hätte mit einem Fahrrad einige Meter vor der Herde fahren sollen, um ihn zu warnen. Übrigens konnte Beglinger nicht wissen, dass der Kläger die Strassenbiegung so gewissenlos durchfahren werde. Von hinten konnte er zudem die Herde wirksamer überwachen als von vorn und war er auch besser in der Lage, einzugreifen, um gemäss Art. 34 MFG die linke Seite der Fahrbahn freizumachen, wenn ein Tier sie betreten und ein Motorfahrzeug aus der einen oder anderen Richtung herannahen würde. Erfahrungsgemäss ist solches Eingreifen in erster Linie hinten nötig, weil das Rindvieh zwar meistens den von vorne, seltener dagegen den von hinten kommenden Fahrzeugen aus eigenem Antrieb ausweicht. Befindet sich der Begleiter vorn, so ist es ihm auch nicht leicht möglich, die Tiere am Zurückbleiben zu hindern. Die Tatsache, dass Beglinger sich hinter der Herde befand, ist denn auch nicht zur Ursache des Schadens geworden. Wäre er den Tieren vorausgegangen oder vorausgefahren, so hätte er sie angesichts der übersetzten Geschwindigkeit und der Fahrweise des Klägers ohnehin nicht rechtzeitig noch weiter nach rechts treiben können. Durch einen dahin gehenden Versuch hätte er zudem sein Leben schwer gefährdet.
Die Beklagte hat den ihr obliegenden Entlastungsbeweis gemäss Art. 56 Abs. 1 OR erbracht und schuldet daher dem Kläger keinen Schadenersatz.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons Glarus vom 5. Mai 1959 bestätigt.