BGE 86 II 213 |
36. Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Juli 1960 i.S. R. |
Regeste |
Berufungsverfahren. Fehlen eines Berufungsbeklagten, von dem eine Berufungsantwort (Art. 61 OG) einzuholen wäre. Fall, dass die Vormundschaftsbehörde bei der Entziehung der elterlichen Gewalt (oder bei der Entmündigung) nicht Antragstellerin, sondern in erster Instanz entscheidende Behörde war. |
Sachverhalt |
A.- Der Giessereiarbeiter R. in T., der seit dem 15. September 1955 verwitwet ist, hat vier Kinder: Max, geb. 1943, Franz, geb. 1944, Robert, geb. 1945 und Charlotte, geb. 1949. Die Knaben befanden sich nach dem Tode der Mutter längere Zeit im staatlichen Erziehungsheim L., während das Mädchen bei den Grosseltern väterlicherseits untergebracht ist.
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Nachdem Max und Franz im Frühling 1959 aus der Schule entlassen worden waren, brachte R. alle drei Knaben (auch den noch schulpflichtigen Robert) in Stellen im Welschland unter. Im August 1959 telephonierte der Jugendfürsorger von Yverdon und Umgebung den Gemeindebehörden von T., die beiden Knaben Franz und Robert seien bei einem Landwirt "versorgt" und "möchten dort weg"; Franz möchte eine Lehre antreten, doch verweigere ihm dies sein Vater; die Knaben müssten den ganzen Tag schwer arbeiten und sähen keine Zukunft. Offenbar auf eine Erkundigung hin teilte der Vorsteher des Erziehungsheims L. der Vormundschaftsbehörde T. mit Schreiben vom 15. September 1959 u.a. mit, die Knaben Max und Franz hätten nach dem Schulaustritt einen Beruf erlernen wollen, wozu sie nach dem Ergebnis der Prüfung durch die Berufsberatungsstelle auch fähig gewesen seien; in Zusammenarbeit mit Postverwalter-Stellvertreter H. und der Fabrikfürsorgerin S. seien Lösungen gefunden worden, die für R. auch finanziell tragbar gewesen seien; dieser habe aber alle Vorschläge abgelehnt und Max und Robert bei Bauern, Franz in einem Bierdepot untergebracht. (Nach andern Angaben, auf welche die Vorinstanz in diesem Punkte abstellt, brachte R. schliesslich auch Franz bei einem Bauern unter.)
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B.- Die Vormundschaftsbehörde eröffnete R. am 15. Oktober 1959 die eingegangenen Berichte und suchte ihn von der Bedeutung einer Berufslehre für seine Söhne zu überzeugen. Schliesslich erklärte sich R. damit einverstanden, die Knaben einen Beruf erlernen zu lassen und die Ratschläge H.s anzunehmen. Er hielt jedoch sein Versprechen nicht. Als er deswegen auf den 3. Dezember 1959 zu einer Aussprache vor den Oberamtmann von Olten-Gösgen geladen wurde, erschien er nicht. Die Vormundschaftsbehörde beschloss darauf am 3. Dezember 1959, für die vier Kinder eine "Aufsichtsbeistandschaft im Sinne von Art. 283 ZGB" zu errichten. Hiegegen beschwerte sich R. beim Oberamtmann. Da die darauf folgenden Verhandlungen wiederum ergebnislos verliefen, wies der Oberamtmann die Vormundschaftsbehörde an, R. zu einer Verhandlung im Sinne von § 92 des solothurnischen Einführungsgesetzes zum ZGB (wonach die Vormundschaftsbehörde vor der Entziehung der elterlichen Gewalt die "angeschuldigten Eltern" einzuvernehmen hat) vorzuladen. Diese fand am 28. Januar 1960 statt. Nachdem R. neuerdings alle konkreten Vorschläge für die Berufsausbildung seiner Söhne abgelehnt hatte, beschloss die Vormundschaftsbehörde gleichen Tags, ihm gemäss Art. 285 ZGB die elterliche Gewalt über seine vier Kinder zu entziehen.
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Am 8. April 1960 hat der Regierungsrat des Kantons Solothurn die Beschwerde R.s gegen diesen Entscheid abgewiesen.
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C.- Hierauf hat R. die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit den Anträgen:
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"1. Der Entscheid des Regierungsrates des Kantons Solothurn vom 8. April 1960, sowie die Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde T. vom 3. Dezember 1959 (Errichtung einer Beistandschaft) und vom 28. Januar 1960 (Entzug der elterlichen Gewalt) seien aufzuheben.
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2. Der Entzug der elterlichen Gewalt und die Errichtung der Beistandschaft seien aufzuheben.
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3. Eventuell sei die Sache zur Ergänzung der tatbeständlichen Feststellungen und zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen."
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: |
1. Soweit sich die Berufung gegen die Errichtung einer Beistandschaft für die Kinder richtet, ist darauf schon deshalb nicht einzutreten, weil über diesen Punkt kein Entscheid der obern kantonalen Behörde im Sinne von Art. 48 OG vorliegt. Im übrigen ist der Beschluss über die Errichtung einer "Aufsichtsbeistandschaft im Sinne von Art. 283 ZGB" durch die nachher erfolgte Entziehung der elterlichen Gewalt implicite aufgehoben worden.
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2. ... (Die Berufung ist rechtzeitig erklärt worden.) 3. - Unter Vorbehalt von Art. 60 OG, wonach eine Berufung unter Umständen ohne Einholung einer Antwort erledigt werden kann, wird nach Art. 61 OG die Berufungsschrift dem Berufungsbeklagten mitgeteilt und ist dieser befugt, binnen zwanzig Tagen eine Antwort einzureichen. Diese Vorschrift kann im vorliegenden Falle nicht angewendet werden, weil kein Berufungsbeklagter vorhanden ist. Bei der Entziehung der elterlichen Gewalt, für welche gemäss Art. 285 und 288 ZGB in Verbindung mit Art. 54 des Schlusstitels des ZGB die Kantone die sachliche Zuständigkeit und das Verfahren ordnen, ist nach solothurnischem Recht (§ 92 des EG zum ZGB) die Vormundschaftsbehörde nicht antragstellende, sondern in erster Instanz entscheidende Behörde. Die Vormundschaftsbehörde T. ist also im vorliegenden Falle nicht Partei und kann folglich das in Art. 61 OG dem Berufungsbeklagten eingeräumte Recht zur Erstattung einer Antwort nicht beanspruchen, wie sie auch nicht berechtigt gewesen wäre, gegen einen nach ihrer Auffassung unrichtigen Entscheid der obern kantonalen Behörde die Berufung oder Anschlussberufung an das Bundesgericht zu erklären (vgl.BGE 46 II 3, BGE 82 II 216 oben; fernerBGE 50 II 97Erw. 2,BGE 56 II 345Erw. 1 und BGE 83 II 187, wo in Angelegenheiten im Sinne von Art. 86 Ziff. 1-3 des frühern bzw. Art. 44 lit. a-c des geltenden OG die Befugnis zur Ergreifung der zivilrechtlichen Beschwerde bzw. der Berufung solchen Behörden zugestanden wurde, die am kantonalen Verfahren als Gegenpartei des Bürgers beteiligt waren). Als Berufungsbeklagter kann im vorliegenden Fall aber auch nicht etwa ein privater Drittinteressent gelten, da im kantonalen Verfahren kein solcher als Partei zugelassen worden war. Die Einholung einer Berufungsantwort kommt daher nicht in Frage, sondern in derartigen Fällen ist nur die Vorinstanz befugt, sich (in Form von Gegenbemerkungen im Sinne von Art. 56 OG) zur Berufung zu äussern. Wenn nicht bei jeder Berufung ein Berufungsbeklagter vorhanden ist, so erklärt sich dies ohne weiteres daraus, dass die Berufung nicht bloss in Zivilrechtsstreitigkeiten (Art. 44 am Anfang, Art. 45 lit. a und Art. 46 OG) ergriffen werden kann, sondern auch in gewissen andern Zivilsachen (Art. 44 lit. a-c, Art. 45 lit. b OG), die von den kantonalen Behörden nicht oder jedenfalls nicht notwendigerweise in einem kontradiktorischen Zweiparteienprozess zu behandeln sind.
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4. In der Sache selbst steht fest, dass der Vorsteher des Erziehungsheims L. für die Knaben Max und Franz auf den Zeitpunkt ihrer Schulentlassung Lehrstellen gefunden hatte (für Max als Bauschlosser, für Franz als Optiker), die den Vater finanziell nur wenig belastet hätten, dass R. aber diese Vorschläge trotz stundenlangem Zureden ablehnte, den Kindern den Wunsch nach beruflicher Ausbildung auszureden suchte und schliesslich alle drei Knaben (auch den noch schulpflichtigen, der nach Auffassung des Heimleiters dringend des weitern Schulunterrichts in seiner Muttersprache bedurft hätte) im Welschland in Hilfsstellen unterbrachte, welche dann die beiden ältern Knaben (oder auf jeden Fall Franz) eigenmächtig wechselten. Als dann ungünstige Berichte aus dem Welschland eintrafen, konnte R. zwar mit viel Mühe dazu gebracht werden, dass er sich einverstanden erklärte, seine Söhne eine Berufslehre machen zu lassen und den Rat eines erfahrenen Mannes anzunehmen, hielt aber sein Versprechen nicht und lehnte alle weitern Vorschläge, die ihm unterbreitet wurden, rundweg ab, ohne dagegen sachliche Einwendungen erheben zu können. Damit hat er die ihm nach Art. 276 ZGB obliegende Pflicht, für die Ausbildung der Kinder in einem Berufe zu sorgen, gröblich verletzt.
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R. will dies freilich nicht gelten lassen, weil er sich seinerseits bemüht habe, für seine Kinder Lehrstellen zu finden, und weil er anderseits als ungelernter Arbeiter gar nicht verpflichtet sei, seine Kinder in einem Beruf ausbilden zu lassen. Diese Einwendungen sind jedoch unbehelflich.
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a) Richtig ist zwar, dass R. im Spätherbst 1958 mit der Bezirks-Berufsberatungsstelle Olten in Verbindung trat und sich für ausgeschriebene Schmiede- bzw. Schlosserlehrstellen interessierte, und dass er dann im April 1959 mit dem Inhaber eines Bierdepots in Leysin unterhandelte, der eine kaufmännische Lehrstelle anbot, und im August 1959 (also um die Zeit, da der Jugendfürsorger von Yverdon und Umgebung sich an die Gemeindebehörden von T. wandte) in der "Feuille d'Avis de Lausanne" ein Inserat erscheinen liess, wonach er für einen Knaben von 14 Jahren und einen solchen von 15 Jahren (also offenbar für Robert und Franz) "une bonne place libre" bzw. "une place" mit Gelegenheit zum Besuch von Kursen oder zum Absolvieren einer Handelslehre suchte. Diese Bemühungen führten aber nicht zu einem positiven Ergebnis. Ob R. schon vor dem Eingreifen der Vormundschaftsbehörde oder erst später mit den Personalchefs G. und Z. von der SBB- bzw. PTT-Verwaltung in Basel Fühlung genommen habe, kann dahingestellt bleiben; denn wenn er wirklich den ernsten Willen gehabt hätte, seinen Söhnen passende Lehrstellen zu verschaffen, hätte er nur den Vorschlägen des Vorstehers des Erziehungsheims L. zu folgen brauchen, der die Fähigkeiten und Neigungen der Knaben besser als er selber kannte und eine für ihn auch finanziell tragbare Lösung gefunden hatte. Eine Anstellung bei der Post, wie Z. sie offenbar hätte vermitteln sollen, ist R. übrigens bei der Verhandlung vom 28. Januar 1960 vorgeschlagen und von ihm abgelehnt worden. Seine ganze Haltung in dieser Angelegenheit ist also unzweifelhaft nicht durch irgendwelche sachliche Erwägungen, sondern durch reinen Eigensinn und, wie die Vorinstanz annimmt, durch Eigennutz bestimmt worden.
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b) Um darzutun, dass er nicht verpflichtet sei, seine Kinder einen Beruf erlernen zu lassen, beruft sich R. auf den Kommentar EGGER (N. 7 zu Art. 273 und N. 6 zu Art. 275 ZGB), wo es unter anderem heisst, die Eltern seien berechtigt, die Dienste der Kinder "nicht nur soweit erzieherisch geboten, sondern soweit als erzieherisch angängig in Anspruch zu nehmen"; sie seien zu einer ihren Verhältnissen entsprechenden Erziehung verpflichtet; es solle eine Erziehung sein, die den Kindern die Fortführung der elterlichen Lebensstellung ermögliche. Aus diesen Zitaten lässt sich jedoch keineswegs ableiten, dass ein ungelernter Arbeiter wie R. nicht gehalten sei, seinen Kindern eine berufliche Ausbildung zuteil werden zu lassen. Mit der Frage der Berufsausbildung befasst sich Art. 276 ZGB. Diese Bestimmung sieht die Ausbildung der Kinder in einem Beruf nach Anordnung der Eltern vor und weist die Eltern an, soweit möglich auf die körperlichen und geistigen Fähigkeiten und die Neigungen der Kinder Rücksicht zu nehmen. EGGER betont in N. 1 zu Art. 276 die grosse Bedeutung der beruflichen Tüchtigkeit für den einzelnen Menschen wie für die Öffentlichkeit und stellt im Anschluss daran fest: "Deshalb anerkennt das ZGB... einen Anspruch der Kinder auf berufliche Ausbildung. Die Eltern handeln pflichtwidrig und schuldhaft, wenn sie ihnen diese Ausbildung vorenthalten." Dieser Auffassung ist wenigstens für den Fall beizupflichten, dass die Gewährung einer solchen Ausbildung den Eltern bei gutem Willen finanziell möglich ist. Da die Knaben Max und Franz festgestelltermassen einen Beruf zu erlernen wünschten und nach dem Ergebnis einer Prüfung durch den Berufsberater hiezu geeignet waren, und da diese Ausbildung dem Vater nur geringe, für ihn tragbare Kosten verursacht hätte, handelte R. pflichtwidrig, indem er seinen Söhnen den Antritt der Lehre nicht erlaubte. Sein Hinweis darauf, dass es unbeanstandet hingenommen werde, wenn "Leute in viel besserer Situation ihre Kinder in die Fabrik schicken", kann hieran nichts ändern. Manche Kinder können mangels Eignung oder Neigung beruflich nicht so gefördert werden, wie es an sich wünschbar und angesichts der wirtschaftlichen Lage der Eltern möglich wäre, und im übrigen können die Missbräuche anderer, auch wenn sie ungeahndet bleiben, nicht zur Rechtfertigung eigener grober Fehler dienen.
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Richtig ist freilich, dass die Behörden nur dann zur Entziehung der elterlichen Gewalt schreiten dürfen, wenn mildere Massnahmen nichts fruchten (vgl.BGE 38 II 454,BGE 42 II 97). Diesem Grundsatz haben jedoch die Vorinstanzen nicht zuwidergehandelt. Die elterliche Gewalt wurde R. erst entzogen, nachdem alle andern Versuche, den Kindern zu einer angemessenen beruflichen Ausbildung zu verhelfen und sie vor dem verderblichen Einfluss eines ungebundenen Lebens zu bewahren, an der verfehlten Haltung R. gescheitert waren.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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