BGE 87 II 277
 
39. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. November 1961 i.S. Eheleute Sch.
 
Regeste
Ehescheidung wegen tiefer Zerrüttung (Art. 142 ZGB).
Pflichten der Ehegatten.
Die Annahme, dass dem klagenden Ehegatten die Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft zuzumuten sei, lässt sich nicht damit begründen, dass der beklagte Ehegatte bei gutem Willen imstande wäre, das Zusammenleben erträglich zu gestalten.
 
Sachverhalt
Der im Jahre 1907 geborene, seit 1955 verwitwete Kaufmann Sch. heiratete am 22. Mai 1957 die um sieben Jahre jüngere Journalistin Ch. Die Ehegatten vereinbarten, zunächst nicht beisammen zu wohnen. Der Ehemann besuchte die Frau zwei- bis dreimal im Monat über das Wochenende und zahlte ihr monatlich Fr. 300.--. In einem Eheschutzverfahren, das im Frühjahr 1959 auf Begehren der Ehefrau durchgeführt wurde, erklärte diese, sie sei bereit, die eheliche Gemeinschaft aufzunehmen, wenn der Ehemann in seinem Haus eine schickliche Wohnung einrichte; sie könne aber mit ihrer Stieftochter (geb. 1939), die ihr feindlich gesinnt sei, nicht zusammenleben. Der Ehemann erwiderte, er sehe keine andere Lösung als die Scheidung. Am 31. März 1960 erschien die Ehefrau am Wohnort des Mannes, worauf die Ehegatten knapp drei Wochen zusammenlebten. Am 19. April 1960 verliess die Ehefrau nach einem heftigen Streit das Haus des Mannes. Der von diesem hierauf eingeleiteten Scheidungsklage widersetzte sie sich, weil die Ehe nicht zerrüttet sei.
Der Appellationshof des Kantons Bern wies die (erstinstanzlich geschützte) Klage ab mit der Begründung, es treffe zwar zu, dass die Beklagte gegenüber ihrer Stieftochter ohne jeden ernsthaften Grund Eifersucht, Neid und Hass bekundet und über sie schwer herabsetzende Äusserungen getan habe und dass sie, nach verschiedenen Vorfällen zu schliessen, eine egozentrische, überhebliche, rücksichtslose, aggressive, selbstgerechte und einsichtslose Frau sei, die auf banale Vorkommnisse oder Ungeschicklichkeit ihrer Mitmenschen mit den schärfsten Mitteln reagiere. Der Kläger habe aber ihr Verhalten zunächst einfach hingenommen und sie dann am 19. April 1960 kurzerhand aus dem Hause geschickt. Er habe sich also nicht ernstlich um die Beseitigung oder Überbrückung der Charaktermängel seiner Frau bemüht. Die eheliche Gemeinschaft könne wieder aufgenommen werden, wenn die Beklagte ihrem unbeherrschten Temperament und ihrem Egoismus Zügel auflege, Selbstbeherrschung übe und auf die Angehörigen des Klägers Rücksicht nehme und wenn der Kläger mit ihr eine eigene Wohnung beziehe, mit ihr offen spreche, sie vor ihre Verantwortung stelle und nötigenfalls den Eheschutzrichter oder einen Psychiater anrufe. Die Fortsetzung der Ehe sei daher nicht unzumutbar.
Auf Berufung des Klägers hin spricht das Bundesgericht die Scheidung aus.
 
Aus den Erwägungen:
3. Die von der Vorinstanz festgestellten Charaktereigenschaften der Beklagten, insbesondere ihr unbeherrschtes, anmassendes und aggressives Wesen, wirkten sich für den Kläger auch abgesehen von den beleidigenden Äusserungen über seine Tochter sehr unangenehm aus, wie die von der Vorinstanz geschilderten Vorfälle zeigen. Auch wenn man der Beklagten zubilligt, dass die anormale Stellung, in der sie sich nach der Heirat bis zur Aufnahme des gemeinsamen Haushalts befand, bei ihr eine gewisse Gereiztheit auslösen konnte, und wenn man dem für diese Situation mitverantwortlichen Kläger deswegen ein besonderes Mass von Geduld zumutet, muss doch festgestellt werden, dass die heftigen Reaktionen der Beklagten das Mass des Erträglichen überschritten. Dass der Kläger sich bei den für ihn überaus peinlichen Vorfällen beim Fussballmatch in Lengnau und im Hotel in Brissago beherrschte und nachher mit der Beklagten nach Biel oder Neuenburg bzw. nach Hause fuhr, bedeutet nicht, dass er ihr Verhalten einfach passiv hingenommen habe. Die Annahme der Vorinstanz, er habe nicht einmal behauptet, ihr Vorhalte gemacht zu haben, beruht offensichtlich auf Versehen. Im vorinstanzlichen Parteiverhör hat der Kläger ausdrücklich erklärt, er habe der Beklagten nach diesen Ereignissen Vorwürfe gemacht, was ohne weiteres als glaubhaft erscheint. (Die Vorinstanz hat denn auch den Aussagen des Klägers in andern Punkten weitgehend Glauben geschenkt.) Dass der am 19. April 1960 nach den Vorfällen von diesem Tag erfolgten Wegweisung der Beklagten und der nachfolgenden Scheidungsklage keine Warnung vorausgegangen sei, stimmt im übrigen auch deswegen nicht, weil der Kläger bereits im Eheschutzverfahren vom Frühjahr 1959 von Scheidung gesprochen hatte.
Zu Unrecht sucht die Vorinstanz ihre Auffassung, dass dem Kläger die Fortsetzung der Ehe trotz dem aggressiven Verhalten der Beklagten zuzumuten sei, mit dem Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu stützen, wonach die Ehegatten ihren guten Willen für die Aufrechterhaltung der Ehe einzusetzen haben und sich, wenn Charaktereigenschaften zu Schwierigkeiten in der Ehe Anlass geben, nicht einfach gehen lassen und dem anders gearteten Ehepartner unduldsam begegnen dürfen, sondern durch Selbstbeherrschung und Anpassung an den andern nach Möglichkeit dafür zu sorgen haben, dass die beiderseits vorhandenen Eigenschaften sich nicht zum Nachteil der Gemeinschaft auswirken (BGE 72 II 401,BGE 74 II 66,BGE 79 II 341). Wenn auch das Verhalten des Klägers in anderer Hinsicht (zumal deswegen, weil er keine ernstlichen Bemühungen zur Herstellung eines gemeinsamen Haushalt unternahm) keineswegs fehlerfrei war, so kann ihm doch nach den vorliegenden Feststellungen nicht vorgeworfen werden, er habe es gegenüber der Beklagten an der nötigen Duldsamkeit fehlen lassen. Die Annahme, er hätte die Beklagte durch Anrufung des Eheschutzrichters oder Beizug eines Psychiaters dazu bringen können, sich besser zu beherrschen, widerspricht der Lebenserfahrung. Solche Massnahmen hätten höchstens dann Erfolg versprochen, wenn bei der Beklagten wenigstens ein Mindestmass von Einsicht in ihre Fehler vorhanden gewesen wäre. Dies war jedoch nach den eigenen Feststellungen der Vorinstanz (die u.a. auf die Selbstgerechtigkeit und Einsichtslosigkeit der Beklagten hinweist) nicht der Fall. Noch in ihrem Schreiben an den Kläger vom 19. April 1960 bezeichnete sich die Beklagte als untadelige Ehefrau, die ein ganz ruhiges Gewissen habe. Dass dem klagenden Ehegatten die Fortsetzung der Ehe zuzumuten sei, wenn der andere bei gutem Willen das Zusammenleben erträglich gestalten könnte, ist nicht der Sinn der von der Vorinstanz angerufenen Rechtsprechung. Ob die Ehegatten sich pflichtgemäss um Selbstbeherrschung und gegenseitige Anpassung bemühten, ist bei der Anwendung von Art. 142 Abs. 1 ZGB nur insofern von Bedeutung, als die Fortsetzung der Ehe nicht als unzumutbar bezeichnet werden kann, wenn der klagende Ehegatte selber es in der Hand hätte, die ehelichen Beziehungen zu verbessern (vgl.BGE 78 II 301). Dem Scheidungsbegehren des Klägers lässt sich daher nicht entgegenhalten, die Ehe der Parteien könne weitergeführt werden, wenn die Beklagte ihrem unbeherrschten Temperament und ihrem Egoismus Zügel anlege, wozu sie nach der Auffasung der Vorinstanz bei gutem Willen imstande wäre.
Wie dem aber auch sei, so kann dem Kläger auf jeden Fall angesichts der schon aus anderen Ursachen entstandenen schweren und nach der Lebenserfahrung nicht mehr zu überwindenden Konflikte unter den Parteien die Fortsetzung der Ehe nicht mehr zugemutet werden.
Dass die bestehende Zerrüttung im Sinne von Art. 142 Abs. 2 ZGB vorwiegend der Schuld des Klägers zuzuschreiben sei, macht die Beklagte mit Recht nicht geltend.
Dem Scheidungsbegehren des Klägers ist daher zu entsprechen.