BGE 88 II 241
 
35. Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Juli 1962 i.S. Eheleute W.
 
Regeste
Klage auf Ehescheidung wegen tiefer Zerrüttung (Art. 142 ZGB).
 
Sachverhalt
Die Eheleute W., geb. 1909 bezw. 1911, sind seit dem Jahre 1936 verheiratet. In den Jahren 1946 und 1949 kamen ihre beiden Kinder zur Welt.
Im Frühjahr 1959 klagte der Ehemann auf Scheidung der Ehe wegen tiefer Zerrüttung. Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage am 7. Oktober 1960 gemäss Antrag der Beklagten in Anwendung von Art. 142 Abs. 2 ZGB ab, weil die bestehende Störung des ehelichen Verhältnisses, das vor 1955 nicht ernsthaft getrübt gewesen sei, in erster Linie auf die im Jahre 1955 beginnenden, zum mindesten grob ehewidrigen Beziehungen des Klägers mit Fräulein X (geb. 1918) zurückgeführt werden müsse. Das Obergericht des Kantons Zürich hat dagegen nach Durchführung eines Beweisverfahrens mit Urteil vom 10. November 1961 die Scheidung ausgesprochen und deren Neben olgen geordnet.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Hauptantrag auf Abweisung der Klage.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Die Vorinstanz nimmt in Übereinstimmung mit dem Bezirksgericht an, die Ehe der Parteien sei im Jahre 1955, als der Kläger ehewidrige Beziehungen mit Fräulein X anknüpfte, noch nicht so tief zerrüttet gewesen, dass der Scheidungsgrund von Art. 142 Abs. 1 ZGB zugetroffen hätte. Auf Grund der Tatsachen, die sie für die Zeit vom Eheschluss (1936) bis zum Jahre 1955 festgestellt hat, ist dieser Annahme beizupflichten. Was der Kläger aus jenen 19 Jahren vorgebracht hat, sind gemäss verbindlicher Feststellung der Vorinstanz teils Dinge, denen er seinerzeit selber keine Bedeutung beimass (sog. Laienabtreibung im Jahre 1937), teils unbewiesene oder gar widerlegte Behauptungen oder Übertreibungen. Die wenigen Feststellungen der Vorinstanz über ein tadelnswertes Verhalten der Beklagten in jener Zeit erlauben keineswegs den Schluss, dass der Kläger schon 1955 die Scheidung hätte verlangen können. Wenn auf S. 5 des angefochtenen Urteils erklärt wird, die Beklagte habe anfangs der fünfziger Jahre begonnen, viel allein auszugehen, so ist dies schon deshalb unerheblich, weil weder über das Ausmass dieser Ausgänge bis zum Jahre 1955 noch über deren Wirkung auf die Beziehungen zwischen den Parteien nähere Feststellungen vorliegen. Bei der "lieblosen Kritik", welche die Beklagte gemäss S. 17 des Urteils in den Jahren 1948/49 an den beruflichen Fähigkeiten des Klägers geübt hat, handelt es sich um zwei vereinzelte belanglose Begebenheiten. Die Vorinstanz bemerkt zwar, von der fraglichen Stellungnahme der Beklagten könne nicht angenommen werden, "es habe sich um eine einmalige Äusserung zur Schwägerin gehandelt und (sie) sei nicht auch dem Kläger gegenüber ausdrücklich oder verhüllt zum Ausdruck gelangt". Damit hat sie aber keine Feststellung getroffen, sondern nur eine Vermutung geäussert. Im übrigen hat sie selber nicht gefunden, dass diese weit zurückliegende Angelegenheit im Jahre 1955 zur Stützung eines Scheidungsbegehrens hätte dienen können.
Hinsichtlich des Verhältnisses mit Fräulein X, das der Kläger demnach bei noch nicht ernstlich gestörter Ehe eingegangen ist, geht die Vorinstanz über die Einzelheiten, die für die Beurteilung der Schuld des Klägers bedeutsam sind, mit Stillschweigen hinweg. Aus dem bezirksgerichtlichen Urteil, auf dessen tatsächliche Ergebnisse die Vorinstanz verweist, und aus den Zugeständnissen des Klägers erhellt, dass er in den Jahren 1955/1957 mit Fräulein X drei Ferienreisen in seinem Auto unternahm, die u.a. nach Paris, Hamburg und Wien führten. Der Beklagten gab er an, er reise mit einem Franz Müller. Ausserdem begab er sich mit ihr nach Arosa, Genf, Grosswangen (Arbeitsort von Fräulein X), in die Umgebung von Zürich und nach Stuttgart. Manchmal war seine Schwester dabei, manchmal nicht. Es handelte sich also um sehr rege Beziehungen. Ob es dabei zu geschlechtlichen Vertraulichkeiten gekommen sei oder ob solche unterblieben seien, wie dies die Vorinstanz auf Grund der Zeugenaussagen von Fräulein X annimmt, ist im angefochtenen Urteil mit Recht als nebensächlich bezeichnet worden. Die Beziehungen mit dieser andern Frau haben auf jeden Fall eine Intensität erreicht und Formen angenommen, wie sie sonst nur bei ehebrecherischen Verhältnissen vorzukommen pflegen. Für einen in dieser Weise hintergangenen und beiseitegeschobenen Ehegatten ist es ein schlechter Trost, wenn ihm beteuert wird, es sei zu keinen Intimitäten gekommen. Selbst wenn er dies zu glauben vermag, steht er nach aussen doch als betrogener Ehegatte da. Zudem muss eine aussereheliche "Freundschaft" der in Frage stehenden Art den andern Ehegatten in gewissem Sinn eher noch mehr kränken als ein ehebrecherisches Verhältnis, bei dem er sich immerhin vorstellen kann, der untreue Ehegatte sei vielleicht einfach einer sinnlichen Begierde erlegen.
Vor diesem Hintergrund betrachtet, erscheint als wenig bedeutsam, dass der Kläger, wie die Vorinstanz erklärt, nach der Wienerreise vom Jahre 1957 seine "engen" freundschaftlichen Beziehungen zu Fräulein X "abgebrochen" hat. Dieser Abbruch bestand im wesentlichen nur darin, dass keine gemeinsamen Ferienreisen mehr unternommen wurden. Autofahrten wurden dagegen nach der eigenen Darstellung des Klägers immer noch gemacht. Wenn dies, wie der Kläger behauptet, nur noch selten und in Begleitung seiner Schwester geschah, so lag darin nach dem Vorausgegangenen trotzdem eine grobe Ungehörigkeit. Die Vorinstanz übersieht, dass in solchen Dingen der Schein nicht minder wichtig ist als die für den andern Teil nicht erkennbare Wirklichkeit und dass ein Ehegatte verpflichtet ist, auch den bösen Schein zu vermeiden, zumal wenn er wie hier für sein Verdacht erregendes Verhalten nicht die geringste erwägenswerte Begründung geben kann.
Verglichen mit dem langjährigen grob ehewidrigen Verhalten, das dem Kläger hienach zur Last fällt, sind die Handlungen, welche die Vorinstanz der Beklagten vorwirft, von so untergeordneter Bedeutung, dass es eine Bundesrechtsverletzung bedeutet, das Benehmen der Beklagten im gleichen Masse wie dasjenige des Klägers für die Zerrüttung der Ehe verantwortlich zu machen. Ohne erhebliche Bedeutung sind namentlich die abendlichen Ausgänge der Beklagten zu einer Zeit, da der Kläger ihr nichts mehr nachfragte, sondern - kurz vor und nach Einreichung des Scheidungsbegehrens - Prozessmaterial sammelte und zu diesem Zweck ein Verzeichnis ihrer Ausgänge anlegte. Die bereits erwähnten "lieblosen" Äusserungen erfolgten in den Jahren 1948/49, zu einer Zeit also, da die Ehe der Parteien nach Feststellung der Vorinstanz von der Zerrüttung noch weit entfernt war. Um jene Zeit wurde ja das zweite Kind der Parteien gezeugt. Bei den auf S. 17/18 des angefochtenen Urteils angeführten Äusserungen zum Thema der Untreue handelt es sich um unüberlegte Geschmacklosigkeiten, wie sie in weiten Kreisen als witzig gelten. Jedenfalls sieht man nicht, inwiefern diese einem Dritten gegenüber beiläufig erfolgten Bemerkungen die ehelichen Beziehungen gestört haben sollen. Was die Vorinstanz über das Verhältnis der Beklagten zu den Kindern der Parteien feststellt, hat sich alles während des Prozesses abgespielt. Zudem besagen diese Vorfälle nichts über das vorangegangene Verhältnis zwischen den Parteien selber. Ebenfalls in die Zeit nach Einreichung des Scheidungsbegehrens fällt die Weigerung der Beklagten, für die Familie zu kochen. Der Kläger hatte dieses Verhalten im übrigen provoziert, indem er das Haushaltungsgeld selbstherrlich von ca. Fr. 700. - auf Fr. 450.-- herabgesetzt hatte.
Zu Unrecht versucht die Vorinstanz, aus den "wenigen Beispielen, die im Prozess zu Tage traten oder nachgewiesen werden konnten", den Schluss zu ziehen, dass sich die ungünstigen Charaktereigenschaften, die sie der Beklagten vorwirft, auch sonst in der Ehe und im Familienleben nachteilig ausgewirkt haben. Dieses Vorgehen verstösst gegen Art. 158 Ziff. 1 ZGB, weil es darauf hinausläuft, die Scheidung zu einem wesentlichen Teil auf Tatsachen zu stützen, über die keinerlei konkrete Angaben gemacht werden können und von deren Vorhandensein der kantonale Richter sich darum auch nicht überzeugen konnte. Vollends unzulässig ist es, auf Grund der "allgemeinen Lebenserfahrung" bei einer Partei eine Charakterentwicklung anzunehmen, die zwar gelegentlich vorkommt, im gegebenen Fall aber nicht durch bestimmte Tatsachen sichtbar geworden ist. Im übrigen müssten eine bei der Beklagten in den letzten Jahren allenfalls eingetretene Verhärtung des Wesens und deren Auswirkungen in der Hauptsache auf das ehewidrige Verhalten des Klägers zurückgeführt werden.
Man hat es also in Wirklichkeit nur mit dem alltäglichen Falle eines Mannes zu tun, der sich, nachdem die Ehe viele Jahre ohne wesentliche Trübung verlaufen ist, einer andern Frau zuwendet und fortan an seiner Ehefrau alles Erdenkliche auszusetzen findet, was ihn bisher nicht erheblich gestört hat. Gerade solche Fälle will Art. 142 Abs. 2 ZGB treffen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
In Gutheissung der Berufung wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.