BGE 91 II 100 - Nachbarliche Bauschädigung |
15. Urteil der II. Zivilabteilung |
vom 28. Januar 1965 |
i.S. Tanner gegen Loder. |
Regeste |
Verantwortlichkeit des Grundeigentümers. Art. 679 ZGB. Ausfüllung einer Lücke des Gesetzes durch den Richter. Art 1 Abs. 2 und 3 ZGB. |
Führen Bauarbeiten und -vorrichtungen (auch solche auf öffentlichem Boden) zu beträchtlicher Schädigung eines Nachbars infolge vonEinwirkungen, welche die Grenzen des ordentlichen Nachbarrechts (Art. 684 ZGB) überschreiten, jedoch als unvermeidlich während der Bauzeit zu dulden sind, so hat der bauende Eigentümer nach richterlichem Ermessen Ersatz zu leisten. |
Sachverhalt |
A. |
Der Kläger Ernst Loder betrieb von Mitte 1955 bis Mitte 1961 als Mieter die Bäckerei-Konditorei, die sich in einem Eckhaus der Innenstadt von Biel, auf der Westseite der Nidaugasse, bei der Einmündung der Unionsgasse, und zwar auf deren Südseite, befindet. Diesem Grundstück (Nr. 1329) gegenüber, auf der Nordseite der Unionsgasse, liegt das Grundstück Nr. 1322 der Beklagten Frau Elsa Tanner-Sigwart, das sich in westlicher Richtung von der Nidaugasse bis zur A. F. Molz-Gasse erstreckt. Hier liess die Beklagte in den Jahren 1958 bis 1960 ein modernes Geschäftshaus errichten. Vom August 1958 an wurde die Baustelle abgeschrankt und dabei der Strassenboden der Unionsgasse in den Werkplatz einbezogen. Die Abschlusswand liess längs der Bäckerei des Klägers nur einen 1,70 m breiten Trottoirstreifen frei, so dass die Bäckerei auf der Seite der Unionsgasse nur durch diesen schmalen Durchgang betreten werden konnte. Der andere Ladeneingang, an der Nidaugasse, blieb zwar frei; doch war der Bauplatz auch gegen die Nidaugasse abgeschrankt, und es war längs der nach Osten vorstehenden Bretterwand lediglich ein 1,lo m breiter Wegstreifen mit einem strassenseitigen Röhrengeländer angelegt worden. Auf dem Bauplatz war südseits ein Kran aufgestellt. Auf den Abbruch des alten Gebäudes folgten die Tiefbauarbeiten. Sie wurden durch den Erdaushub eingeleitet und im Januar 1960 mit dem Rückzug der Larssenwände abgeschlossen. Am 1. August 1960 war der Rohbau mit der Decke über dem Attikageschoss vollendet; im Oktober 1960 trat der Kran ausser Betrieb, und im folgenden Monat fiel auch die Bauabschrankung an der Nidaugasse weg, während diejenige an der Unionsgasse wegen städtischer Kanalisations- und Hausanschlussarbeiten noch bis anfangs Februar 1961 stehen blieb. In der ersten Dezemberwoche 1960 hatte bereits ein Ladengeschäft des Neubaues bezogen werden können.
|
B. |
Schon im Sommer 1959 wies der Kläger die Beklagte auf die nachteiligen Auswirkungen der Bauvorrichtungen und -arbeiten auf die benachbarten Liegenschaften hin. Mit der am 16. November 1961 beim Appellationshof des Kantons Bern eingereichten Klage belangte er die Beklagte auf Schadenersatz in einem gerichtlich zu bestimmenden, von ihm auf 66'500.-- bemessenen Betrage. Er machte geltend, bei der Neuüberbauung des Nachbargrundstückes sei sein Gewerbebetrieb in mannigfacher Weise beeinträchtigt worden, und es sei ihm dadurch ein von der Beklagten zu ersetzender Schaden erwachsen. Die Beklagte lehnte es ab, für einen allfälligen Schaden solcher Art aufzukommen. Der Appellationshof führte eine Buchexpertise durch, die ergab, dass der Kläger in der Zeit vom 6. August 1958 bis zum 10. November 1960 eine Gewinneinbusse von etwa Fr. 14'500.-- erlitten hat. Zum Teil ist aber der Rückgang des Geschäftsumsatzes auf die Eröffnung von Konkurrenzgeschäften zurückzuführen. Den Auswirkungen des Baubetriebes und der dazu angebrachten Vorrichtungen ist, wie der Appellationshof "nach freiem Ermessen unter Berücksichtigung allgemeiner Erfahrungen sowie der gesamten Verumständungen des Falles" feststellt, ein Schadenbetrag von Fr. 6000.-- zuzuschreiben. Diesen Betrag hat der Appellationshof dem Kläger durch Urteil vom 27. April 1964 nebst Verzugszins zugesprochen. Er begründet sein Urteil damit, dass es bei den Bauarbeiten anlässlich der Neuüberbauung des Grundstückes der Beklagten zu übermässigen Einwirkungen auf die benachbarten Liegenschaften gekommen sei. Zwar sei die gewiss recht lange Bauzeit von zwei Jahren und drei Monaten nicht, wie der Kläger behaupte, übermässig gewesen. Die Sichtbehinderung, der Baulärm, der Staub und die Abschrankungen hätten sich aber auf den Gang des Geschäftes des Klägers nachteilig ausgewirkt. Zeugen hätten beobachtet, dass viele Leute dem Baustaub unmittelbar um den Bäckereiladen des Klägers herum ausgewichen seien. Der auf die Bauarbeiten und -vorrichtungen zurückzuführende Schaden sei beträchtlich. Für den auf die erwähnte Weise festgestellten Betrag sei die Beklagte verantwortlich.
|
C. |
Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung der Beklagten mit dem erneuten Antrag auf Abweisung der Klage.
|
Der Kläger beantragt Abweisung der Berufung.
|
Auszug aus den Erwägungen: |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
|
Erwägung 1 |
Erwägung 2 |
2.- In rechtlicher Hinsicht will die beklagte Partei nicht gelten lassen, dass die von einer Baustelle ausgehenden Einwirkungen auf Nachbargrundstücke - Lärm, Staub, Erschütterung, Sicht- und Zugangserschwerungen - eine Verantwortlichkeit des bauenden Eigentümers nach Art. 679 ZGB zu begründen vermögen, wenn das Baugeschehen in jeder Hinsicht einwandfrei war und sich die in Frage stehenden Einwirkungen samt und sonders nicht vermeiden liessen. Unter diesen Umständen - und so verhalte es sich nach den vom Appellationshofe festgehaltenen Ergebnissen der Beweisführung - könne von einer "Überschreitung des Eigentumsrechts" im Sinne von Art. 679 ZGB nicht gesprochen werden.
|
Es trifft zu, dass der Appellationshof die vom Kläger als übermässig lang bezeichnete Bauzeit von zwei Jahren und drei Monaten als angemessen befunden hat; die Bauarbeiten seien tunlich rasch ausgeführt und nicht über Gebühr verzögert worden. Das Urteil betrachtet ferner die Werkplatzanlagen, namentlich auch diejenigen, welche mit behördlicher Bewilligung auf dem Strassen- und Trottoirboden aufgestellt wurden, als technisch notwendig und die in Frage stehenden Einwirkungen auf die Nachbargrundstücke als unvermeidlich. Dennoch gelangt das Urteil zur Gutheissung der Klage. Es hält dafür, von den Bauarbeiten und -vorrichtungen ausgehende Einwirkungen hätten nach Art, Stärke und Dauer das dem Kläger zumutbare Mass überschritten. Die Vorinstanz folgt dabei der Betrachtungsweise des bundesgerichtlichen Urteils vom 19. September 1957 i.S. Perrin gegen Vitra SA (BGE 83 II 375 ff.). Dort wird mit näherer Begründung ausgeführt, die Unzukömmlichkeiten, die sich aus den Werkplatzanlagen und den Bauarbeiten für ein Nachbargrundstück ergeben, dürften gewisse Grenzen nicht überschreiten. Der Richter habe das zulässige Mass zu bestimmen und zu diesem Zweck die gesamten Umstände zu berücksichtigen und die beidseitigen Interessen abzuwägen. Im vorliegenden Falle hält der Appellationshof dafür, Schädigungen, wie sie der Kläger infolge der Errichtung des Neubaues der Beklagten während der Bauzeit erlitten hat, seien ihm als Nachbar nicht zuzumuten gewesen. Somit habe die Beklagte ihr Eigentumsrecht überschritten und sei nach Art. 679 ZGB schadenersatzpflichtig.
|
Die Beklagte betrachtet diese Argumentation als widerspruchsvoll. Einerseits werde ihr keinerlei rechtswidriges Verhalten bei der Projektierung und Ausführung ihres Neubaues vorgeworfen; anderseits solle die dem Kläger erwachsene Schädigung dann gleichwohl auf eine "Überschreitung des Eigentumsrechts" zurückgeführt werden. Für die Folgen einer rechtmässigen Ausübung des Eigentums könne aber der Bauende nicht verantwortlich gemacht werden. Ein solches Verhalten falle nicht unter die Haftungsnorm des Art. 679 ZGB. Was das von der Vorinstanz herangezogene Präjudiz (BGE 83 II 375 ff.) betrifft, so verweist die Beklagte auf die kritischen Bemerkungen von P. LIVER (ZbJV 95 S. 20 ff.). Dieser Autor nimmt Anstoss daran, dass jene Entscheidung Massnahmen, ohne welche die unerlässlichen Bauarbeiten auf einem Grundstück überhaupt nicht durchgeführt werden können, als widerrechtlich betrachtet, weshalb der Bauende zu Schadenersatz verpflichtet sei, wenn die Beeinträchtigung eines Nachbars während der Bauzeit ein gewisses Mass überschreitet. Er bemerkt dazu, die Ablenkung des Passantenverkehrs von einem bestimmten Geschäftslokal stelle jedenfalls keine unmittelbare Einwirkung in den Grundstücksraum des Nachbars dar. Es handle sich um eine mittelbare Einwirkung, eine sog. Immission, und zwar eine negative, wozu auch positive wie namentlich der Baulärm treten können. Hiefür den bauenden Grundeigentümer als haftbar zu erklären, erscheine bedenklich. Dies namentlich, weil die Frage, ob und wie aufeinem Grundstück gebaut werden dürfe, wie das Bundesgericht entschieden habe (BGE 40 II 335), gar nicht nach Art.684 ZGB zu beurteilen sei. Eher käme eine Haftung des Gemeinwesens in Frage, welches im Interesse eines privaten Bauherrn ein Strassenstück vorübergehend dem Verkehr entzieht. Allerdings könne mitunter der Neubau, der Umbau oder die notwendige Reparatur gar nicht ohne Benutzung des Strassenareals durchgeführt werden. Darin liege aber gerade die von der besprochenen Entscheidung ungelöst gelassene Problematik der Haftung sowohl des Gemeinwesens wie auch des privaten Grundeigentümers. Das Urteil möge "als blosses Billigkeitsurteil seine Anerkennung finden".
|
Indessen ergibt sich bei näherer Prüfung der gewiss problematischen Haftungsfrage, dass die in BGE 83 II 375 ff. für richtig befundene Lösung der rechtlichen Grundlage nicht entbehrt. Freilich lässt sich die Haftung des bauenden Grundeigentümers für unvermeidliche Immissionen nicht einfach auf Art. 679 ZGB stützen. Diese Norm macht den Grundeigentümer in der Tat bloss für "Überschreitungen" seines Eigentumsrechts, also nicht für die Folgen einer in allen Teilen rechtmässigen Eigentumsausübung verantwortlich. Zu beachten ist jedoch, dass es bei Ausführung einer Baute zu Immissionen kommen kann, die zwar unvermeidlich sind und daher hingenommen werden müssen, jedoch das ordentlicherweise bei der Benutzung und Bewirtschaftung des Grundstückes nach den allgemeinen Grundsätzen des Nachbarrechts (Art. 684 ZGB) Zulässige nach Art, Stärke und Dauer weit übersteigen. Vor und nach Errichtung des Neubaues wären Einwirkungen, wie sie hier die Bauzeit mit sich brachte, schlechthin unzulässig gewesen; denn es steht einem Grundeigentümer inmitten eines städtischen Quartiers keineswegs zu, bei der gewöhnlichen Benutzung und Bewirtschaftung seines Grundstückes die Nachbarschaft mehr als zwei Jahre lang mit geringen Unterbrechungen auf solche Weise mit Lärm- und Staubeinwirkungen zu belästigen und zu schädigen und dabei erst noch die Zugangswege zum nachbarlichen Ladengeschäft durch Belegung und Abschrankung des öffentlichen Strassenbodens (wenn auch mit behördlicher Bewilligung) zu verschlechtern. All dies entgeht dem Vorwurf der Rechtswidrigkeit nur eben wegen des dem bauenden Grundeigentümer zuzuerkennenden Privilegs, wonach er an die Regeln des ordentlichen Nachbarrechts (Art. 684 ZGB) nicht unbedingt gebunden ist, sondern, soweit es sich bei der Bauausführung nicht vermeiden lässt, in den Rechtsbereich der Nachbarn eingreifen darf (was auch P. Liver, mit Hinweis auf BGE 40 II 335, erwähnt). Mit dieser Rechtslage rechnet Art. 679 ZGB gar nicht. Er will vornehmlich der Verwirklichung der nachbarrechtlichen Regeln des Art. 684 ZGB dienen (vgl. BGE 88 II 263) und fasst nur den Fall ins Auge, dass diese Regeln den gegebenen Sachverhalt beherrschen. Welche Rechtsfolgen eintreten, wenn ausnahmsweise, bei der Bauerrichtung, Übergriffe in den ordentlichen Rechtsbereich der Nachbarn erlaubt sind, wird vom Gesetze nicht bestimmt. Es besteht also eine Gesetzeslücke, die der Richter auszufüllen hat. Hiebei fallen vorbeugende Massnahmen mit verhindernder Wirkung, wie sie Art. 679 in erster Linie vorsieht, ausser Betracht; denn die dem Privileg des Bauenden entsprechende Duldungspflicht der Nachbarn schliesst dem Begriffe nach das Recht zur Verhinderung aus. Eine Schadenersatzpflicht verträgt sich dagegen mit dem Vorrecht, ausnahmsweise in fremde Rechtsbereiche einzugreifen, sehr wohl; ja sie ist dessen angemessenes Gegenstück. Die in Frage stehende Gesetzeslücke - die beim Erlass des ZGB noch kaum erkennbar war, jedoch dann im Lauf der Jahrzehnte infolge der Entwicklung der maschinellen Baumethoden und der häufigen Inanspruchnahme öffentlichen Bodens immer mehr erkennbar geworden ist - soll nicht in der Weise ausgefüllt werden, dass sich eine reine Billigkeitsentscheidung ergibt. Vielmehr ist nach gesetzgeberischer Methode zu verfahren (vgl. MEIER-HAYOZ, zu Art. 1 ZGB N. 41 und zu Art. 4 N. 74), also eine Lösung zu suchen, die sich folgerichtig in das Gefüge der gesetzlichen Bestimmungen einreihen lässt. Unter dem Gesichtspunkt des gerechten Interessenausgleichs, der auch dem Art. 679 ZGB zu Grunde liegt, erscheint es nun als angezeigt, die Schadenersatzpflicht im Anschluss an die soeben erwähnte Haftungsnorm grundsätzlich auch dann zu bejahen, wenn die Überschreitung der Schranken des Nachbarrechts mit Rücksicht auf das besondere Interesse des bauenden Grundeigentümers und auf die Erfordernisse der Bauausführung ausnahmsweise zu dulden war. Diese Lösung steht im Einklang mit Gesetzesbestimmungen, welche an die Zuerkennung von Sonderrechten, insbesondere von Befugnissen zum Eingriff in fremde Rechtsbereiche, gleichfalls eine Entschädigungspflicht knüpfen (vgl. Art. 694 und 701 ZGB; ferner Art. 5 des Bundesgesetzes über die Enteignung, wonach die aus dem Grundeigentum hervorgehenden Nachbarrechte den Gegenstand einer - naturgemäss mit Entschädigungspflicht verbundenen - Enteignung bilden können).
|
Erwägung 3 |
3.- Bei der Beurteilung solcher Ansprüche ist dem Richter (etwa entsprechend dem Grundsatz des Art. 52 Abs. 2 OR) ein weiter Spielraum zu belassen. Blosse Unzukömmlichkeiten, wie sie sich bei der Errichtung eines Baues gewöhnlich für die Nachbarschaft ergeben, vermögen einen Anspruch auf Ausgleich in Geld nicht zu rechtfertigen. Führen die ausserordentlichen Einwirkungen aber zu einer beträchtlichen Schädigung von Nachbarn (seien es Eigentümer oder Besitzer aus beschränktem dinglichem oder persönlichem Recht; BGE 83 II 379 Erw. 1), so ist die Ersatzpflicht grundsätzlich zu bejahen. So verhält es sich hier. Die Beklagte wendet zwar ein, die dem Kläger für die ganze Bauzeit zugesprochene Entschädigung ergebe für den einzelnen Werktag einen zu deckenden Schaden von bloss etwa 9 Franken, was nicht als beträchtlich erscheine. Allein ein Schaden von mehreren tausend Franken ist nicht minder beträchtlich, wenn er im Lauf einer langen Bauzeit angewachsen ist, als wenn er auf einmal oder binnen einer kurzen Bauperiode eingetreten wäre. Im übrigen beruht das angefochtene Urteil auf einer rechtlich einwandfreien Ausübung richterlichen Ermessens.
|
Entscheid: |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
|
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationshofes des Kantons Bern vom 27. April 1964 bestätigt.
|