BGE 95 II 7
 
2. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Februar 1969 i.S. Frima Verwaltungsanstalt gegen Virginia Leeds-Jantzen.
 
Regeste
Recht auf Näherbau. Voraussetzungen (Art. 674 Abs. 3 inVerbindung mit Art. 685 Abs. 2 ZGB).
 
Sachverhalt
A.- Die Frima Verwaltungsanstalt ist Eigentümerin der Parzelle Nr. 1701 in Davous-Plaun, Gemeinde St. Moritz. Die westlich davon liegende Parzelle Nr. 1669 gehört Frau Virginia Leeds. Der Steilhang, der südlich an die genannten Villen-Grundstücke grenzt, bildet die Parzellen Nr. 1671 und 1672, die ebenfalls Frau Leeds gehören. Diesen Steilhang durchschnitt der sogenannte Kulmweg, ein Fussweg von ca. zwei Meter Breite, der schräg von Osten nach Westen aufstieg und dann längs der südlichen Grenze der Besitzung Nr. 1669 vorbeiführte. Er bildete die Parzelle Nr. 1664 und gehörte der AG Grand-Hotels Engadiner Kulm.
Im Frühjahr 1965 erklärte sich die Eigentümerin des Weges damit einverstanden, dass Frau Leeds ihn so verlegen lasse, dass er das Gelände unmittelbar vor deren Wohnhaus nicht mehr berühre. Die entsprechenden Arbeiten liess Frau Leeds bald darauf in Angriff nehmen. Der Weg musste nach Osten versetzt und wegen des zu überwindenden beträchtlichen Höhenunterschiedes in einer Schleife mit zwei Wendeplatten angelegt werden. Später wurden das ursprüngliche Projekt abgeändert und die obere Kehre noch weiter nach Osten, unter das Wohnhaus der Frima, verlegt. Von dort führt der neue Weg längs der Grenze des der Frima gehörenden Grundstücks Nr. 1701 in die Höhe. Infolge des steil abfallenden Hanges musste für die obere Wendeplatte eine Mauer errichtet werden, die talseits 5,71 m hoch ist und sich dann verjüngt, bis sie bergseits die Quote Null erreicht. Ihre gesamte Kurvenlänge misst 5,05 m. Davon liegen rund drei Meter innerhalb des gesetzlichen Grenzabstandes, der gemäss Art. 114 Abs. 1 des Bündner Einführungsgesetzes zum Zivilgesetzbuch vom 5. März 1944 für Hochbauten zum Nachbargrundstück 2,5 m betragen muss. In diesem Bereich verjüngt sich die Höhe der genannten Mauer von 5,23 m bis auf Null.
B.- Der Vertreter der Frima war während des Baues abwesend und kehrte erst einige Tage vor Weihnachten 1965 nach St. Moritz zurück, als die Gegend schon eingeschneit war. Die Wendeplatten waren damals erstellt; die ganze Weganlage sollte jedoch 1966, nach der Schneeschmelze, vollendet werden.
Mit Briefen vom 20. und 21. April 1966 verlangte die Frima beim Gemeindevorstand von St. Moritz die sofortige Einstellung des Weiterbaues und den Abbruch der innerhalb des gesetzlichen Grenzabstandes errichteten Mauerteile. Am 7. Mai 1966 leitete sie zudem beim Kreisamt Oberengadin ein Befehlsverfahren ein mit den Begehren, Frau Leeds sei zu verpflichten, die Arbeiten innerhalb des gesetzlichen Grenzabstandes einzustellen und die dort bereits ausgeführten Bauten zu beseitigen. Das Kreisamt schützte die Begehren. Der Bezirksgerichtspräsident von Maloja, an den Frau Leeds rekurrierte, hob diesen Entscheid jedoch am 7. Oktober 1966 aufund wies das Gesuch ab.
C.- Am 28. März 1967 reichte die Frima gegen Frau Leeds beim Bezirksgericht Maloja eine Klage mit folgendem Rechtsbegehren ein:
"Es sei die Beklagte zu verpflichten, die auf ihrer Parzelle Nr. 1672 ... errichtete Baute (Mauerwerk) auf die gesetzliche Distanz von 2,5 m von der Grenzlinie zurückzuversetzen und das zwischen der Grenzlinie und dem Mauerwerk aufgeschüttete Material abzutragen und wegzuführen".
Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage; für den Fall der Gutheissung verlangte sie widerklageweise die Anerkennung eines Schadenersatzes von Fr. 60'000.--.
Das Bezirksgericht Maloja wies die Klage ab; in der Urteilsbegründung wurde im wesentlichen ausgeführt, es handle sich bei der streitigen Baute in Wirklichkeit um eine Stützmauer, die gemäss Art. 119 Abs. 3 2. Satz des Bündner Einführungsgesetzes zum Zivilgesetzbuch nicht unter die Abstandsvorschriften dieses Gesetzes falle.
Die Klägerin legte Berufung beim Kantonsgericht ein. Die Beklagte stellte in diesem Verfahren das weitere eventuelle Widerklagebegehren, es sei ihr gegen angemessene Entschädigung an die Klägerin ein Näherbaurecht einzuräumen. Mit Urteil vom 24./25. Oktober 1968 wies auch das Kantonsgericht von Graubünden die Klage ab (freilich nicht im Dispositiv, sondern nur in den Erwägungen), wodurch die ursprünglich gestellte Eventualwiderklage auf Schadenersatz gegenstandslos wurde. Dagegen hiess es die nachträglich gestellte Eventualwiderklage auf Einräumung eines Näherbaurechts gut und verpflichtete die Beklagte, der Klägerin dafür eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen. Das Kantonsgericht ist der Auffassung, die Mauer der Wendeplatte falle unter die Regel des ersten Satzes des Art. 119 Abs. 3 des Bündner Einführungsgesetzes zum Zivilgesetzbuch, wonach für Mauern von Tiefbauten, welche den Erdboden überragen, die Abstandsvorschriften für Hochbauten gelten. Die Beklagte sei jedoch bei der Erstellung der Mauer gutgläubig gewesen, so dass die Klage nur gutgeheissen werden könnte, wenn die Klägerin gemäss Art. 685 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 674 Abs. 3 ZGB rechtzeitig Einspruch erhoben hätte. Diese Voraussetzung fehle, weil der Vertreter der Frima auch um die Weihnachtszeit trotz des Schnees hätte erkennen können, dass ein Teil der Mauer innerhalb des gesetzlichen Grenzabstandes erstellt worden sei. Trotzdem habe er sich erst Ende April 1966 an die Gemeinde St. Moritz gewandt und mit dem Befehlsverfahren bis am 7. Mai 1966 zugewartet. Es liege demzufolge kein rechtzeitiger Einspruch vor.
D.- Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende Berufung der Klägerin mit den Anträgen:
"1. Die Beklagte sei zu verpflichten, die auf ihrer Parzelle Nr. 1672, Grundbuch St. Moritz, errichtete Baute (Mauerwerk) auf die gesetzliche Distanz von 2,5 m von der Grenzlinie zurückzuversetzen und das zwischen der Grenzlinie und dem Mauerwerk aufgeschüttete Material abzutragen und wegzuführen.
2. Event. sei das angefochtene Urteil zu bestätigen".
E.- Die Beklagte beantragt Abweisung der Berufung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
4. Da die Baute somit den Vorschriften des Nachbarrechts zuwiderläuft, finden gemäss Art. 685 Abs. 2 ZGB die Bestimmungen betreffend überragende Bauten, nämlich Art. 674 ZGB, Anwendung. Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem dies für ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden (Art. 674 Abs. 3 ZGB). Mit der nachträglichen eventuellen Widerklage hat sich die Beklagte auf diese Bestimmung gestützt und sie dem Beseitigungsanspruch der Klägerin entgegengehalten. Der Natur der Sache nach handelt es sich dabei nicht um die Zuweisung des Eigentums am Boden oder des dinglichen Rechts an einem Überbau, sondern um die Gewährung eines Näherbaurechts. Dabei ist im einzelnen zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 674 Abs. 3 ZGB gegeben seien.
a) Erforderlich ist der gute Glaube des Bauenden. Darüber findet sich im angefochtenen Urteil nur die Bemerkung: "In casu gelang es dem Kläger nicht, den bösen Glauben der Beklagten zu beweisen", wobei offenbar von der Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 ZGB ausgegangen wird. Es fehlen im Urteil der Vorinstanz tatbeständliche Feststellungen, die einen gegenteiligen Schluss zulassen würden. Ausserdem ficht die Klägerin diesen Punkt nicht an, und sie tut auch nicht dar, dass und inwiefern die vom Kantonsgericht vertretene Auffassung gegen Bundesrecht verstosse (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG). Es ist somit davon auszugehen, dass die Beklagte gutgläubig gewesen war, bevor sie von der Klägerin auf den Verstoss aufmerksam gemacht wurde.
b) Dieser gute Glaube hülfe der Beklagten jedoch nichts, wenn die Klägerin - wie in der Berufungsschrift geltend gemacht wird - rechtzeitig Einspruch erhoben hätte. Die Klägerin legt im einzelnen dar, die Arbeiten für die fragliche Mauer seien im Spätherbst 1965 in Angriff genommen und Ende November /anfangs Dezember desselben Jahres infolge des Wintereinbruchs eingestellt worden. Ihr Vertreter sei erst kurz vor Weihnachten in St. Moritz eingetroffen und habe der hohen Schneedecke wegen weder den genauen Grenzverlauf noch den ganzen Umfang der ausgeführten Arbeiten erkennen können. Sobald er nach der Schneeschmelze den Sachverhalt habe feststellen können, und noch vor Wiederaufnahme der Bauarbeiten, habe er sich in der zweiten Hälfte des Monats April 1966 brieflich an den Ehemann der Beklagten gewandt; zudem sei die Klägerin bei der Gemeindeverwaltung St. Moritz vorstellig geworden. Alsdann habe sie am 7. Mai 1966 beim Kreisamt Oberengadin das Befehlsverfahren anhängig gemacht. Nach dem Zwecke von Art. 674 Abs 3 ZGB gelte der Einspruch als rechtzeitig erfolgt, wenn er vor dem Eintritt des schädigenden Ereignisses erhoben werde. Im vorliegenden Fall hätten sich die Verhältnisse infolge Einstellung der Bauarbeiten vom Dezember 1965 bis in den Frühling 1966 nicht verändert. Somit sei unerheblich, dass die Klägerin den Einspruch erst im letztgenannten Zeitpunkt erhob; denn dadurch erwachse der Beklagten - falls sie die Weganlage versetzen müsse - kein grösserer Schaden. Die Vorinstanz habe deshalb den Begriff der Rechtzeitigkeit verkannt.
Diese Überlegungen könnten zutreffen, wenn mit dem Kantonsgericht und mit der Klägerin davon auszugehen wäre, die Wendung in Art. 674 Abs. 3 ZGB ("trotzdem dies für ihn erkennbar geworden ist") bedeute, dass die Einspruchsfrist für den Verletzten erst dann zu laufen beginne, wenn er subjektiv in der Lage sei, die Verletzung seines Eigentums oder der nachbarrechtlichen Bestimmungen festzustellen. Wäre dem so, müsste man sich tatsächlich fragen, ob der Klägerin im vorliegenden Fall zu Recht entgegengehalten werden dürfte, ihr Einspruch sei verspätet gewesen. Der Einspruch bezweckt nämlich, den gutgläubig Bauenden möglichst bald auf die Rechtslage aufmerksam zu machen und ihn zu veranlassen, den Bau einzustellen, solange ihm noch kein oder nur ein geringer Schaden entstanden ist. Hätte somit die Einspruchsfrist erst von dem Zeitpunkt an zu laufen begonnen, als der Vertreter der Klägerin in St. Moritz eintraf, also kurz vor Weihnachten 1965, so könnte das Zuwarten der Klägerin bis im Frühling 1966 wohl keine Verwirkung des Einspruchsrechts zur Folge haben; denn die Arbeiten waren ohnehin eingestellt und konnten erst nach der Schneeschmelze wieder aufgenommen werden.
Die Rechtzeitigkeit des Einspruchs hängt indessen nicht davon ab, ob der Verletzte persönlich Kenntnis vom unberechtigten Überbau hatte und auch in der Lage war, Einspruch zu erheben. Eine andere Auslegung dieser Vorschrift entspräche nicht ihrem Zweck, den gutgläubig Bauenden vor Schaden zu bewahren. Sie liesse sich höchstens mit dem Wortlaut des französischen Textes rechtfertigen ("après avoir eu connaissance de l'empiètement"), der aber bei sinngemässer Auslegung gegenüber dem Wortlaut der deutschen Fassung und namentlich der italienischen ("ma il vicino danneggiato non abbia fatto opposizione alla stessa a tempo debito, malgrado che fosse riconoscibile") zurückzutreten hat. ROSSEL-MENTHA, Manuel du droit civil suisse, 2. Aufl., Bd. II, S. 346/47, gehen vom französischen Text aus und sind der Auffassung, nach dem Wortlaut des Gesetzes beginne die Einspruchsfrist erst von der Kenntnis des Verletzten vom Überbau an zu laufen. Sie kritisieren jedoch diese - vermeintliche - Lösung des Gesetzgebers mit der Bemerkung, Hauptsache sei der gute Glaube des Bauenden, nicht die mehr oder weniger zweideutige Haltung des Verletzten; sie schlagen vor, in Härtefällen Art. 671 Abs. 3 (recte Absatz 2) ZGB analog anzuwenden. Dieser Weg muss jedoch bei richtiger Auslegung der fraglichen Bestimmung nicht beschritten werden. Die herrschende Lehre nimmt zutreffend an, für die Rechtzeitigkeit des Einspruchs sei das objektive Moment der äussern Erkennbarkeit entscheidend, ohne Rücksicht auf die subjektive Kenntnis des Nachbarn (WIELAND, N. 8 a; LEEMANN, N. 32, HAAB, N. 17 und MEIER-HAYOZ, N. 39 zu Art. 674 ZGB). Ein anderslautendes Urteil des Zürcher Obergerichts und des Zürcher Kassationshofes (ZR 55, Nr. 55, besonders S. 95 Ziff. 3 a) überzeugt nicht (vgl. aber Urteil des aargauischen Obergerichts vom 23. März 1934 in SJZ 32, S. 302). Auch der dieselbe Frage regelnde § 912 BGB verlangt, dass der Widerspruch vor oder sofort nach der Grenzüberschreitung erhoben werde (vgl. WOLFF/RAISER, Sachenrecht, 10. Bearbeitung, § 55 I/4, S. 198).
Geht man von dieser richtigen Auslegung aus, so ist der Einspruch der Klägerin vorliegend verspätet. Nach den tatbeständlichen Feststellungen der Vorinstanz, die das Bundesgericht auf Grund der Akten ergänzen kann (Art. 64 Abs. 2 OG), waren die Arbeiten für die fragliche Mauer Ende November 1965 mehr oder weniger beendet. Aus den vierzehn Tagesrapporten des Bauunternehmers P. Lenatti jun. ergibt sich eine Arbeitsdauer vom 8. Oktober bis 8. Dezember 1965. Aus ihnen geht auch hervor, dass bereits anfangs Oktober Gerüste erstellt wurden. Der Aufbau der Stützmauer fällt ebenfalls in diesen Zeitabschnitt. Die Verletzung des gesetzlichen Grenzabstandes war demzufolge schon frühzeitig erkennbar. Freilich ist die Anlage eines gewöhnlichen Weges innerhalb dieses Abstandes erlaubt und konnte nicht Anlass zu einem Einspruch geben. Allein, schon der Aushub der Fundamente, die Terrainveränderungen sowie die Vorbereitung des Mauerbaues (Aufstellen der Gerüste und Betonieren der Fundamente) und erst recht der Bau selber liessen erkennen, dass es sich um die Erstellung von Mauern handelte, die den Erdboden überragen.
c) Da die beiden vom Gesetz verlangten Voraussetzungen, guter Glaube des Bauenden und verspäteter Einspruch des Verletzten, erfüllt sind, ist noch zu prüfen, ob die Umstände es rechtfertigen, der Beklagten das Näherbaurecht einzuräumen. Ausschlaggebend ist dabei, dass die Beklagte für die gesamte Weganlage - nach den Feststellungen der Vorinstanz - Fr. 50'000.-- bis 60'000.-- aufzuwenden hatte. Die Beseitigung der fraglichen Mauer hätte wohl zur Folge, dass der Weg grösstenteils neu angelegt werden müsste. Dazu kommt, dass die Nähe des Weges und die Höhe der Stützmauer die Besitzung der Klägerin nur geringfügig beeinträchtigen können. Infolge des steil abfallenden Hanges führt der Weg tief unter dem Wohnhaus durch. Da er zudem nur für den Fussgängerverkehr bestimmt ist, sind keine wesentlichen Immissionen zu erwarten. Den Erwägungen des Kantonsgerichts kann deshalb in diesem Punkte beigetreten werden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen.