BGE 95 II 509
 
68. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. August 1969 i.S. B. gegen B.
 
Regeste
1. Art. 137 ZGB. Ehebruch, spezieller Scheidungsgrund. Wann ist die Klage rechtsmissbräuchlich?
Auch in anderen als den in Art. 137 Abs. 3 ZGB genannten Fällen kann die Berufung auf den Ehebruch des anderen Gatten rechtsmissbräuchlich sein. Art. 2 ZGB ist anwendbar, wenn die Ehe aus ausschliesslichem Verschulden des klagenden Ehegatten schon vollständig zerrüttet war, als der andere Gatte die ehebrecherischen Beziehungen anknüpfte (Erw. 4).
2. Art. 156 Abs. 1 ZGB. Kinderzuteilung.
Anordnung einer vormundschaftlichen Aufsicht (Erw. 5 a).
 
Sachverhalt
Aus dem Tatbestand:
Am 15. Mai 1962 gingen H.B., geboren 1939, und V.K., geboren 1941, miteinander die Ehe ein. Dieser entsprossen ein Knabe, geboren am 4. Mai 1962, und ein Mädchen, geboren am 7. Dezember 1966. Der Ehemann, von Beruf Koch, besuchte die Wirtefachschule und übernahm im Dezember 1966 pachtweise einen Gasthof in W. Die Ehefrau, welche bis anhin als kaufmännische Angestellte gearbeitet hatte, half bis zur Auflösung des gemeinsamen Haushaltes im Juni 1967 im Betrieb des Ehemannes mit. Sie verliess daraufhin mit den beiden Kindern W. und knüpfte mit O.A. ehebrecherische Beziehungen an, während der Ehemann seit dem Jahre 1965 ein ehebrecherisches Verhältnis mit Frau L. unterhielt.
Im April 1967 klagte die Ehefrau gestützt auf Art. 137 in Verbindung mit Art. 143 ZGB auf Trennung der Ehe auf unbestimmte Zeit. Der Ehemann verlangte widerklageweise die Scheidung der Ehe gestützt auf Art. 137 ZGB.
Das erstinstanzliche Gericht hiess die Klage gut und trennte die Ehe der Parteien gestützt auf Art. 137 ZGB auf unbestimmte Zeit. Die Widerklage wurde abgewiesen. Die beiden Kinder wurden der Klägerin zugesprochen. Die zweite Instanz wies die Appellation des Beklagten ab und bestätigte das angefochtene Urteil.
Das Bundesgericht weist die Berufung des Beklagten ebenfalls ab.
 
Aus den Erwägungen:
3. In materiellrechtlicher Hinsicht macht der Berufungskläger geltend, die Vorinstanz habe Art. 137 ZGB dadurch verletzt, dass sie seine, auf diese Bestimmung gestützte Widerklage wegen Rechtsmissbrauchs abwies. Art. 2 ZGB sei nur mit äusserster Zurückhaltung anzuwenden und könne im vorliegenden Fall nicht dazu dienen, einen Scheidungsanspruch des Berufungsklägers auszuschliessen.
Das Bundesgericht hat den Scheidungsgrund des Ehebruchs gemäss Art. 137 ZGB, von einem Entscheid aus dem Jahre 1927 abgesehen (BGE 53 II 197), stets als einen absoluten Scheidungsgrund betrachtet. Der Scheidungsanspruch des verletzten Ehegatten ist somit, ausser im Falle der Zustimmung und Verzeihung, nicht davon abhängig, dass der Ehebruch des anderen Gatten die Zerstörung der Ehe zur Folge hatte (BGE 47 II 249, BGE 57 II 245, BGE 69 II 210 und SJZ Bd. 57 S. 371 f. sowie die nicht veröffentlichten Urteile des Bundesgerichts vom 9. Juni 1966 i.S. M. c. M., S. 11, und vom 25. März 1968 i.S. Sch. c. Sch., S. 6). Trotzdem an dieser Rechtsprechung von einzelnen Autoren Kritik geübt wurde (vgl. SEEGER, ZSR 1929 S. 163 a, 171/172 a; BARDE, ZSR 1955 S. 481 a; HINDERLING, Das schweiz. Ehescheidungsrecht, 3. Aufl., S. 73 ff.), hat das Bundesgericht namentlich mit Rücksicht auf den Gesetzeswortlaut seine Praxis bisher beibehalten; nach dieser ist beim Vorliegen des Scheidungsgrundes von Art. 137 ZGB keinerlei Nachweis dafür erforderlich, dass die Ehe wegen des Ehebruches unheilbar zerrüttet und deren Fortsetzung für den verletzten Ehegatten unzumutbar geworden sei.
4. Wie die Ausübung jeden Rechtes ist auch die Erhebung einer Scheidungsklage nur innerhalb der Schranken des Rechtsmissbrauches im Sinne von Art. 2 ZGB möglich. Im Gesetz sind zwei besondere Fälle rechtsmissbräuchlicher Geltendmachung des Scheidungsanspruchs wegen Ehebruches sogar ausdrücklich erwähnt. Art. 137 Abs. 3 ZGB schliesst die Klage für denjenigen Ehegatten aus, der dem Ehebruch zugestimmt oder ihn verziehen hat. Die ausdrückliche Regelung dieser beiden Tatbestände zwingt nicht etwa zum Schluss, in anderen Fällen offenbaren Rechtsmissbrauchs sei die Klage wegen Ehebruchs zulässig. Das Bundesgericht hat wiederholt entschieden, die auf Art. 137 ZGB gestützte Klage unterliege dem allgemeinen Verbot des Rechtsmissbrauchs gemäss Art. 2 ZGB; auch in der Literatur wird diese Auffassung von namhaften Autoren geteilt (vgl. die Urteile des Bundesgerichts, publiziert in SJZ Bd. 57, S. 371 f. und in Sem. jud., Bd. 89, S. 582 ff. sowie das nicht veröffentlichte Urteil vom 25. März 1968 i.S. Sch. c. Sch., S. 9 f.; GMÜR, Kommentar, N. 15 a und 30 zu Art. 137 ZGB; MERZ, Kommentar, N. 551 zu Art. 2 ZGB; HINDERLING, a.a. O., S. 76 f.).
Im zuletzt zitierten Entscheid vom 25. März 1968 in Sachen Sch. c. Sch. wird allerdings hervorgehoben, Art. 2 ZGB sei nur mit grosser Zurückhaltung anzuwenden; es müssten ganz besondere Umstände vorliegen, damit ausnahmsweise von der Anwendung von Art. 137 Abs. 1 ZGB abgesehen werden könne. Eine solche Ausnahmesituation ist im vorliegenden Fall nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen tatsächlicher Art gegeben.
Die Ehe der Parteien war aus ausschliesslichem Verschulden des Berufungsklägers schon vollständig zerrüttet, als die Berufungsbeklagte Beziehungen zu O.A. aufnahm. Die rücksichtslose und zutiefst demütigende Behandlung der Berufungsbeklagten durch ihren Ehemann und dessen Geliebte bildeten die eigentliche Ursache dafür, dass es zu den vereinzelten Ehebrüchen der Berufungsbeklagten mit A. kam. Diese Ehebrüche waren weder für das Scheitern der Ehe kausal, noch waren sie nach den Feststellungen der Vorinstanz geeignet, eine allfällige Wiederversöhnung der Parteien zu verhindern, da der Berufungskläger jeglichen Ehewillen bereits verloren hatte; der Fehltritt seiner Frau war ihm gegenteils sehr erwünscht.
Unter diesen Umständen hat die Vorinstanz den rechtsmissbräuchlichen Charakter der Widerklage des Berufungsklägers mit Recht bejaht. Es genügt nach der oben angeführten Praxis des Bundesgerichts für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs, dass der Kläger für den Ehebruch des anderen Ehegatten, auf den er sich beruft, als in hohem Masse mitverantwortlich erscheint, und dass die Ehe schon vorher aus alleinigem Verschulden der klagenden Partei vollständig zerrüttet war. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall eindeutig erfüllt. Dass die Berufungsbeklagte mit A. nicht nur einmal, sondern mehrmals die Ehe brach, dass sie sich schon vor der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes näher an diesen anschloss und mehrere Jahre älter war als er, fällt demgegenüber aus den von der Vorinstanz angeführten Gründen nicht ins Gewicht. Die Berufung ist daher im Hauptpunkt nicht begründet.
5. Die Anträge des Berufungsklägers zu den Nebenfolgen sind, auch wenn sich das aus ihrer Formulierung nicht ausdrücklich ergibt, so zu verstehen, dass sie nicht nur für den Fall der widerklageweise beantragten Scheidung gelten sollen, sondern als Eventualbegehren auch gelten, wenn es bei der von den Vorinstanzen ausgesprochenen Ehetrennung bleibt.
a) Der Berufungskläger verlangt in erster Linie die Anordnung einer vormundschaftlichen Aufsicht über die der Berufungsbeklagten zugewiesenen beiden Kinder. Er beanstandet, dass die Vorinstanz ihn nicht zum Beweis für die gegen die Berufungsbeklagte als Mutter erhobenen Vorwürfe zugelassen habe. Ferner rügt er, dass die Vormundschaftsbehörde nicht angehört worden sei.
Die Anordnung bzw. Nichtanordnung einer vormundschaftlichen Erziehungsaufsicht durch den Scheidungs- oder Trennungsrichter muss beim Bundesgericht als Berufungsinstanz angefochten werden können; denn die Anordnung einer solchen Massnahme stellt in Wirklichkeit eine Beschränkung der elterlichen Gewalt dar. Die in BGE 60 II 16 ff. vertretene gegenteilige Auffassung ist daher nicht haltbar (vgl. HEGNAUER, Kommentar, N. 132 zu Art. 283 ZGB). Demgemäss ist die mit ihren Anträgen im kantonalen Verfahren unterlegene Partei auch legitimiert, Berufung an das Bundesgericht zu erheben, da sie durch einen solchen Entscheid beschwert wird (vgl. das Urteil des Bundesgerichts vom 21. November 1958, publiziert in ZR 59/1960, Nr. 112, S. 243).
Die Anordnung einer Erziehungsaufsicht durch den Scheidungs- oder Trennungsrichter setzt eine erhebliche Gefährdung der Kinder voraus (HEGNAUER, a.a.O., N. 180 zu Art. 283 ZGB). Die Vorinstanz verneinte eine solche Gefährdung. Sie zog in Erwägung, dass eine von ihrem Gatten verstossene Ehefrau sich vielleicht nicht sofort in die neue Situation einfügen könne, und stellte im übrigen auf den guten persönlichen Eindruck, den sie von der Berufungsbeklagten gewonnen hatte, ab. Zudem hielt sie unter Hinweis auf das erstinstanzliche Urteil fest, es sei unwahrscheinlich, dass die während des Bestehens der Ehegemeinschaft unbestrittenermassen vorhandenen Qualitäten der Berufungsbeklagten als Erzieherin sich plötzlich ändern würden. Eine solche vorweggenommene Beweiswürdigung stellt keine Bundesrechtsverletzung im Sinne von Art. 43 OG dar, die auf dem Wege der Berufung beim Bundesgericht angefochten werden kann (BGE 93 II 289 und BGE 87 II 232). Auch der Umstand, dass es die Vorinstanz unterliess, die Vormundschaftsbehörde anzuhören, kann nicht zur Rückweisung der Sache an jene führen, da Art. 156 Abs. 1 ZGB eine solche Anhörung nicht zwingend, sondern nur "nötigenfalls" vorschreibt und den kantonalen Instanzen damit ein weites Ermessen einräumt, das vorliegend nicht verletzt worden ist.
Im übrigen steht es dem Berufungskläger jederzeit frei, bei der zuständigen Vormundschaftsbehörde die Anordnung der erforderlichen Massnahmen zu verlangen, falls die Berufungsbeklagte das in sie gesetzte Vertrauen nicht erfüllen sollte. Eine Erziehungsaufsicht könnte nach Eintritt der Rechtskraft des Trennungsurteils von der Vormundschaftsbehörde gestützt auf Art. 283 ZGB auch selbständig angeordnet werden, wenn sie sich nachträglich als notwendig erweisen sollte (HEGNAUER, a.a.O., N. 189 und 198 zu Art. 283 ZGB).