BGE 97 II 72 |
11. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. Februar 1971 i.S. "Helvetia-Unfall", Versicherungs gesellschaft, gegen Meile. |
Regeste |
Unfallversicherung |
2. Begriff des "Taglohnes" (Erw. 4). |
Sachverhalt |
Albert Meile half Josef Hürlimann bei der Ausführung von Waldarbeiten. Er arbeitete teilweise im Stunden- und teilweise im Akkordlohn und war im Zeitraum vom 30. März 1966 bis 31. März 1967 insgesamt während 559 1/2 Stunden für diesen tätig, wovon mehr als 500 Stunden in den Monaten Oktober 1966 bis März 1967. Sein Verdienst für diese Arbeiten belief sich im ganzen Jahr auf total Fr. 3296.30. Am 31. März 1967 wurde Meile, als er für Hürlimann arbeitete, durch einen stürzenden Baum getötet. Er hinterliess seine Ehefrau und zwei kleine Kinder.
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Hürlimann hatte zugunsten der von ihm für Waldarbeiten beschäftigten Personen eine Kollektiv-Unfallversicherung mit der Versicherungsgesellschaft "Helvetia-Unfall" abgeschlossen. Als Todesfallentschädigung war der 1000fache Taglohn vorgesehen. Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen enthielten in Art. 9 folgende Regelung:
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"Ermittlung der Todes- und Invaliditätsentschädigung in der Lohnversicherung.
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Ist für die Berechnung der Entschädigung im Todes- und Invaliditätsfall der durchschnittliche Tagesverdienst als Grundlage vereinbart worden, so gilt der 300. Teil des Jahresverdienstes als massgebender Tagesverdienst. Als Jahresverdienst gilt der Lohnbetrag, den der Versicherte innerhalb eines Jahres vor dem Unfall im deklarierten Betrieb bezogen hat. War der Verunfallte kein volles Jahr im Betrieb, so gilt der durchschnittliche Tagesverdienst während der Anstellungszeit als Grundlage. War er weniger als drei Monate angestellt oder kann sein Verdienst nicht ermittelt werden, so ist ein mittlerer Lohn der Angestellten gleicher Kategorie im gleichen oder in einem gleichartigen Betrieb massgebend."
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Die Versicherungsgesellschaft berechnete die der Ehefrau und den Kindern des tödlich verunfallten Albert Meile zustehende Todesfallentschädigung nun in der Weise, dass sie den von Meile im Jahr vor dem Unfall gesamthaft erzielten Verdienst von Fr. 3296.30 durch die Zahl 300 (Arbeitstage des Jahres) teilte, so einen durchschnittlichen Taglohn von Fr. 10.98 ermittelte und diesen Betrag mit 1000 multiplizierte. Demgegenüber ging das von den Anspruchsberechtigten angerufene Bezirksgericht von einem Taglohn von Fr. 47.20 aus, indem es die Fr. 3296.30 durch 559 1/2 (die sämtlichen Arbeitsstunden) teilte und den so errechneten Stundenlohn von Fr. 5.90 mit 8 multiplizierte.
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Das Kantonsgericht St. Gallen bestätigte diesen Entscheid, und das Bundesgericht weist die von der beklagten Versicherungsgesellschaft eingelegte Berufung ab.
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Aus den Erwägungen: |
3. Die für die Vertragsauslegung allgemein massgebenden Grundsätze gelten auch für den Versicherungsvertrag. Da das VVG selber keine allgemeine Auslegungsregel enthält, gelangen nach der in Art. 100 VVG enthaltenen Verweisung die Bestimmungen des OR und damit gleichzeitig die Einleitungsartikel des ZGB zur Anwendung (ROELLI/KELLER, Kommentar zum VVG Bd. I S. 456/57). Auch Versicherungsverträge sind daher nach dem aus Art. 2 Abs. 1 ZGB abgeleiteten Vertrauensprinzip auszulegen (BGE 92 II 348, BGE 87 II 95 /96 E. 3 mit Hinweisen; KOENIG, Schweiz. Privatversicherungsrecht, 3. Aufl., S. 83). Darnach soll jener Sinn einer Willenserklärung massgebend sein, der ihr vom Empfänger nach Treu und Glauben vernünftigerweise beigemessen werden durfte (so z.B. die beiden zitierten BGE und MERZ, Berner Kommentar, Einleitungsband, N. 125 zu Art. 2 ZGB mit Hinweisen). Aus dem Vertrauensprinzip wird sodann abgeleitet, dass unklare Formulierungen in Vertragstexten zuungunsten desjenigen Vertragspartners auszulegen sind, der den Text verfasst hat (sog. Unklarheitenregel, vgl. dazu allgemein MERZ, N. 157 und 171/72 zu Art. 2 ZGB). Diese Regel wird vom Bundesgericht insbesondere bei der Auslegung von Versicherungsverträgen und der - Bestandteil dieser Verträge bildenden - allgemeinen Versicherungsbedingungen angewendet (BGE 92 II 348 mit Hinweisen; ROELLI/KELLER, S. 457 ff.; KOENIG, S. 84).
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Auch der Ausdruck "durchschnittlicher Tagesverdienst", wie er in Art. 9 der AVB verwendet wird, ist nämlich als Taglohn im Sinne des allgemein üblichen Sprachgebrauchs zu verstehen, d.h. als Entgelt für eine volle Tagesarbeitsleistung. Das Adjektiv "durchschnittlich" besagt lediglich, dass der für die Berechnung der Todes- und Invaliditätsentschädigung massgebende Tagesverdienst soweit möglich als Durchschnittswert über eine bestimmte längere Zeitspanne hinweg zu ermitteln ist. Die einzelnen Regeln, die Art. 9 der AVB über die Berechnung des Durchschnittes aufstellt, ergeben ebenfalls keine andere Sinndeutung: Bei vollbeschäftigten Arbeitnehmern führen alle diese Berechnungsarten annäherungsweise zur Ermittlung des mittleren Entgelts für einen vollen Arbeitstag.
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Anders wäre es hingegen bei bloss zeitweise Beschäftigten, die - wie der tödlich verunfallte Albert Meile - ihre Arbeitskraft nur unregelmässig in den Dienst des Arbeitgebers stellen. Würde die in Art. 9 der AVB vorgesehene Durchschnittsberechnung auch auf sie angewendet, würde sie nicht der Ermittlung des durchschnittlichen Lohnes für einen vollen Arbeitstag dienen, sondern der Umrechnung des während einer bestimmten Zeitperiode erzielten Gesamtverdienstes auf den einzelnen Tag. Das Ergebnis entspräche also nicht mehr einem Taglohn im üblichen Sinn, das heisst dem Entgelt für einen vollen Arbeitstag, sondern nur einem Bruchteil des üblichen Tagesverdienstes. Ein solches, vom allgemein gebräuchlichen Wortsinn abweichendes Ergebnis dürfte aus Art. 9 der AVB auf dem Wege der Auslegung nur dann abgeleitet werden, wenn sich aus dieser Bestimmung oder sonst aus dem Vertrag ergäbe, dass dem Ausdruck "Taglohn" oder "Tagesverdienst" bei der Berechnung der Todes- und Invaliditätsentschädigung von unregelmässig Beschäftigten wirklich eine besondere Bedeutung zukommt. Nun enthält Art. 9 der AVB jedoch keinen Hinweis darauf, dass die vorgesehene Durchschnittsberechnung auch auf nicht regelmässig beschäftigte Arbeitnehmer Anwendung finden soll. Mangels eines solchen Hinweises dürfen die Berechnungsregeln des Art. 9 der AVB nicht auf Fälle angewendet werden, in denen sie zur Ermittlung von Todes- und Invaliditätsentschädigungen führen würden, die nicht dem tausendfachen Taglohn im üblichen Sinne des Wortes, sondern nur einem - unter Umständen recht geringen - Bruchteil dieses Betrages entsprächen.
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Die Beklagte vertritt demgegenüber die Auffassung, Art. 9 der AVB gelte zwangsläufig auch für unregelmässig Beschäftigte, da nirgends davon die Rede sei, dass sich die vorgesehene Berechnungsweise auf vollbeschäftigte Arbeitnehmer oder auf die Ermittlung des durchschnittlichen vollen Tagesverdienstes beschränke. Eine einschränkende Auslegung dieser Bestimmung kann sich aber nicht nur daraus ergeben, dass die nicht vollbeschäftigten Arbeitnehmer ausdrücklich als ausgenommen bezeichnet werden, sondern auch daraus, dass die Anwendung der in Frage stehenden Grundsätze auf bloss unregelmässig Beschäftigte sinngemäss als ausgeschlossen zu gelten hat. Das ist hier der Fall, weil sonst der für die Entschädigungsermittlung massgebende Tagesverdienst eine Bedeutung bekäme, die mit dem Begriff des Taglohnes im landläufigen Sinne nicht mehr übereinstimmte. Soll jedoch ein Ausdruck, der in allgemeinen Versicherungsbedingungen verwendet wird, in einem besonderen, versicherungstechnischen Sinne verstanden werden, der sich mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht deckt, muss sich dies ausdrücklich aus dem auszulegenden Text selber ergeben. Andernfalls hat sich die Auslegung an den allgemein üblichen Sinn der Worte zu halten, auf den sich die Versicherungsnehmer sollen verlassen können (BGE 82 II 452 ff. und BGE 85 II 348 ff. lit. b).
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Ergibt sich bereits aus diesen Überlegungen, dass die Todesfallentschädigung auch im Falle eines bloss unregelmässig Beschäftigten auf Grund eines vollen Taglohnes zu berechnen ist, kann offengelassen werden, ob die dritte der in Art. 9 der AVB unterschiedenen Arten der Taglohnermittlung zum gleichen Schluss führen würde, wie das die Vorinstanz angenommen hat. Es erübrigt sich somit, auf die Einwände näher einzugehen, welche die Beklagte diesbezüglich gegenüber dem angefochtenen Urteil erhoben hat.
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Selbst wenn man Zweifel hegte, ob die hier vorgenommene Auslegung des Versicherungsvertrages die einzig mögliche sei, müsste man auf Grund des Vertrauensprinzips und der sich daraus ergebenden Unklarheitenregel doch zu dieser Lösung gelangen. Denn wenn sich die Tragweite von Art. 9 AVB nicht einwandfrei feststellen lässt und mehrere Auslegungen in Frage kommen, gehen die Unklarheiten dieser Bestimmung zu Lasten der Verfasserin, der Beklagten: Der Vertrag ist so auszulegen, wie der Versicherungsnehmer und damit der Versicherte und dessen Hinterbliebene ihn nach Treu und Glauben verstehen durften. Verschiedene Autoren haben diese sogenannte Unklarheitenregel allerdings kritisiert und die Auffassung vertreten, allgemeine Versicherungsbedingungen sollten nicht wie gewöhnliche Vertragsbestimmungen ausgelegt werden, sondern ähnlich wie Gesetze und jedenfalls losgelöst von den besondern Verhältnissen des einzelnen Vertrages (ROELLI/KELLER, S. 459 ff.; KOENIG, S. 84 f.; GAUGLER, In dubio contra assecuratorem?, in: Schweiz. Versicherungszeitschrift, Jahrgang 23, 1955/56, S. 1 ff., 33 ff. und 80 f.; A. KUPPER, Die allgemeinen Versicherungsbedingungen, Zürcher Diss. 1969, S. 86 ff., insbes. S. 93 ff.
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- Anderer Meinung dagegen SCHMIDT-SALZER, Das Recht der Allgemeinen Geschäfts- und Versicherungsbedingungen, Berlin 1967, der die Unklarheitenregel verteidigt). Indessen braucht hier auf diese Kritik nicht näher eingetreten zu werden; denn im vorliegenden Falle ist - wie vorstehend gezeigt wurde - durch Auslegung eine sichere Deutung möglich und somit ohne Unklarheitenregel auszukommen.
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Die Beklagte hat sich für die Richtigkeit der von ihr vorgenommenen Berechnung des massgebenden Taglohnes auch auf BGE 80 II 345 ff. Erw. 3 berufen, wo das Bundesgericht im Falle einer nur saisonweise beschäftigten Angestellten als massgebenden "Jahreslohn" den im Verlaufe eines Jahres effektiv bezogenen Lohnbetrag bezeichnete und nicht den sich durch Verzwölffachung des Monatslohnes ergebenden hypothetischen Jahresverdienst. Allein die Beklagte vermag aus diesem Entscheid nichts zu ihren Gunsten abzuleiten; denn im vorliegenden Falle geht es nicht um den Begriff des "Jahreslohnes", sondern um denjenigen des "Taglohnes". Ob diese beiden Begriffe einander qualitativ entsprechen und ob den im erwähnten Bundesgerichtsentscheid angestellten Überlegungen heute noch vorbehaltlos gefolgt werden könnte, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist in dem hier zu beurteilenden Falle unter "Taglohn" ein voller Tagesverdienst zu verstehen.
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