BGE 102 II 90
 
16. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. April 1976 i.S. Basler Versicherungs-Gesellschaft gegen Fritz Scheidegger und Mitbeteiligte.
 
Regeste
Art. 45 Abs. 3 OR. Versorgerschaden infolge Todes der Ehefrau und Mutter.
Berechnung des Mehraufwandes (Erw. 3a). Abzug wegen Aussicht auf Wiederverheiratung (Erw. 3b).
 
Sachverhalt
Gekürzter Tatbestand
A.- Die Eheleute Fritz und Hedwig Scheidegger-Bader spazierten am Abend des 28. Mai 1973 auf der Gemeindestrasse von Gerau nach Wigoltingen und wurden vom Motorrad des Werner Hauser angefahren. Hedwig Scheidegger erlitt tödliche, Fritz Scheidegger leichtere Verletzungen.
B.- Mit Klage gegen die Basler-Haftpflichtversicherungs-Gesellschaft, die Haftpflichtversicherung Hausers, forderten Fritz Scheidegger (Kläger 1) als Genugtuung und Versorgerschaden wegen des Verlustes der Ehefrau Fr. 20'000.-- bzw. Fr. 161'348.--, als Genugtuung für Körperverletzung Fr. 3'000.--, die zwei verheirateten Kinder (Kläger 2 und 3) je Fr. 7'000.-- und die drei ledigen Kinder (Kläger 4 bis 6) je Fr. 8'000.-- als Genugtuung, zuzüglich Zins.
Das Obergericht des Kantons Thurgau sprach dem Kläger 1 nach Verrechnung mit Anzahlungen der Beklagten von Fr. 60'896.-- noch Fr. 56'104.--, den Klägern 2 und 3 je Fr. 5'000.-- und den Klägern 4 bis 6 je Fr. 8'000.-- nebst Zins zu.
C.- Das Bundesgericht hiess die Berufung der Beklagten teilweise gut, sprach dem Kläger 1 nach Verrechnung mit den erhaltenen Anzahlungen noch Fr. 22'246.--, den Klägern 2 und 3 je Fr. 5'000.--, den Klägern 4 bis 6 je Fr. 8'000.-- nebst Zins zu und wies die Anschlussberufung der Kläger ab.
 
Aus den Erwägungen:
2. Die Beklagte ist der Ansicht, der Kläger 1 habe auf ihre Kosten nicht ohne weiteres Anspruch auf Anstellung einer Haushälterin, jedenfalls nicht auf Lebenszeit, sondern höchstens bis zur Volljährigkeit des jüngsten Kindes im Jahre 1981. Sie wirft dem Obergericht zunächst insofern Verletzung von Bundesrecht vor, als es dem Kläger 1 einen dauernden Anspruch auf Ersatz von Versorgerschaden zubilligt, ohne dabei die nicht eingeklagten, aber selbständigen Ansprüche der Kinder auszuscheiden.
a) Die Rechtsprechung betrachtet die Ehefrau und Mutter als Versorgerin des Ehemannes und der Kinder im Sinne des Art. 45 Abs. 3 OR, auch wenn sie nur den Haushalt führt (BGE 101 II 260 Erw. 1 und dort erwähnte Entscheide). Sie verlangt, dass der Anspruch auf Ersatz des Versorgerschadens für jeden Berechtigten gesondert berechnet und zugesprochen werde (BGE 66 II 175; STAUFFER/SCHÄTZLE, Barwerttafeln, 3. Aufl., S. 62 ff.). Diese Anforderung beruht auf der Überlegung, dass die Ansprüche nach Art und Dauer der Versorgung verschieden sind. Das heisst indessen nicht, dass zeitlich begrenzte Ansprüche der Kinder, wenn sie praktisch im Anspruch des Ehemannes aufgehen und schon durch die diesem zustehende Ersatzleistung gedeckt werden, nur wegen theoretischer Selbständigkeit ausgeschieden und abgetrennt werden müssen. Das führte entweder zu mehrfacher Befriedigung zusammenfallender Ansprüche oder zur Kürzung des Anspruches des Ehemannes. Beides wäre ungerechtfertigt. Starre Regeln für die Verteilung des Unterstützungsbeitrages der Ehefrau (Überschuss des Wertes ihrer Leistungen über denjenigen des Empfangenen) auf den Ehemann und die Kinder gibt es ohnehin nicht. Das Bundesgericht bestimmte auch im Entscheid BGE 101 II 257 ff. den Verteilungsschlüssel nicht schlechthin, sondern bloss für den konkreten Fall.
b) Die Vorinstanz stellt fest, dass der Kläger 1 mit den jüngern Kindern ein altes Miethaus mit Garten bewohnt; dass die Versorgung des Haushaltes mehr als gelegentliche Aushilfen im Stundenlohn verlange; dass die Kosten für deren Beschäftigung im erforderlichen Umfange nicht geringer wären als für die feste Anstellung einer Haushälterin. Das Obergericht hält demnach dafür, dass der Kläger 1 auch für die Zeit nach dem Ausscheiden der jüngsten Kinder Anspruch auf eine Haushälterin habe. Daraus folgt sinngemäss, dass der Kläger 1 schon vor jenem Zeitpunkt, d.h. bereits mit dem Tod der Ehefrau eine Haushälterin ungeachtet der vorläufig mit ihm in Hausgemeinschaft lebenden minderjährigen Kinder benötigte. Dieser Ansicht ist schon deshalb beizupflichten, weil im Gegensatz zu dem in BGE 101 II 257 ff. beurteilten Fall unter den jüngern Kindern des Klägers 1 keine heranwachsenden Töchter sind, die im Haushalt zunehmend die verstorbene Mutter vertreten könnten. Entgegen der Ansicht der Beklagten schloss das Bundesgericht im genannten Entscheid auch für bescheidene Verhältnisse den Anspruch auf Anstellung einer Haushälterin nicht aus, sondern legte seinen Berechnungen die gegenteilige Annahme zugrunde (vgl. a.a.O. S. 261). Der massgebende Unterschied besteht darin, dass hier der Beizug einer entlöhnten Haushalthilfe nicht, wie im angeführten Entscheid (S. 262), hauptsächlich um der Kinder willen, sondern insbesondere aus eigenen Bedürfnissen des Ehemannes zu bejahen ist. Der Kläger 1 hat also nach dem Tod der Ehefrau schon allein Anspruch auf vollen Ersatz des durch die Anstellung einer Haushälterin bedingten Mehraufwandes. Freilich erfasst dieser Anspruch auch den Versorgerschaden der Kinder. Der Kläger 1 hat aber damit die Möglichkeit, für die Kinder nicht bloss seinen eigenen Unterhaltsbeitrag, sondern auch jenen der verstorbenen Ehefrau und Mutter zu leisten. Daraus folgt, dass sein Anspruch nicht um unterlassene Ersatzansprüche der Kinder zu kürzen ist und dass unter den gegebenen Umständen für die gesonderte Gutheissung von Kinderansprüchen, wären sie neben denen des Klägers erhoben worden, kein Raum bliebe.
Die Vorinstanz ist der Meinung, der Kläger habe nach dem Ausscheiden der jüngsten Kinder Anspruch auf eine Haushälterin, weil man ihm nicht zumuten könne, das Haus mit Garten gegen eine Mietwohnung aufzugeben und damit auf die bisherige Lebenshaltung zu verzichten. Das schliesst die tatsächliche Feststellung ein, dass er einen solchen Wechsel nicht vornehmen müsste, wenn seine Frau noch lebte und ihm zur Seite stehen könnte. Ziel des Haftpflichtrechtes ist es gerade, den Zustand, wie er ohne den Tod des Versorgers wäre, annähernd zu erhalten und die Berechtigten nicht zu zwingen, ihre Lebensführung wesentlich zu ändern (BGE 101 II 260 Erw. 1a, BGE 28 II 16; OFTINGER, Haftpflichtrecht I, 4. Aufl. S. 236). Die Beurteilung des Ersatzanspruches des Klägers 1 durch das Obergericht ist somit grundsätzlich nicht zu beanstanden.
3. a) Der Unfall vom 28. Mai 1973 fiel für den am 16. September 1926 geborenen Kläger 1 und seine am 16. November 1927 geborene Ehefrau in die zweite Hälfte des laufenden Lebensjahres. Für die Berechnung des Schadens ist auf ein Alter des Klägers 1 von 47 Jahren und seiner Ehefrau von 46 Jahren (STAUFFER/SCHÄTZLE, a.a.O. S. 175) abzustellen.
Die Beklagte bestreitet die Feststellung des Obergerichtes nicht, dass der Kläger 1 im Monat rund Fr. 2'400.-- brutto verdient. Sie anerkennt auch, dass er für seine Ehefrau monatlich Fr. 700.-- bis Fr. 800.-- aufgewendet hat. Hingegen beanstandet sie, dass die Vorinstanz den Aufwand für Barlohn und Nebenkosten der Haushälterin mit Fr. 1'700.-- bis Fr. 1'800.-- ansetzt und den Ersatzanspruch des Klägers auf monatlich Fr. 1'000.-- bemisst. Sie behauptet, im vorinstanzlichen Verfahren habe keine Partei von einem solchen Aufwand gesprochen.
Das Obergericht spricht von "Mehraufwand", was auf Versehen beruht und zu berichtigen ist. Gemeint ist nämlich der monatliche Gesamtaufwand von Fr. 1'700.-- bis Fr. 1'800.-- für die Haushälterin. Dieser Betrag ist, soweit er eine Schätzung darstellt, überprüfbar (BGE 101 II 261). Indessen erklärt das Obergericht, "der Barlohn einer Haushälterin von Fr. 1'100.-- plus Nebenleistungen" sei im wesentlichen unbestritten. Die Beklagte behauptet nicht, diese Feststellung sei unter Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustande gekommen oder beruhe auf einem offensichtlichen Versehen. Sie verweist hingegen in ihren Berechnungen auf die Darstellung der Kläger, welche den Barlohn mit Fr. 1'100.-- (wie tatsächlich bezahlt) und Nebenkosten mit Fr. 100.-- im Monat angeben. Werden die zum Gesamtaufwand gehörenden Kosten für Wohnung und Verpflegung einbezogen, so erscheint ein Betrag von Fr. 1'700.-- bis Fr. 1'800.-- nicht als übersetzt.
Das Bundesgericht stellt sich im Entscheid 82 II 39 ff. auf den Standpunkt, dass jedenfalls in bürgerlichen Verhältnissen ("milieux bourgeois") beim Tod der Ehefrau, deren Tätigkeit auf die Führung des Haushaltes beschränkt war, für den Ehemann sich Nutzen und Aufwendungen im allgemeinen gegenseitig aufheben, dass also ein Versorgungsanspruch nicht bestehe. Diese Regel ist angesichts der heute für Dienstleistungen zu zahlenden Löhne nicht mehr massgebend, weder für bescheidene städtische oder ländliche noch für sogenannte bürgerliche Verhältnisse (vgl. STAUFFER/SCHÄTZLE, a.a.O. S. 63/64). Im Entscheid 101 II 262 Erw. 1c erklärte zwar das Bundesgericht, dass der Ehemann nach dem 18. Altersjahr des jüngsten Kindes keinen Versorgungsanspruch haben werde, weil die eventuellen Kosten für die Teilzeitbeschäftigung einer Haushalthilfe durch die Aufwendungen, welche er für die Ehefrau gehabt hätte, ausgeglichen würden. Damit erklärte es den Grundsatz im Entscheid 82 II 39 nicht als allgemein gültig, sondern bestätigte ihn bloss für den zu beurteilenden Fall. Freilich ist denkbar, dass der Kläger 1 nach dem Ausscheiden der jüngsten Kinder aus der Hausgemeinschaft die Aufwendungen für seine Ehefrau erhöht haben würde. Das führte zu einer entsprechenden Verminderung des Mehraufwandes für die Haushälterin. Der Versorgerschaden müsste daher je für die Zeit vor und nach dem Ausscheiden der jüngsten Kinder gesondert berechnet werden.
Das Obergericht rechnet indessen mit einem durchschnittlichen Mehraufwand, indem es für die fernere Zukunft eine gewisse Senkung des Lebensstandards des Klägers 1 berücksichtigen und einen "billigen Ausgleich" zwischen den höheren Aufwendungen in den Jahren seit dem Unfall bis zum Ausscheiden aller Kinder aus der Hausgemeinschaft und der späteren finanziellen Entlastung des Klägers 1 schaffen will. Diese Berechnungsweise ist mindestens im vorliegenden Fall zulässig. Die Vorinstanz überschreitet aber augenfällig ihr Ermessen, wenn sie als mittlere Grösse einen Versorgerschaden von Fr. 1'000.-- im Monat annimmt. Das Bezirksgericht, auf dessen Urteil sie in diesem Punkte verweist, rechnet nicht mit Fr. 1'000.-- im Monat, sondern mit Fr. 10'000.-- im Jahr. Es liegt somit ein Versehen vor, das zu berichtigen ist. Der Betrag von Fr. 10'000.-- stimmt annähernd mit dem ursprünglichen Unterschied im Aufwand für die Ehefrau einerseits und die Haushälterin anderseits überein und liegt somit schon für die erste achtjährige Zeitspanne, d.h. vom Unfall bis zur Volljährigkeit des jüngsten Kindes im Jahre 1981, an der obersten Grenze. Er darf für die zweite auf 22 bis 23 Jahre zu bemessende Periode (STAUFFER/SCHÄTZLE, a.a.O. Tafel 61) füglich um die Hälfte auf Fr. 5'000.-- herabgesetzt werden. Danach ist der durchschnittliche Mehraufwand jährlich mit Fr. 6'000.-- zu bemessen, was kapitalisiert (STAUFFER/SCHÄTZLE, a.a.O. Tafel 27 - Alter 46/47, Faktor 15, 51) Fr. 93'060.-- ergibt.
b) Streitig ist auch der Abzug für die Aussicht auf Wiederverheiratung des Klägers 1. Diese beträgt nach der Statistik bei STAUFFER/SCHÄTZLE (a.a.O., Tafel 60) für einen 47jährigen Mann 47%. Die Vorinstanz legt indessen den Abzug für den Kläger 1 bloss auf 38% fest, indem sie nach der eigenen Empfehlung der genannten Autoren (a.a.O. S. 65) die statistischen Zahlen mit Zurückhaltung anwendet.
Die Beklagte ist in diesem Punkte mit dem Obergericht einverstanden. Der Kläger 1 verlangt dagegen, dass der Abzug höchstens 19 bis 20% betrage. Er verweist zur Begründung auf den Entscheid 101 II 264, wo das Bundesgericht für einen 33jährigen Mann die vom kantonalen Richter vorgenommene Ermässigung der statistischen Quote von 68% auf 30% schützte.
Das Obergericht bezeichnet den Satz von 38% als "ausgewogene Lösung zwischen der früheren allzu engen Gerichtspraxis und den statistischen Werten". Die frühere Gerichtspraxis entbehrte der statistischen Unterlagen. Da solche jüngern Datums bestehen und als zuverlässig gelten, müssen sie gebührend berücksichtigt werden. Sie sind freilich mit gewisser Vorsicht und entsprechend den Besonderheiten des Einzelfalles zu benützen, was blosse Zahlenvergleiche verbietet. Aus BGE 101 II 257 ff. kann darum nicht einfach abgeleitet werden, der Abzug für den Kläger 1 dürfe nicht mehr als 20% betragen, bloss weil in jenem Urteil für einen um 14 Jahre jüngern Mann ein Quote von 30% als richtig befunden wurde. Die Auswirkungen des Altersunterschiedes sind als einigermassen ausgeglichen anzusehen, zieht man in Betracht, dass in genanntem Präjudiz die angegriffene Gesundheit des Mannes, dessen Fürsorge für drei Kinder im Alter zwischen drei und acht Jahren sowie die auf 15 Jahre begrenzte Ersatzleistung für Versorgerschaden die Aussicht einer Wiederverheiratung beeinträchtigen konnten. Im vorliegenden Fall besteht eine solche Beschränkung der Ersatzpflicht nicht und sind die familiären Lasten geringer (das letzte der in den Jahren 1953, 1956 und 1961 geborenen jüngern Kinder wird im Jahre 1981 volljährig sein), so dass nach den persönlichen Verhältnissen des Klägers 1 mit der Wiederverheiratung eher zu rechnen ist und diese durch den vom Obergericht den Männern gleichen Alters zugeschriebenen Wunsch nach einem eigenen Hausstand noch gefördert werden mag. Der streitige Abzug für den Kläger 1 ist daher ebenfalls auf 30% oder Fr. 27'918.-- festzusetzen.