BGE 129 II 353 |
34. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Kanton St. Gallen und Kantonsgericht St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
2A.462/2002 vom 26. Mai 2003 |
Regeste |
Art. 23 Abs. 3 EpG; subsidiäre Haftung des Kantons für Schaden aus Impffolgen. |
Bei Art. 23 Abs. 3 EpG handelt es sich um eine so genannte Ausfalldeckung, die erst in Betracht fällt, wenn keine ausreichende Deckung von primär Ersatzpflichtigen (Arzt/Berufshaftpflichtversicherung, Sozialversicherungen) erlangt werden kann (E. 4). |
Sachverhalt |
Der Kinderarzt Dr. A. verabreichte der am 15. Februar 1994 geborenen X. in seiner Praxis am 12. April 1994 und am 8. Juni 1994 jeweils eine DTP-Impfung (Diphtherie/Tetanus/Pertussis) sowie Impfungen gegen Polio (Impfstoff Poloral) und Meningitis (Impfstoff HibTITER). Die Impfungen erfolgten gemäss den Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit korrekt im Alter von zwei und vier Monaten mit landesüblichen Impfstoffen. Im Anschluss an die zweite Impfung beobachtete die Mutter bei ihrem - nach Darstellung des Kinderarztes bis dahin völlig normal entwickelten - Kind zunächst kurze Zuckungen, später krampfartige Zuckungen und Zittern. Nach verschiedenen medizinischen Untersuchungen diagnostizierte das Ostschweizer Kinderspital St. Gallen, Abteilung Neuropädiatrie/EEG, am 8. Oktober 1997 schliesslich einen Entwicklungsrückstand, eine Wahrnehmungsstörung mit autistischen Zügen und eine Epilepsie. Im August/September 1998 bestätigte der zuständige Oberarzt eine schwer einzustellende Epilepsie bei schwerer geistiger Behinderung. Am 26. März 1999 teilte er der Mutter mit, dass bei X. eine 100%ige, dauernde Invalidität vorliege, die voraussichtlich eine lebenslange ständige Betreuung erfordern werde.
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Gemäss ärztlichem Privatgutachten von Dr. Peter Mattmann ist die verabreichte Impfung als wahrscheinlichste Ursache für die bei X. ausgebrochene neurologische Krankheit zu betrachten. Mit Klage vom 1. April 1999 beantragte die Mutter von X. deshalb gestützt auf Art. 23 des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 1970 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101) dem Bezirksgericht St. Gallen, den Kanton St. Gallen zu verpflichten, ihrer Tochter als Schadenersatz einen Betrag von Fr. 1'611'854.- zu bezahlen nebst Zins von 5% auf Fr. 15'231.- seit 1. April 1997.
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X. reichte zugleich gegen den behandelnden Kinderarzt, der die in Frage stehenden Impfungen in seiner Privatpraxis vorgenommen hatte, beim Bezirksgericht See eine Zivilklage ein, mit welcher von diesem Schadenersatz im Betrag von Fr. 1'731'854.- verlangt wird. Das Bezirksgericht beschränkte das Beweisverfahren auf die Abklärung der Haftungsvoraussetzungen und ordnete ein medizinisches Gutachten an. Am 22. Januar 2002 wurde der Gutachter ernannt.
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Am 5. Juli 1999 beschränkte der Präsident des Bezirksgerichts St. Gallen das Prozessthema auf die Fragen der Haftung aus kantonalem Verantwortlichkeitsgesetz und der Subsidiarität der Haftung aus Epidemiengesetz. Mit Urteil vom 14. Oktober 1999 wies das Bezirksgericht die Klage ab; nachdem die Klägerin ausdrücklich erklärt hatte, es werde kein Anspruch aus kantonalem Verantwortlichkeitsgesetz geltend gemacht, entschied das Bezirksgericht einzig über den Entschädigungsanspruch nach Art. 23 des Epidemiengesetzes, den es verneinte.
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Gegen dieses Urteil wandte sich X. an das Kantonsgericht St. Gallen, welches ihre Berufung am 23. Februar 2001 abwies.
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Eine von X. gegen dieses Urteil gerichtete kantonale Nichtigkeitsbeschwerde hiess das Kassationsgericht des Kantons St. Gallen am 23. Oktober 2001 gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurück. Die Gutheissung wurde damit begründet, das Kantonsgericht habe die Tatsache, dass X. an den fraglichen Daten ebenfalls gegen Polio geimpft worden war, seinem Urteil nicht zu Grunde gelegt.
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Mit neuem Urteil vom 9. August 2002 wies das Kantonsgericht die Klage wiederum ab.
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Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 12. September 2002 beantragt X. dem Bundesgericht im Hauptantrag, das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 9. August 2002 aufzuheben und den Kanton St. Gallen zu verpflichten, ihr Fr. 1'611'854.- zu bezahlen nebst 5% Zins auf Fr. 15'231.- seit dem 1. April 1997.
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Der Kanton St. Gallen beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
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Das Kantonsgericht St. Gallen hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Das Bundesgericht weist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
1 Die Kantone haben für die Möglichkeit der kostenlosen Impfung gegen übertragbare Krankheiten, die für die Bevölkerung eine erhebliche Gefahr bedeuten, zu sorgen. Der Bundesrat bezeichnet diese Krankheiten. Es steht den Kantonen frei, der Bevölkerung im Einvernehmen mit dem Bundesamt für Gesundheitswesen die kostenlose Impfung gegen weitere Krankheiten anzubieten.
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2 Die Kantone bestimmen, ob diese Impfungen freiwillig oder obligatorisch sind.
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3 Die Kantone leisten bei behördlich angeordneten oder empfohlenen Impfungen Entschädigungen für den Schaden aus Impffolgen, soweit er nicht anderweitig gedeckt wird. Die Ersatzpflicht entfällt ganz oder teilweise, wenn der Geimpfte den Schaden durch grobes Selbstverschulden herbeigeführt oder vergrössert hat.
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3.4 Wie sich aus der Botschaft des Bundesrates zum Epidemiengesetz ergibt, stellt Art. 23 Abs. 3 EpG eine allgemeine Haftungsbestimmung dar, müssen doch die Kantone eingetretene Impfschäden (Schaden aus Impffolgen) von Bundesrechts wegen "grundsätzlich" entschädigen; diese Verpflichtung ist zwingend (JOST GROSS, Haftung für medizinische Behandlung, Bern 1987, S. 84). Die Entschädigungspflicht besteht sowohl bei obligatorischen als auch bei freiwilligen von den Behörden empfohlenen Impfungen. Begründet wird dies damit, dass es stossend wäre, einerseits der Bevölkerung Impfungen zu empfehlen und andererseits beim Auftreten eines Impfschadens keine Kosten zu übernehmen (BBl 1970 I 419).
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Der Wortlaut von Art. 23 Abs. 3 EpG ist an sich klar: Nach ihm umfasst die Entschädigungspflicht sämtliche behördlich empfohlenen Impfungen. Eine Einschränkung der Kantonshaftung auf kostenlose Impfungen kann ihm nicht entnommen werden. Die Begründung der Vorinstanz in ihrem ersten Urteil, auf welches sie im angefochtenen Entscheid verweist, die Haftungsvoraussetzung der Kostenlosigkeit ergebe sich aus Abs. 1 und Abs. 2 der Bestimmung, vermag deshalb nicht auf Anhieb zu überzeugen. Der Hinweis der Vorinstanz auf die kantonale Regelung über kostenlose Impfungen ist insoweit von vornherein untauglich, als die bundesrechtlich vorgeschriebene Haftung nicht durch kantonales Recht aufgehoben werden könnte (Art. 49 Abs. 1 BV). Auch die Auffassung, auf Bundesebene könne nur der Bundesrat eine allenfalls entschädigungspflichtige Impfung empfehlen, erscheint zweifelhaft. Denn die Befugnis des Bundesamtes für Gesundheit, entsprechende Impfempfehlungen abzugeben, dürfte sich bereits aus Art. 3 EpG ergeben (MARKUS MÜLLER, Zwangsmassnahmen als Instrument der Krankheitsbekämpfung, Basel 1992, S. 64 f.; Bericht der Kommission für Gesundheit und Umwelt zur parlamentarischen Initiative betreffend Verzicht auf die Impfkampagne gegen Masern, Mumps und Röteln, AB 1990 N 1657 f.; vgl. BGE 118 Ib 473 E. 5c S. 480).
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Die Frage kann aber offen bleiben, wenn mit der Vorinstanz davon auszugehen ist, dass die Haftung des Kantons gemäss Art. 23 Abs. 3 EpG im Sinne einer so genannten Ausfallhaftung nur subsidiär zum Tragen kommt.
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Erwägung 4 |
4.2 Die Entschädigungspflicht des Kantons für den Schaden aus Impffolgen besteht gemäss Art. 23 Abs. 3 EpG, "soweit er nicht anderweitig gedeckt wird". Es handelt sich dabei nicht um eine blosse Billigkeitsdeckung, sondern um eine volle Deckung für Impfschäden, d.h. aller schädlichen Folgen, die mit der Impfung in adäquatem Zusammenhang stehen und nachweisbar den Geimpften getroffen haben (BBl 1970 I 419). Daraus erhellt, dass der Gesetzgeber mit dieser Regelung eine sozial als nicht vertretbar erscheinende Lücke im System der staatlichen Entschädigungspflicht für rechtmässige Schädigungen des von einer Massnahme der gesundheitspolizeilichen Gefahrenabwehr Betroffenen schliessen wollte (vgl. JOST GROSS, a.a.O., S. 82).
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4.5 Obwohl Art. 19 VG nur eine Entschädigung für widerrechtliche Schädigung erfasst, kann auch auf diese Bestimmung, die ebenfalls eine Ausfallhaftung darstellt (JOST GROSS, Schweizerisches Staatshaftungsrecht, S. 22 und 142), verwiesen werden. Sie regelt die Verantwortlichkeit der mit Aufgaben des Bundes betrauten besonderen Organisationen und ihres Personals. Auch der frei praktizierende Arzt, der eine behördlich empfohlene Impfung vornimmt, handelt im öffentlichen Interesse und ist in einer vergleichbaren Situation. Gemäss Art. 19 Abs. 1 lit. a VG haftet der Bund dem durch die Organisation oder ihr Personal Geschädigten ebenfalls nur für den ungedeckten Betrag.
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4.7 Eine solche einschränkende Auslegung entspricht auch dem zwischen Patient und Arzt bestehenden Auftragsverhältnis (Art. 394 ff. OR). Nach diesem hat der Arzt Patienten stets fachgerecht zu behandeln, zum Schutze ihres Lebens oder ihrer Gesundheit die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt aufzuwenden und grundsätzlich für jede Pflichtverletzung einzustehen. Soweit die Möglichkeit negativer Auswirkungen der Behandlung erkennbar ist, muss der Arzt alle Vorkehren treffen, um deren Eintritt zu verhindern (BGE 120 II 248 E. 2c). Die Haftung für medizinische Behandlung setzt eine Sorgfaltspflichtverletzung und ein Verschulden des behandelnden Arztes voraus (JOST GROSS, Haftung für medizinische Behandlung, S. 143 und 159; vgl. BGE 120 II 248 E. 2c). Die hohen Anforderungen, die an die ärztliche Sorgfaltspflicht gestellt werden, rechtfertigen es nun aber, zunächst festzustellen, ob ein allfälliger Impfschaden nicht auf einen (rechtswidrigen) ärztlichen Behandlungsfehler zurückzuführen ist, für welchen im Übrigen in der Regel wiederum eine durch Prämien finanzierte Versicherung (Berufshaftpflichtversicherung des Arztes) aufkommt.
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