BGE 141 II 256
 
19. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Strassenverkehrsamt des Kantons Zug (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
1C_538/2014 vom 9. Juni 2015
 
Regeste
Art. 16cbis Abs. 2 SVG; Bemessung des schweizerischen Führerausweisentzugs nach einer Verkehrsregelverletzung im Ausland.
 
Sachverhalt
A. Am 12. November 2013 überschritt der im Kanton Zug wohnhafte niederländische Staatsangehörige A. mit seinem Personenwagen auf der Autobahn in Deutschland die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h ein erstes Mal um 63 km/h und ein zweites Mal um 64 km/h (jeweils nach Abzug der Sicherheitsmarge). Ausserdem hielt er den erforderlichen Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug bei weitem nicht ein.
B. Am 17. Januar 2014 auferlegte das Regierungspräsidium Karlsruhe A. eine Busse von 1'450 Euro. Überdies ordnete es ein Fahrverbot von 2 Monaten an. Der Entscheid erwuchs in Rechtskraft.
C. Mit Verfügung vom 27. März 2014 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Zug A. den Führerausweis für 2 Monate.
Die von A. hiergegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug am 30. September 2014 ab.
D. A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben. Die Verfügung des Strassenverkehrsamts sei in dem Sinne abzuändern, dass ihm der Führerausweis für lediglich einen Monat entzogen werde. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde, soweit es darauf eintritt, gut.
(Auszug)
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
Diese Bestimmung fügte der Gesetzgeber mit Bundesgesetz vom 20. März 2008, in Kraft seit 1. September 2008, in das Strassenverkehrsgesetz ein; dies im Anschluss an BGE 133 II 331. Darin hatte das Bundesgericht in Änderung der Rechtsprechung befunden, für einen Warnungsentzug in der Schweiz nach einer Verkehrsregelverletzung im Ausland fehle es an der gesetzlichen Grundlage.
Diese beiden Sätze waren bereits im bundesrätlichen Entwurf enthalten. Sie bezwecken die Vermeidung einer Doppelbestrafung (Botschaft vom 28. September 2007 zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes, BBl 2007 7622 zu Art. 16cbis). Begeht eine Person mit schweizerischem Wohnsitz im Ausland ein Strassenverkehrsdelikt, kann der Tatortstaat eine Administrativmassnahme allein mit Wirkung für das eigene Staatsgebiet aussprechen. Den schweizerischen Führerausweis als solchen kann er nicht entziehen (BGE 128 II 133 E. 4a S. 136 mit Hinweisen). Die Wirkung der im Ausland verfügten Administrativmassnahme ist daher beschränkt. Deshalb sieht Art. 16cbis SVG unter den dort genannten Voraussetzungen den Entzug des schweizerischen Führerausweises durch die hiesige Behörde vor. Das darf jedoch nicht zu einer doppelten Sanktionierung führen. Die im Ausland und in der Schweiz ausgesprochenen Massnahmen müssen in ihrer Gesamtheit schuldangemessen sein (BGE 128 II 133 E. 3b/bb S. 136 mit Hinweis). Daher sind gemäss Art. 16cbis Abs. 2 Satz 1 SVG bei der Festlegung der Entzugsdauer die Auswirkungen des ausländischen Fahrverbots auf die betroffene Person angemessen zu berücksichtigen. Mit dem Wort "angemessen" trägt das Gesetz dem Umstand Rechnung, dass das ausländische Fahrverbot den Fehlbaren unterschiedlich stark oder gar nicht treffen kann. So gibt es Fahrzeuglenker, die im Tatortstaat oft unterwegs sind, weshalb sie das dortige Fahrverbot erheblich belastet. Umgekehrt gibt es Personen, die praktisch nie im Tatortstaat ein Fahrzeug lenken, weshalb sie das ihnen dort auferlegte Fahrverbot kaum oder überhaupt nicht trifft. Massgeblich sind somit die Umstände des Einzelfalles (Botschaft, a.a.O.). Gegebenenfalls kann sich das Unterschreiten der Mindestentzugsdauer rechtfertigen, was Art. 16cbis Abs. 2 Satz 2 SVG ausdrücklich zulässt. Diese Bestimmung geht als spätere und spezielle Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG, wonach die Mindestentzugsdauer nicht unterschritten werden darf, vor.
Art. 16cbis Abs. 2 Satz 3 SVG ist nur anwendbar bei Personen, die im Administrativmassnahmenregister nicht verzeichnet sind, also bei Ersttätern. Bei Rückfalltätern darf die schweizerische Behörde die Dauer des am Begehungsort verfügten Fahrverbots überschreiten. Der Grund hierfür liegt darin, dass die ausländische Behörde von früher in der Schweiz gegen den Fehlbaren verfügten Administrativmassnahmen regelmässig keine Kenntnis hat. Dürfte die schweizerische Behörde die Dauer des am Begehungsort verfügten Fahrverbots nicht überschreiten, könnte sie die bei Rückfalltätern gemäss Art. 16b Abs. 2 und Art. 16c Abs. 2 SVG vorgesehenen Massnahmeverschärfungen nicht zur Anwendung bringen, was zu einer unhaltbaren Privilegierung führen würde(AB 2008 S 127 f.[Voten Bieriund Hess], 129 [Votum Leuenberger], 180 [Voten Bieri und Leuenberger]).
Bei einem Ersttäter darf die schweizerische Behörde keine strengere Wertung vornehmen als die ausländische (vgl. AB 2008 N 415 [Voten Germanier und Berberat], 416 [Votum Müller]). Dass sie gegebenenfalls nach hiesigen Massstäben ein längeres Fahrverbot als gerechtfertigt angesehen hätte, spielt keine Rolle. Die Dauer des am Begehungsort ausgesprochenen Fahrverbots begrenzt den Ermessensspielraum der schweizerischen Behörde nach oben. Es verhält sich insoweit wie bei Art. 7 Abs. 3 StGB, wonach das Gericht bei den von jener Bestimmung erfassten Auslandtaten die Sanktionen so bestimmt, dass sie insgesamt für den Täter nicht schwerer wiegen als die Sanktionen nach dem Recht des Begehungsortes. Auch damit hat der Gesetzgeber eine obere Begrenzung des Ermessensbereichs festgelegt (DONATSCH/TAG, Verbrechenslehre, 9. Aufl. 2013, S. 51; POPP/KESHELAVA, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 38 f. vor Art. 3 StGB ).
Wie die Vorinstanz darlegt, ist der Beschwerdeführer in Deutschland regelmässig geschäftlich unterwegs. Das dortige Fahrverbot hat ihn deshalb getroffen. Die Vorinstanz erwägt, dieses hätte damit grundsätzlich eine Verringerung der Dauer des schweizerischen Führerausweisentzugs zur Folge. Sie lehnt eine solche dann aber ab wegen der Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Verkehrsregelverletzungen. Mit seiner rücksichtslosen Fahrweise habe er mehrmals eine grosse abstrakte Gefahr für die übrigen Verkehrsteilnehmer geschaffen. Eine Verringerung des zweimonatigen Ausweisentzugs sei deshalb auch in Anbetracht des Verbots der Doppelbestrafung nicht angezeigt.
2.6 Dem kann nicht gefolgt werden. Die Dauer des deutschen Fahrverbots beträgt 2 Monate. Damit ist der Unrechtsgehalt der vom Beschwerdeführer begangenen Verkehrsregelverletzungen abgegolten. Die ihm aufzuerlegende Sanktion darf somit 2 Monate nicht übersteigen. Massgeblich ist insoweit das gesamte Sanktionenpaket (oben E. 2.3). Da das deutsche Fahrverbot den Beschwerdeführer belastet hat, führte ein schweizerischer Führerausweisentzug von 2 Monaten dazu, dass er gesamthaft eine Sanktion zu tragen hätte, die 2 Monate übersteigt. Dies verletzt das Übermassverbot. Die Dauer des schweizerischen Führerausweisentzugs ist so festzusetzen, dass der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der Belastung, die der Vollzug des deutschen Fahrverbots für ihn dargestellt hat, eine Sanktion zu tragen hat, die 2 Monaten entspricht. Zwar ist einzuräumen, dass die Dauer des vom Regierungspräsidium Karlsruhe ausgesprochenen Fahrverbots nach hiesigen Massstäben als zu tief anzusehen wäre. Dies hat nach Art. 16cbis Abs. 2 Satz 3 SVG jedoch ausser Betracht zu bleiben. Danach kommt es auf den Unrechtsgehalt am Begehungsort an. Wenn die ausländischen Behörden eine Verkehrsregelverletzung anders werten und insbesondere Geschwindigkeitsüberschreitungen milder ahnden, haben die schweizerischen Behörden das hinzunehmen.
Dass die Auffassung der Vorinstanz nicht richtig sein kann, zeigt auch Folgendes: Wäre der Beschwerdeführer praktisch nie in Deutschland unterwegs gewesen, weshalb ihn der Vollzug des dortigen Fahrverbots nicht getroffen hätte, hätte die Vorinstanz auch nur einen Führerausweisentzug von 2 Monaten aussprechen können. Damit würde in unterschiedlichen Fällen die gleiche Sanktion verhängt, was nicht angeht.