BGE 121 III 441
 
85. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 29. November 1995 i.S. Einwohnergemeinde Reinach und Stadt Liestal gegen H.S. (Berufung)
 
Regeste
Art. 328 Abs. 1 ZGB; Begriff der Notlage.
 
Sachverhalt
Die unverheiratete K.S., geboren am 13. Februar 1962, ist Mutter von zwei Töchtern, nämlich der am 11. August 1980 geborenen M. und der am 19. Juni 1991 geborenen S. Die Väter der beiden Töchter zahlen an deren Unterhalt monatlich Fr. 667.- bzw. Fr. 510.-. K.S. geht keiner Erwerbstätigkeit nach und wurde ab März 1991 zunächst von der Einwohnergemeinde Reinach und ab Mai 1991 ununterbrochen von der Stadt Liestal finanziell unterstützt, seit Juli 1991 mit rund Fr. 2'000.- pro Monat.
Mit Klage vom 21. November 1991 erhoben die Einwohnergemeinde Reinach und die Stadt Liestal anstelle von K.S. gegenüber deren Vater H.S. kraft Subrogation Ansprüche aus Verwandtenunterstützung. Mit Urteil vom 13. April 1994 wies das Bezirksgericht Arlesheim die Klage ab. Eine gegen dieses Urteil erhobene Appellation wurde vom Obergericht des Kantons Basel-Landschaft mit Urteil vom 23. Mai 1995 abgewiesen.
 
Aus den Erwägungen:
3. Nach Art. 328 Abs. 1 ZGB sind Verwandte in auf- und absteigender Linie und Geschwister gegenseitig verpflichtet, einander zu unterstützen, sobald sie ohne diesen Beistand in Not geraten würden. In einer Notlage befindet sich der Bedürftige dann, wenn er sich das zum Lebensunterhalt Notwendige nicht mehr aus eigener Kraft verschaffen kann (BGE 106 II 287 E. 3a S. 292; EGGER, Zürcher Kommentar, N 27 zu Art. 328 aZGB; ALBERT BANZER, Die Verwandtenunterstützungspflicht nach Art. 328/329 ZGB, Diss. Zürich 1979, S. 107 ff.). Nicht in der Lage, das Notwendige zum Lebensunterhalt zu beschaffen sind Personen ohne eigenes Vermögen, die entweder nicht arbeitsfähig sind oder die ihre Arbeitskraft mangels Erwerbsmöglichkeit nicht zu verwerten vermögen bzw. denen eine Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten ist (EGGER, N 28 f. zu Art. 328 aZGB; BANZER, a.a.O., S. 107 ff., insbes. S. 110). Demgegenüber befinden sich diejenigen Personen nicht in einer Notlage, die sich mit gutem Willen selbst erhalten könnten, dies jedoch böswillig unterlassen, um auf Kosten der Verwandten zu leben (BGE 106 II 287 E. 3a, S. 292 mit Hinweisen).
b) Weiter machen die Klägerinnen geltend, dass es K.S. angesichts ihrer Betreuungspflichten gegenüber zwei Kindern und ihres Gesundheitszustandes nicht zumutbar sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Sie berufen sich dabei namentlich auf die Rechtsprechung zum Ehescheidungsrecht, die sie analog angewendet wissen wollen.
aa) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtes in bezug auf die Unterhaltsregelung eines geschiedenen Ehegatten, der den Haushalt besorgt und sich der Betreuung der Kinder widmet, kann nicht unbesehen auf die Verwandtenunterstützungspflicht übertragen werden. Diese Rechtsprechung beruht nämlich nicht nur auf der Überlegung des Kindeswohls, sondern auch darauf, dass der unterhaltsberechtigte Ehegatte aufgrund nachehelicher Beistandspflichten seine Lebensgewohnheiten nach der Scheidung nicht ohne Not soll ändern müssen. Im Fall der um die Verwandtenunterstützung nachsuchenden ledigen Mutter kann demgegenüber nicht von einem eigenen Anspruch der Mutter ausgegangen werden, grundsätzlich von einer Erwerbstätigkeit befreit zu sein und sich ausschliesslich dem Haushalt und der Kinderbetreuung widmen zu können. Es kann auch nicht einfach im Belieben der um Unterstützung nachsuchenden Mutter stehen, ob sie selber ihr Kind versorgen möchte. Massgebend ist vielmehr, ob aus Gründen des Kindeswohls eine Versorgung durch die Mutter persönlich erforderlich und insoweit eine Erwerbstätigkeit unzumutbar ist. Dies kann mit Rücksicht auf das Alter des Kindes und mangels geeigneter Versorgungsmöglichkeiten der Fall sein. Dabei ist speziell zu beachten, dass Kleinkinder nach kinderpsychiatrischen Erkenntnissen in den ersten Lebensmonaten empfindlich auf jeden Wechsel der Pflegeperson reagieren, insbesondere wenn damit auch ein Wechsel in der häuslichen Umgebung verbunden ist, was zu schwerwiegenden Folgen in der Gefühlsentwicklung des Kleinkindes führen kann. Je jünger ein Kind ist, desto besser muss gesichert sein, dass eine geeignete und voraussichtlich nicht wechselnde Person ganztags zur persönlichen Betreuung zur Verfügung steht (FRIEDRICH ARNTZEN, Elterliche Sorge und Umgang mit Kindern, 2. Auflage, München 1994, S. 14 ff.; UDO RAUCHFLEISCH, Dissozial, Entwicklung, Struktur und Psychodynamik dissozialer Persönlichkeiten, Göttingen 1981, S. 63 ff. mit weiteren Hinweisen; LOTTE SCHENK-DANZINGER, Entwicklungspsychologie, 20. Auflage, Wien 1988, S. 94, S. 101 ff.; RAINER TÖLLE, Psychiatrie, 10. Auflage, Berlin usw. 1994, S. 47; GOLDSTEIN/FREUD/SOLNIT, Jenseits des Kindeswohls, Frankfurt a.M. 1974, S. 33 f. gehen von einer kritischen Zeitspanne von etwa 18 Monaten aus; FRANÇOISE DOLTO, Lorsque l'enfant paraît, Paris 1977, S. 181 geht sogar von einer Dauer von 24 bis 30 Monaten, längstens drei Jahren aus). Solange Kleinkinder einer persönlichen Betreuung bedürfen und eine qualitativ vergleichbare individuelle Betreuung durch Drittpersonen nicht gewährleistet ist, kann daher einer ledigen Mutter je nach den konkreten Verhältnissen für die erste Zeit nach der Geburt im Interesse des Kindes nicht zugemutet werden, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
bb) In seinem Entscheid hat das Obergericht wohl erwogen, "dass im Falle berufstätiger alleinerziehender Eltern ein erheblicher Teil eines Arbeitserwerbes für die zusätzlichen Kosten der Unterbringung der Kinder und der Wege von und zu den Unterbringungsorten auf der Strecke" bliebe. Indem es aber - unter Verkennung der eminenten Bedeutung der persönlichen Betreuung von Kleinkindern, sei es durch einen Elternteil (vorliegend die Mutter), sei es durch eine andere, qualitativ ebenbürtige Pflegeperson - die Unterbringung von S. bei Dritten ohne nähere Prüfung in Kauf genommen hat, überspannte es bei der Beurteilung, ob eine Notlage im Sinne von Art. 328 Abs. 1 ZGB bestanden habe, die Anforderungen an die Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit von K.S. für die erste Zeit nach der Geburt der Tochter S.. Damit hat es Bundesrecht verletzt.