BGE 131 III 12 |
2. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. Versicherung gegen A. (Berufung) | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
4C.222/2004 vom 14. September 2004 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Regeste | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Art. 42-44 OR; konstitutionelle Prädisposition; Quotenvorrecht; Schadenszins und Verzugszins. | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Zweck des Quotenvorrechts; Bereicherungsverbot und Ermittlungsweise einer allfälligen Überentschädigung (E. 7). | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Genugtuung; Verzinsung ab dem Zeitpunkt des Unfalls (E. 8). | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Gegenseitiges Verhältnis von Schadenszins und Verzugszins (E. 9). | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Sachverhalt | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Am 1. Februar 1995 prallte B. mit seinem Personenwagen in das Heck des von A. (Klägerin) gelenkten, vor einem Fussgängerstreifen in der Stadt Zug still stehenden Fahrzeugs. Die Klägerin verspürte nach ihrer eigenen Darstellung am Folgetag starke Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Schwindelgefühl und Ohrensausen. Sie begab sich, nach Anmeldung am Montag 6. Februar, am 8. Februar 1995 in ärztliche Behandlung. Der Arzt diagnostizierte eine Distorsion der Halswirbelsäule nach Auffahrkollision. Die X. Versicherung (Beklagte) ist die Haftpflichtversicherung von B. und die Insassenversicherung des Halters des von der Klägerin gelenkten Fahrzeugs.
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Am 8. September 2000 gelangte die Klägerin an das Kantonsgericht Zug mit dem Begehren, die Beklagte sei zu verpflichten, ihr Fr. 1'303'747.90 für den erlittenen Schaden zu bezahlen. Das Kantonsgericht verpflichtete die Beklagte mit Urteil vom 1. Juli 2002, der Klägerin Fr. 1'287'673.- nebst Zins zu 5 % seit dem 1. Juli 2002 auf Fr. 1'227'673.- und 5 % Zins seit dem 1. Februar 1995 auf Fr. 60'000.- zu bezahlen. Das Gericht kam zum Schluss, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung der Klägerin auf den Unfall vom 1. Februar 1995 zurückzuführen sei.
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Mit Urteil vom 4. Mai 2004 hob das Obergericht des Kantons Zug in teilweiser Gutheissung der Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil auf. Das Obergericht wies den Antrag der Beklagten auf Einholung eines Obergutachtens ab und ging gestützt auf das MEDAS-Gutachten davon aus, dass der krankhafte Vorzustand der Klägerin den Eintritt des Schadens in nicht unerheblicher Weise begünstigt habe; da ausserdem das Verschulden des Kollisionsverursachers als gering einzustufen sei, reduzierte es den Anspruch der Klägerin um 20 %, was diese an der Berufungsverhandlung anerkannte. Das Obergericht bestätigte sodann die Aufrechnung der Schadenzinsen bis zum Urteilstag.
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Die Beklagte hat das Urteil des Obergerichts mit eidgenössischer Berufung angefochten, die das Bundesgericht teilweise gutheisst.
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Aus den Erwägungen: | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
4. Die konstitutionelle Prädisposition der geschädigten Person kann nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als mitwirkender Zufall zu einer Kürzung des Ersatzanspruchs führen und insofern die Schadensberechnung (Art. 42 OR) oder die Bemessung des Schadenersatzes (Art. 43/44 OR) beeinflussen (BGE 113 II 86 E. 1b). Eine vorbestehende Gesundheitsschädigung, die sich auch ohne das schädigende Ereignis ausgewirkt hätte, ist bei der Schadensberechnung gemäss Art. 42 OR zu berücksichtigen; dem Haftpflichtigen ist nur der tatsächlich auf das Ereignis zurückzuführende Schaden zurechenbar, für das er haftet. Daher sind die vermögensrechtlichen Folgen vorbestehender Schwächen, die sich mit Sicherheit oder doch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ohne das schädigende Ereignis (z.B. in einer verkürzten Lebens- oder Aktivitätsdauer) ausgewirkt hätten, von der Schadensberechnung anteilsmässig auszuscheiden (BGE 113 II 86 E. 3b). Wäre der Schaden dagegen ohne den Unfall voraussichtlich überhaupt nicht eingetreten, so bleibt der Haftpflichtige dafür auch dann voll verantwortlich, wenn der krankhafte Vorzustand den Eintritt des Schadens begünstigt oder dessen Ausmass vergrössert hat. Dem Anteil der Prädisposition kann in diesem Fall im Rahmen von Art. 44 OR Rechnung getragen werden (BGE 113 II 86 E. 3b S. 94). An dieser Praxis hat das Bundesgericht auch in neueren Entscheiden festgehalten (Urteil 4C.215/2001 vom 15. Januar 2002, Pra 91/2002 Nr. 151 S. 816; vgl. dazu DETTWILER, Bestätigung der Rechtsprechung zur konstitutionellen Prädisposition, HAVE 2002 S. 304 Ziff. 4; Urteil 4C.416/1999 vom 22. Februar 2000, Pra 89/2000 Nr. 154 S. 920; vgl. dazu PORCHET, Die konstitutionelle Prädisposition - hat das Urteil 4C.416/1999 des Bundesgerichts vom 22. Februar 2000 etwas geändert?, HAVE 2002 S. 382; vgl. dazu auch STEPHAN WEBER, Zurechnungs- und Berechnungsprobleme bei der konstitutionellen Prädisposition, SJZ 85/1989 S. 73; BREHM, Berner Kommentar, N. 54 ff. zu Art. 44 OR; REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich 2003, N. 422 ff., 584 ff., je mit weiteren Hinweisen). Die Unterscheidung ist praktisch relevant für das so genannte Quotenvorrecht der geschädigten Person, das diese vor den nachteiligen Folgen eines ungedeckten Schadens bewahren will (BGE 113 II 86 E. 3; vgl. auch BGE 120 II 58 E. 3c S. 62).
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4.1 Im vorliegenden Fall ist den Feststellungen der Vorinstanz nicht zu entnehmen, dass sich die vorbestehenden Schädigungen der Klägerin mit an Sicherheit grenzender oder doch mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne den Unfall ganz oder teilweise auf ihre Erwerbsfähigkeit oder ihre Fähigkeit zur Haushaltsführung ausgewirkt hätten. Die Beklagte führt denn auch keinerlei Umstände an, die nach allgemeiner Erfahrung den Schluss zuliessen, dass sich bestimmte der nicht unmittelbar auf die Kollision zurückzuführenden Schäden mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin früher oder später ausgewirkt hätten. Die Vorinstanz hat daher zu Recht keinen Anteil des aktuellen Schadens wegen des vorbestehenden Gesundheitszustandes der Klägerin bei der Berechnung ausgeschieden. Die konstitutionelle Prädisposition der Klägerin hat vielmehr nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz den Eintritt des Schadens begünstigt und dessen Ausmass vergrössert. Die vorbestehende gesundheitliche Schädigung der Klägerin ist somit im Rahmen der Ersatzbemessung nach Art. 44 OR zu berücksichtigen; da der gesamte Schaden durch die Auffahrkollision (mit-)verursacht ist, ist bei der Anrechnung der Leistung anderer Haftpflichtiger oder von Sozialversicherungen das Quotenvorrecht der Klägerin zu berücksichtigen.
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(...)
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7. Der Klägerin wurde mit Verfügung vom 13. April 2000, auf welche die Vorinstanz über den Verweis auf das erstinstanzliche Urteil Bezug nimmt, mit Wirkung ab 1. Mai 1997 eine ganze IV-Rente ausgerichtet. Darauf, dass der Klägerin danach bei rechtzeitiger Anmeldung ein Anspruch bereits ab 1. Februar 1996 zugestanden hätte, hat sich die Beklagte nicht berufen; deshalb hat dieser Umstand ausser Betracht zu bleiben. Es ist zu prüfen, wieweit die Leistungen der eidgenössischen Invalidenversicherung an die von der Beklagten zu bezahlenden Leistungen anzurechnen sind. Das Quotenvorrecht ist zugunsten der Klägerin zu berücksichtigen (E. 4.1).
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7.2 Eine ereignisbezogene Kongruenz ist im vorliegenden Fall ohne weiteres zu bejahen. Deshalb kann offen bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen sie für die finale Invalidenversicherung gegenüber dem Haftpflichtanspruch überhaupt verlangt werden kann (vgl. BECK, a.a.O., S. 242 f.). Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass die Kollision, für deren Folgen der Verursacher bei der Beklagten versichert ist, die praktisch vollständige Erwerbsunfähigkeit der Klägerin ebenso wie die festgestellte 50%ige Beeinträchtigung für die Betätigung im Haushalt bewirkt hat. Dieses Ereignis löste aber auch die in der IV-Verfügung vom 13. April 2000 festgestellte langdauernde Krankheit aus. Die Verfügung hält fest, es bestehe seit 2. Februar 1995 eine 70%ige Arbeits- respektive Erwerbsunfähigkeit im angestammten Beruf als Büroangestellte sowie bei jeder andern ausserhäuslichen Tätigkeit. Anzufügen ist zur personellen Kongruenz, dass die Zusatzrenten der IV für Kinderunterhalt der Klägerin zuzurechnen sind, da sie wegen ihrer eigenen Invalidität von ihrer familienrechtlichen Unterhaltspflicht entlastet wird, die sie sonst aus ihrem Erwerbseinkommen und durch persönliche Fürsorge gewähren müsste (Art. 35 Abs. 4 IVG, Art. 276 Abs. 1 und 2 ZGB).
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7.3 Die sachliche Kongruenz der Rente der eidgenössischen Invalidenversicherung mit den hier strittigen Haftpflichtansprüchen ist sowohl für den Erwerbs- als auch für den Haushaltsschaden zu bejahen. Renten der eidgenössischen Invalidenversicherung werden im Falle der Invalidität (Art. 4 IVG, Art. 8 ATSG) nach Art. 28 IVG sowohl erwerbstätigen wie nicht erwerbstätigen Versicherten ausgerichtet. Dabei bemisst sich der Rentenanspruch für Erwerbstätige durch einen Einkommensvergleich, für nicht Erwerbstätige durch einen Tätigkeitsvergleich im Aufgabenbereich (des Haushalts); bei Teilerwerbstätigkeit wird der Rentenanspruch nach der gemischten Methode berechnet (BGE 125 V 146 E. 2a; bestätigt im zur Veröffentlichung bestimmten Urteil I 634/03 vom 15. Juni 2004 E. 3.3). Diese gemischte Methode beruht auf einer rentenauslösenden Tätigkeit von stets 100 %, so dass auch bei Teilzeiterwerb und teilweiser Betätigung im Haushalt eine Kumulation nicht möglich ist, sondern die zu beachtenden Validentätigkeiten stets nur alternativ in Betracht kommen. Die Invalidenrente ersetzt im Ergebnis unausgeschieden sowohl den Erwerbsausfall wie die beeinträchtigte Tätigkeit im Haushalt durch einen bestimmten Geldbetrag. Es kann nicht massgebend sein, ob die zuständigen IV-Behörden für die Rentenberechnung von einer (zumutbaren und vollen) Erwerbstätigkeit ausgehen, während die kantonalen Gerichte bei der Beurteilung der Haftpflichtansprüche annehmen, die Geschädigte wäre ohne das schädigende Ereignis aus invalidenversicherungsrechtlich unbeachtlichen Gründen nicht (voll) erwerbstätig gewesen. Für die sachliche Kongruenz entscheidend ist vielmehr, dass die Renten der Invalidenversicherung ihrer Natur nach die Invaliditätsfolgen sowohl des Erwerbsausfalls als auch der Beeinträchtigung der Haushaltstätigkeit entschädigen. Die Haftpflichtige hat für dieselben Folgen aufzukommen. Da eine betragsmässige Ausscheidung im Rahmen der Invalidenversicherung nicht erfolgt und eine Koordination in Bezug auf die Art und den Umfang der mutmasslichen Tätigkeit nicht gewährleistet ist, ist die sachliche Gleichartigkeit der Erwerbstätigkeit und der Betätigung im Haushalt zu bejahen.
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7.5 Für den (bisherigen, vorübergehenden) Schaden der Klägerin aus Erwerbsausfall und Beeinträchtigung in der Haushaltsführung ist vom vollen Schaden auszugehen, es sind die IV-Leistungen anzurechnen und der Restschaden ist von der Beklagten zu decken, soweit er 80 % des Gesamtschadens nicht übersteigt. Es ergibt sich daher folgende Berechnung: (...)
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Die IV-Rente hat stets mehr als 20 % des Schadens betragen. Daher kann ab 1. Mai 1997 auch der Gesamtbetrag der nach den Feststellungen der Vorinstanzen ausbezahlten IV-Renten von Fr. 185'176.- (Fr. 135'940.- plus Fr. 49'236.-) vom Gesamtbetrag des Schadens (vorübergehender Gesamterwerbsschaden von Fr. 154'672.- plus Gesamthaushaltsschaden von Fr. 256'122.- seit 1. Mai 1997) bis zum vorinstanzlichen Urteil abgezogen werden. Dies ergibt insgesamt seit 1. Mai 1997 Fr. 225'618.- (Fr. 410'794.- abzüglich der Rente von Fr. 185'176.-). Da die Klägerin vom Unfallzeitpunkt im Februar 1995 bis 1. Mai 1997 keine kongruenten Leistungen erhalten hat, ist der Schaden bis zu diesem Zeitpunkt von der Beklagten zudem zu 80 % zu ersetzen. Dieser Schaden beträgt Fr. 103'153.-, womit Fr. 82'523.- (80 %) hinzu zu rechnen sind. Der gesamte Haushalts- und Erwerbsschaden bis zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils beträgt Fr. 308'141.-.
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Bis zum Auszug der Tochter im Juni 2012 hat sie einen jährlichen Haushaltsschaden von Fr. 26'406.-, ab Auszug der Tochter einen solchen von Fr. 13'446.- errechnet.
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Den künftigen Erwerbsschaden bis zum Pensionsalter der Klägerin (64 Jahre) hat die Vorinstanz auf Fr. 53'567.- brutto festgelegt (oben E. 6.4), was ein jährliches Netto-Einkommen von Fr. 50'085.- ergibt.
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Nach den Feststellungen der Vorinstanz wird die Klägerin künftig mit IV-Leistungen von jährlich Fr. 19'188.- rechnen können. Die jährliche Zusatzrente für die Tochter von Fr. 7'668.- hat die Vorinstanz bis zum 18. Altersjahr der Tochter (Juni 2010) berücksichtigt. Da sie jedoch den Auszug der Tochter mit der Begründung eines notorisch geringen Lehrlingslohns erst mit 20 Jahren festgelegt hat, ist für die in Ausbildung befindliche Tochter auch die Zusatzrente bis zu deren Auszug im Juni 2012 zu berücksichtigen (Art. 35 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 25 Abs. 5 AHVG; vgl. zu Art. 25 Abs. 2 aAHVG: BGE 108 V 54 E. 1).
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