BGE 134 III 108
 
19. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. AG gegen A. (Beschwerde in Zivilsachen)
 
4A_385/2007 vom 28. November 2007
 
Regeste
Missbräuchliche Kündigung während der Probezeit (Art. 335b und 336 OR).
 
Sachverhalt
A. A. (Beschwerdegegner) trat am 1. Mai 2006 bei der X. AG (Beschwerdeführerin) eine Stelle als Facharzt für Anästhesie mit einem Pensum von 80 % an. Am 15. Mai 2006 fand zwischen dem Beschwerdegegner und dem Verwaltungsratspräsidenten der Beschwerdeführerin eine Besprechung statt. Per E-Mail vom 16. Mai 2006 teilte der Beschwerdegegner der Beschwerdeführerin mit, er wolle nicht, dass sein Name für Inserate im Zusammenhang mit der geplanten Schmerzklinik verwendet werde und halte das Inserat zum jetzigen Zeitpunkt für verfrüht und kontraproduktiv. Die Chance für einen späteren geordneten Aufbau der Schmerzklinik werde vertan.
B. Mit Schreiben vom 22. Mai 2006, noch innerhalb der Probezeit, löste die Beschwerdeführerin den Vertrag mit dem Beschwerdegegner auf den 31. Mai 2006 auf. Der Verwaltungsratspräsident führte zur Begründung aus, er habe sich vorgestellt, dass der Beschwerdegegner neben seiner 80 % Tätigkeit als Anästhesiearzt die Schmerztherapie in einer 20 % Tätigkeit in der Klinik und für die Belegärzte übernehmen werde. Leider habe er nach einer Sitzung feststellen müssen, dass der Beschwerdegegner mit der Vorgehensweise und dem Zeitpunkt des Beginns der Schmerztherapie nicht einverstanden sei. Da man nicht die Zeit habe, noch einige Monate zu warten, und im Juni 2006 mit der Schmerztherapie starten möchte, kam der Verwaltungsratspräsident zum Schluss, die Stelle entspreche nicht der Vorstellung der Parteien, so dass man sich für eine andere Lösung entschieden habe.
C. Am 14. Juli 2006 reichte der Beschwerdegegner beim Arbeitsgericht Rorschach Klage ein und verlangte von der Beschwerdeführerin als Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung Fr. 26'800.-, entsprechend zwei Monatslöhnen, nebst Zins. Während das Arbeitsgericht die Klage abwies, sprach das Kantonsgericht St. Gallen dem Beschwerdegegner am 21. August 2007 in teilweiser Gutheissung der kantonalen Berufung Fr. 20'000.- nebst Zins zu. Die Beschwerdeführerin erhebt gegen diesen Entscheid Beschwerde in Zivilsachen und beantragt dem Bundesgericht im Wesentlichen, die Klage abzuweisen. Der Beschwerdegegner schliesst auf kostenfällige Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
 
Aus den Erwägungen:
7. Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, selbst wenn der Kündigung ein gewisses Willkürelement anhaften würde, vermöchte dies keine Rechtsmissbräuchlichkeit nach Art. 336 OR zu begründen, da diese Bestimmung während der Probezeit nur zurückhaltend anzuwenden sei.
7.1 Ob der sachliche Kündigungsschutz auch während der Probezeit greift, wird in der Lehre uneinheitlich beurteilt (für eine Anwendung: STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 8 zu Art. 335b OR; VISCHER, Der Arbeitsvertrag, 3. Aufl., in: Schweizerisches Privatrecht Bd. VII/4, S. 234; STREIFF/VON KAENEL, Der Arbeitsvertrag, 6. Aufl., N. 9 zu Art. 335b OR, je mit Hinweisen; dagegen: TROXLER, Der sachliche Kündigungsschutz nach Schweizer Arbeitsvertragsrecht, Diss. Basel 1992, S. 36 ff.; BRAND/DÜRR/GUTKNECHT/PLATZER/SCHNYDER/STAMPFLI/WANNER, Der Einzelarbeitsvertrag im Obligationenrecht, N. 1 und 5 zu Art. 335b OR). Das Bundesgericht hat die Frage nicht abschliessend beurteilt (Urteile des Bundesgerichts 4A_281/2007 vom 18. Oktober 2007, E. 5.2 am Ende; 4C.272/1993 vom 6. Januar 1994, E. 2 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts C.265/1984 vom 2. Oktober 1984, E. 5, publ. in: SJ 1986 S. 295 f.). Es hat allerdings festgehalten, für den Fall, dass der Kündigungsschutz zur Anwendung kommen sollte, sei nur mit Zurückhaltung auf die Missbräuchlichkeit der Kündigung zu schliessen (zit. Urteil 4A_281/2007, E. 5.2 am Ende; ebenso WYLER, Droit du travail, S. 332). Der Schutz vor missbräuchlichem Verhalten ergibt sich indessen bereits aus dem allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbot (STAEHELIN, a.a.O., N. 8 zu Art. 335b OR), das durch Art. 336 OR konkretisiert wird, wobei die Aufzählung in Art. 336 OR nicht abschliessend ist (BGE 132 III 115 E. 2.1 S. 116 f. mit Hinweisen). Selbst TROXLER, der die Anwendung des sachlichen Kündigungsschutzes grundsätzlich ablehnt, anerkennt Ausnahmen, namentlich wenn eine Kündigung während der Probezeit ausgesprochen wird, um Ansprüche des Arbeitnehmers zu vereiteln oder wenn sie als Reaktion auf in guten Treuen erhobene Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis erfolgt (TROXLER, a.a.O., S. 45). Soweit die Lehre die Missbrauchsbestimmungen nicht oder nur einschränkend zur Anwendung kommen lassen will, rechtfertigt sie dies mit Hinweis auf den Sinn und Zweck der Probezeit (BRAND/DÜRR/GUTKNECHT/PLATZER/SCHNYDER/STAMPFLI/WANNER, a.a.O., N. 1 zu Art. 335b OR; TROXLER, a.a.O., S. 36 ff.; STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 9 zu Art. 335b OR; WYLER, a.a.O., S. 332). Damit ist grundsätzlich davon auszugehen, dass auch eine Kündigung während der Probezeit missbräuchlich sein kann. Zu prüfen bleibt aber im Einzelfall, ob die Kündigung, welche einen Tatbestand nach Art. 336 OR erfüllt oder sonst in einem gewöhnlichen Arbeitsverhältnis als missbräuchlich angesehen würde, mit Blick auf den durch die Probezeit verfolgten Zweck zulässig erscheint.
7.1.1 Die Probezeit soll den Parteien die Möglichkeit bieten, einander kennenzulernen, was zur Schaffung eines Vertrauensverhältnisses notwendig ist (VISCHER, a.a.O., S. 234). Sie erlaubt den Parteien abzuschätzen, ob sie die gegenseitigen Erwartungen erfüllen (vgl. BGE 120 Ib 134 E. 2a), und sie werden in die Lage versetzt, über die in Aussicht genommene langfristige Bindung in Kenntnis der konkreten Umstände zu urteilen (BGE 129 III 124 E. 3.1 S. 125 f. mit Hinweisen; vgl. auch Urteile des Bundesgerichts RK.2/2005 vom 5. Oktober 2005, E. 4.3; 4C.272/1993 vom 6. Januar 1994, E. 2). Das Recht, während der Probezeit mit verkürzter Frist zu kündigen, ist ein Ausfluss der Vertragsfreiheit (vgl. TROXLER, a.a.O., S. 38). Bei Abschluss des Vertrages liegt es grundsätzlich im Belieben des Arbeitgebers, welchen von mehreren Kandidaten er einstellen will. Ebenso entscheidet der Arbeitnehmer frei, für welche Arbeitsstelle er sich bewirbt. Nach Art. 335b OR wirkt diese Abschlussfreiheit in die Probezeit nach, indem die Parteien grundsätzlich den Entscheid über eine langfristige Bindung aufgrund der in der Probezeit gewonnenen Erkenntnisse frei treffen können. Soweit sich die Kündigung an diesem Zweck der Probezeit orientiert, ist allein darin, dass ihr etwas "Willkürliches" anhaftet, in der Tat kein Rechtsmissbrauch zu erblicken. Die zulässige "Willkür" entspricht der Freiheit der Parteien, darüber zu entscheiden, ob sie sich langfristig binden wollen (zit. Urteil des Bundesgerichts C.265/1984, E. 5; vgl. WYLER, a.a.O., S. 332; STREIFF/ VON KAENEL, a.a.O., N. 9 zu Art. 335b OR).
7.1.2 Der zu beurteilende Fall liegt indessen anders. Die Beschwerdeführerin wusste bei Vertragsabschluss, dass der Beschwerdegegner zu 20 % für einen anderen Arbeitgeber tätig war. Es musste ihr klar sein, dass dem Beschwerdegegner eine sofortige Aufgabe dieser Tätigkeit kaum möglich oder zumutbar sein würde. Indem die Beschwerdeführerin in den Vertragsverhandlungen lediglich eine Pensumsaufstockung in unbestimmter Zukunft thematisierte, gab sie dem Beschwerdegegner nach Treu und Glauben zu verstehen, dass seine anderweitige Tätigkeit, die einem sofortigen Ausbau seiner Arbeit für die Beschwerdeführerin entgegenstand, keinen Hinderungsgrund für dessen Anstellung bildete. Wenn sie dennoch umgehend wegen der mangelnden sofortigen Verfügbarkeit des Beschwerdegegners kündigte, liegt darin nicht eine vom Zweck der Probezeit erfasste, "zulässige Willkür", sondern ein Verhalten, das im Widerspruch zu erwecktem Vertrauen steht und keinen Rechtsschutz verdient (vgl. TROXLER, a.a.O., S. 38), zumal es nicht in Erkenntnissen gründet, die erst aufgrund der Arbeit während der Probezeit gewonnen wurden. Die Kündigung erfolgte zudem als Reaktion darauf, dass der Beschwerdegegner seinen Anspruch auf die vorläufige Einhaltung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit von 80 % geltend gemacht hatte (vgl. TROXLER, a.a.O., S. 45). Damit hat die Vorinstanz die Kündigung zu Recht als missbräuchlich qualifiziert.